Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2002. Die Zeitungen würdigen heute ausführlich Siegfried Unseld, der am Freitag gestorben ist. In der SZ erinnert Jürgen Habermas an den Freund, in der FAZ rühmt Marcel Reich-Ranicki den genialen Verleger. Auch Suhrkamp-Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger, Imre Kertesz oder Jorge Semprun schreiben Abschiedsworte. Nachrufe in allen Zeitungen gibt es auch auf die "herausragend Undeutsche" (FAZ) Marianne Hoppe.

SZ, 28.10.2002

Siegfried Unseld ist tot. In der SZ erinnert Jürgen Habermas an den Freund und vor allem an die "Solidarität, Geduld und Disziplin", die Unseld im Umgang "mit der verfolgenden Unschuld" seiner "narzisstisch-streitsüchtigen Schriftsteller" geübt habe. Joachim Kaiser schreibt in seinem Nachruf: "Es steckte etwas Dämonisches, etwas Kraftvoll-Wildes und gewiss auch manchmal Verletzendes in Siegfried Unseld, dem wirkungsmächtigsten Verleger deutschsprachiger Literatur seit 1945. Feinsinnige Literaten lächelten gern über Unselds Machtinstinkt und ahnten kaum, wie rasch sie mit all ihrer Differenziertheit als Verleger in rauher Buch-Produktions-Realität Pleite gegangen wären."

Lothar Müller würde gern die "prosaische Geschichte der Trennung Siegfried Unselds von seinem leiblichen Sohn Joachim Unseld und von seinen zeitweiligen 'Kronprinzen' Thedel von Wallmoden und Christoph Buchwald" erzählt bekommen. Bisher habe die mythische Variante vorgeherrscht: "Im mythischen Schema des starken Vaters, der Söhne nur so lange erträgt, wie sie selbst nicht stark werden, der im eigenen Sohn vor allem den jungen Rivalen sieht, der auf den Tod des Vaters hofft, um durch das Erbe über ihn hinauszuwachsen." Abschiedsworte finden auch Georg Klein, Michael Krüger, Ulrich Beck, Dieter Henrich.

Weitere Artikel: Sonja Zekri glaubt, dass nach der Geiselnahme in Russland Tschetschenen um ihr Leben fürchten müssen. Wolfgang Schieder erinnert daran, wie Mussolini vor achtzig Jahren den Marsch auf Rom inszenierte. Der amerikanische Schriftsteller Stewart O' Nan sinniert über den Sniper von Washington und - na klar - die Rolle der Medien. ("If it bleeds, it leads", zitiert er eine angebliche Journalistenregel, "was blutet, zieht."). Arno Orzessek war bei einem Vortrag des "Grenz-Denkers" Alfred Grosser in Berlin. Rainer Gansera findet im deutschen Kino neuen Glanz - vor allem in Form der jungen Schauspielerin Laura Tonke, die er auf den Hofer Filmtagen entdeckt hat. Fritz Göttler liefert den Nachruf auf den "königlich-ungestümen Filmrebellen" Richard Harris. Volker Breidecker berichtet von der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Wolfgang Hilbig, Peter Burghardt war bei der Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises (u. a. an Woody Allen).

Besprochen werden Shakespeares Tragödie "Titus Andronicus" am Münchner Residenztheater, Heiner Müllers Stück "Verkommenes Ufer" an den Münchner Kammerspielen, das neue Album "Knietief im Dispo" der Fehlfarben und Bücher, darunter Michael Barnetts Studie zum Völkermord in Ruanda und der Rolle der UNO, Klaus Bästleins Buch über den "Fall Mielke" oder Ulrich Bräuels Reisebericht aus Danzig "Die schwarze Mappe" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.10.2002

Die in Zürich lebende freie Publizistin Marina Rumjanzewa liefert einen äußerst anschaulichen Bericht von der Diskussion über eine Bildungsreform in Russland. Die Reformer, applaudiert von Wirtschaftskreisen, fordern eine 'Eine Schule wie im Westen'. Sie finden, dass an russischen Schulen zu viel unwichtiger Stoff gelernt wird. Dazu zählen sie vor allem die Fächer Sprache und Literatur! "Nichts unterscheidet sich von westlichen Lehrmitteln so stark wie ein russisches Lesebuch für die erste Klasse. Auf mehreren hundert Seiten, praktisch ohne Bilder, stehen hier Gedichte und literarische Texte, die zur Hälfte aus dem 19. Jahrhundert sowie vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammen: ein 200-zeiliges Versmärchen von Puschkin, ein Kinder-Poem von Majakowski, Gedichte von Jessenin und Blok, Erzählungen von Tolstoi und Turgenjew. Täglich lesen die Kinder zu Hause ihr Pensum davon; wöchentlich lernen sie ein neues Gedicht auswendig. Darauf wird in der Klasse diskutiert und analysiert, und zwar nicht nur, was die Inhalte betrifft, sondern - von Anfang an sehr ausführlich - auch die formale Ebene. So hat bis zum Schulabschluss jeder Siebzehnjährige nicht nur mehr oder weniger die ganze russische Klassik intus, er besitzt auch eine Ahnung von der Weltliteratur."

Joachim Güntner schreibt in seinem Nachruf auf Siegfried Unseld: "Nicht einzelne Bücher wollte Unseld machen; es ging ihm, wie schon Peter Suhrkamp, um den 'Autor in seiner Gesamtphysiognomie'. Dass die vom flexiblen Kapitalismus begünstigte Scheckbuchverlegerei heute solche Gesamtpräsentationen erschwert, sah Unseld zwar ein. Dennoch behauptete er weiter die Richtigkeit seiner Art, mit langem Atem Autoren aufzubauen, da dies nicht allein kulturell wertvoll, sondern letztlich auch profitabel sei."

Weitere Artikel: Günther Rühle schreibt den Nachruf auf Marianne Hoppe, Andreas Maurer den Nachruf auf den Schauspieler Richard Harris. Alexandra Stäheli berichtet vom 22. Internationalen Festival für Film, Video und neue Medien (Viper) in Basel. Besprochen werden Elfriede Jelineks und Christoph Marthalers "In den Alpen" im Schauspielhaus Zürich und ein Konzert des Duos Brusco-Scolastra in Zürich.

FR, 28.10.2002

Das Feuilleton steht ganz im Zeichen des Todes von Siegfried Unseld, der für Peter Michalzik nicht nur Verleger des Suhrkamp-Verlages war, sondern das "geistige Kraftzentrum der Bundesrepublik", wie er schreibt. "Es gibt sehr wenige Menschen, in denen sich der Geist der Zeiten sammelt, Unseld ist zweifellos einer von ihnen gewesen. Das geschah nicht Kraft eines überragenden Geistes, sondern dank der Hingabe aller Fasern seiner vorwärtsstürmenden, auch klug haushaltenden Persönlichkeit. Unseld hatte ein nicht nur Schranken und Mauern, sondern auch subtilere Formen der Abgrenzung ignorierendes Naturell. Das führte zu den Charakterisierungen als zur Literatur verführter Rugby-Spieler oder pompöser Mann. Üblicherweise spricht man in solchen Fällen von Vitalität. Aber von Größe? Unseld war seinen Autoren treu bis zur Selbstaufgabe. Nach schweren Demütigungen durch die Mitglieder seines großen Divenstalls rang er nicht nur immer wieder um Fassung, sondern sofort um eine sachliche gemeinsame Arbeitsgrundlage Dazu braucht es ein großes Herz."

Außerdem erinnern sich einige Suhrkamp-Autoren an ihren Verleger: Hans-Ulrich Treichel, Cees Nooteboom, Thomas Meinecke. Und Adolf Muschg, der schreibt: "Passion fragt nicht, ob sie vielleicht zu viel tut, sie tut es, und hinterher war es das Richtige."

Weitere Artikel: Ina Hartwig schließlich freut sich mit Wolfgang Hilbig über den Georg-Büchner-Preis (hier die nicht ganz aktuelle Homepage), auch wenn die Preisverleihung durch Unselds Tod und den "galligen Laudator" Georg Klein getrübt gewesen sei. Besprochen werden Bücher, darunter etwa zwei Bände zur Spiegel-Affäre, Marek Edelmans Erinnerungen an den Aufstand im Warschauer Ghetto, Hellmut Haasis' Rekonstruktion des Attentats auf den SS-Führer Heydrich sowie Antje Schrupps Biografie des "lautstarken, schamlosen und zum Glück entschlossenen Geschöpfs" Victoria Woodhull. (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 28.10.2002

Auf den Tagesthemen-Seiten erinnert sich Jürgen Busche an den "empfindsamen Kraftmenschen" und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld: "Er konnte so unsagbar verwundet gucken, dass man sich eines bösen Wortes schon schämte, wenn man es einstweilen nur in Erwägung gezogen hatte, es im Gespräch mit ihm zu gebrauchen. Und wenn er zu sprechen begann, mit einem zunächst leisen, gebändigt klingenden Singsang, der sich unmerklich zur beschwörenden, schließlich das jeweilige Projekt rühmenden Suada erhob, dann war er schon wie ein Ozeandampfer vorbeigerauscht, und der kritische Geist, der sich für eine Begegnung gewappnet hatte, nahm sein Faltboot zusammen und suchte barfüßig durch die aufgeschäumten Wellen den Weg ans vertraute Ufer, um von dort weiterhin den Stern anzubeten, der über den Bücherfluten stand: Suhrkamp-Kultur."

Im Feuilleton schreibt heute Gabriele Goettle und erlaubt sich den Kalauer, "einen kurzen Blick auf einen Blindenlehrer" zu werfen - den Berliner Gerhard Bacigalupo. Kleine Kostprobe aus ihrem 908 Zeilen langen Text, der mit einigen kurzen Ausführungen über Bildung und Ausbildung von Blinden anhebt: "Bis ins 18. Jahrhundert herrschte in Europa die Auffassung vor, dass Blinde nicht bildungsfähig seien ... Blindheit war lediglich als Metapher erkenntnistheoretischen Philosophierens von Interesse. Berühmtestes Beispiel ist das sogenannte Molyneux-Problem. William Molyneux (1685-1735), irischer Naturwissenschaftler, Jurist, Gatte einer blinden Frau, stellte in einem Brief an John Locke die Frage, ob ein Blinder, der mit seinem Tastsinn gelernt hat, eine Kugel von einem Würfel zu unterscheiden, wohl in der Lage wäre, würde er sehend, rein mit dem Gesichtssinn, ohne Zuhilfenahme des Tastsinnes, Würfel- und Kugelform zu identifizieren. Locke hat das im Sinne seines Empirismus natürlich verneint. Die Frage löste eine nicht enden wollende philosophische Debatte aus, an der sich u. a. Berkeley, Voltaire, Diderot, Leibniz und Kant beteiligten (und sie ist bis heute wirksam)."

Weitere Artikel: Michael Bartsch berichtet, dass die Semper-Oper flutbedingt jetzt in der gläserne VW-Manufaktur in Dresden spielt (und dem Werk damit endlich die erhoffte Aufwertung beschert). Reinhard Krause schreibt den Nachruf auf Marianne Hoppe, "die deutsche Antwort auf Katharine Hepburn".

Schließlich Tom.

FAZ, 28.10.2002

Die FAZ widmet dem am Freitag verstorbenen Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld vier Seiten. Marcel Reich-Ranicki würdigt die Verdienste des "genialen Verlegers" und erklärt: "Man hat ihn gern einen Gründertyp genannt. Ja, das ist schon richtig, nur wäre ein Mann mit der Kraft und dem Können, mit der Dynamik, der Dreistigkeit und der Durchsetzungsfähigkeit eines Unseld immer und überall, dessen bin ich sicher, im tieferen und allgemeineren Sinne ein Gründertyp gewesen."

Frank Schirrmacher ist sicher, dass der Verlag auch nach dem Tod Unselds nicht an Bedeutung verlieren wird: "Unseld hat vorgesorgt. Seine Frau, die Schriftstellerin Ulla Berkewicz, die schon in den letzten Jahren viele seiner Entscheidungen mitgestaltete und ihm eine Reihe der wichtigen neuen Autoren zuführte, wird den Geist des Hauses Suhrkamp garantieren."

Auf der zweiten Seite fnden wir Abschiedsworte von Suhrkamp-Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger, Jorge Semprun oder Imre Kertesz. Weiter gibt es eine sehr schöne Seite mit Fotos von Unseld und Max Frisch, die 1990 in einem Boot durch Venedig fahren. Und auf der letzten Seite ist ein Brief Paul Celans an Siegfried Unseld anlässlich des Todes von Peter Suhrkamp 1959 abgedruckt.

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier rühmt in seinem Nachruf Marianne Hoppe als "herausragend Undeutsche. Begabt mit Clarte, Berliner Schnauze, aber perfekter, französisch anmutender Wortkunstpanzerung: eine den märkischen Sand aufwirbelnde, in Rostock geborene und im Berliner Deutschen Theater zur Schauspielschule gegangene Comedienne prussienne." Felicitas von Lovenberg berichtet von der Verleihung des Büchner-Preises an Wolfgang Hilbig und eine Tagung der Darmstädter Akademie, auf der über Pisa diskutiert wurde und über die Frage, warum so vielen bedeutenden Schriftstellern der Erfolg beim Publikum versagt bleibt. Jordan Mejias schildert das Leben in den USA nach dem Heckenschützen. Hans-Christoph Kraus gratuliert dem Historiker Rudolf Vierhaus zum Achtzigsten. Michael Althen schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Richard Harris. Ilona Lehnhart gratuliert zum fünfzehnten Geburtstag des Deutschen Historischen Museums Berlin. Und Andreas Rosenfelder berichtet kurz, wie die Universität Essen um ihr Profil kämpft.

Auf der Medienseite erklärt Stefan Niggemeier, warum es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn die WAZ bei der SZ einsteigen würde: "In die jetzige Konstruktion von fünf Gesellschafterfamilien, die sich oft gegenseitig blockieren, als sechster Partner einzusteigen und schnelle Entscheidungen weiter zu verkomplizieren, würde für die WAZ keinen Sinn ergeben - eine andere Organisationsstruktur müsste her." Und: "Angesichts der - gelinde gesagt - ungeliebten Altgesellschafter sähen keineswegs alle leitenden SZ-Redakteure in einem Einstieg der WAZ und dem damit verbundenen Verlust der Eigenständigkeit eine Katastrophe." Markus Wehner stellt das Radio Echo Moskwy vor, das sich in der Berichterstattung über die Geiselnahme in Moskau auszeichnete. Roger de Weck erklärt, was die Terroristen an den Medien haben.

Besprochen werden eine Ausstellung des Werks von Pascal Dagnan-Bouveret in der National Academy of Design in New York, zweimal "Titus Andronicus" in München und die Uraufführung von Giovanni Sollimas Oper "Ellis Island".