Vom Nachttisch geräumt

Dicke Hummel im Punsch

17.10.2016. Jagt uns in eine entfesselte Fantasie: Hjalmar Bergmans Roman "Skandal in Wadköping".
Ich habe noch nie etwas von Hjalmar Bergman gehört. Ich habe auch gerade erst angefangen, seinen Roman "Skandal in Wadköping" zu lesen. Aber ich möchte doch auf das Buch und den Autor schon einmal hinweisen. Der schwedische Autor Hjalmar Bergman lebte von 1883 bis 1931. Der Roman erschien erstmals 1919. Der Autor, entnehme ich dem englischen Wikipedia, schuf mit der Kleinstadt Wadköping eine Welt, in der viele seiner Erzählungen spielen. Bergman versuchte sich auch an Drehbüchern für Hollywood. Nur mit mäßigem Erfolg. Er starb alkohol- und drogenabhängig in Berlin.

"Skandal in Wadköpping" beginnt am frühen Morgen des 6. Juni 1913 vor einem Landgasthof. Der Autor macht sofort klar, dass er ein Virtuose ist. Wie bei einem Zauberer sind wir begeistert von dem, was er vorführt, mehr noch aber von dem, wie er es tut. Wir genießen Erzählung und Erzähler. Der Stolz des Autors auf sein Können ist in jeder Zeile spürbar, aber auch sein Lächeln darüber. Eine alles umfassende Ironie. Nehmen Sie den ersten Satz: "Die Sonne ging auf, sie kündigte einen bedeutungsvollen Tag in den Annalen der Stadt Wadköping an, den 6. Juni 1913." Ein bisschen viel Trommelwirbel für ein Datum. Das zwinkert der Autor uns zu. Der nächste Satz lautet: "Das Ziegeldach des Landgasthofs 'Zum Bienenkorb' glomm wie entflammt, schwankte sacht hin und her, wurde angehoben von der Sehnsucht zu fliehen, besann sich aber und sank wieder auf den Dachstuhl zurück, wie es sich für ein schweres, ehrliches und wohlgesetztes Ziegeldach, das es ja eigentlich war, geziemte."


Hjalmar Bergman

Der Präzision eines exakten Datums folgt eine entfesselte Fantasie. Ein Dach, das Sehnsüchte hat! Aber das ist nur ein kurzer Augenblick, dann ist alles wieder ruhig. Es ist, als wollte der Autor uns Lesern versichern: Ihr werdet wilde Dinge erleben, aber es wird euch nichts geschehen. Am Ende wird alles wieder so sein, als habe es all die Aufregungen nicht gegeben. Das macht ja bekanntlich den Reiz des Lesens aus: Alle Abenteuer der Welt ohne jemals den Liegestuhl und die überraschend wärmende Septembersonne zu verlassen. Wir können die unterschiedlichsten Perspektiven auf das Geschehen einnehmen - ohne die geringste Anstrengung. Einmal blicken wir von ganz oben auf den Gasthof, ein paar Zeilen später betrachten wir eine vom Abend zuvor übrig gebliebene Tasse Punsch, in der "Fliegen, Wespen und eine riesengroße Hummel" schwimmen, dann werden wir Zeuge eines Gesprächs, eine Seite später blicken wir mit den Augen einer Ratte auf dasselbe Geschehen.

Das könne man, sagen Sie, von jedem Roman sagen? Nein, das kann man nicht. Erstens, weil nur wenige Autoren uns so in Bewegung halten wie Hjalmar Bergman das auf den ersten Seiten dieses Romans macht. Die meisten hätten sich über viele Seiten in der Behaglichkeit der Gesprächssituation eingerichtet. Fontane zum Beispiel. Kein Wort gegen Fontane. Gepriesen sei er. Aber bitte auch Lob und Preis für Hjalmar Bergmans so ganz andere Kunst. Die Fontane-Welt, die Welt, in der wir leben, ist bei Bergman nur ein möglicher Ausschnitt aus einer Vielzahl von Welten. Er zappt uns von einer in die andere. So altmodisch jedes Zitat von ihm wirkt, so modern ist das Buch als Ganzes. Es ist keine Collage, aber es lebt vom Wechsel der Perspektiven, von der nimmermüden, immer präsenten Subjektivität des Autors, der immer wieder auch ein anderer ist. Das sehnsuchtsvoll vom Haus sich lösende Dach, die Ratte, die von der obersten Stufe der Terrasse aus, sich den Schnurrbart zwirbelnd, auf die unter ihr liegende Stadt schaut - das alles ist auch der Autor und wir, die Leser, seine Komplizen, sind es auch oder werden es, wenn wir uns dem Gang der Erzählung anschließen.

Ich bin, das ist Ihnen nicht entgangen, begeistert. Aber ich habe nicht weitergelesen. Aus zwei einander widersprechenden Gründen. Ich habe Angst, dass Bergman das nicht durchhält, dass die Geschichte dann doch eine Art schwedisches Seldwyla wird, dass das Ganze zerläuft und untergeht in einem spätbürgerlichen Realismus. Diese ersten Sätze wären also nichts als der Leim, auf dem Leser gefangen werden sollen wie die dicke Hummel im Punsch. Ich habe aber auch Angst, dass Bergman immer steilere Pirouetten dreht, dass ich immer tiefer in einen immer kunstvolleren Strudel gerate, dass die Geschichte also Macht über mich gewinnt. Dass der Hinweis, am Ende werde sich alles als Illusion herausstellen und das Dach werde wieder auf dem Haus aufsitzen, als habe es sich niemals wegbewegt, mich hineinlocken soll in ein Labyrinth, aus dem ich in Wahrheit niemals hinaus finden werde. Wer jemals Jorge Luis Borges verfallen war, weiß, was ich meine.

Natürlich werde ich Hjalmar Bergman weiterlesen. Aber vorsichtig. Kleine Happen. Je besser er ist, desto kleiner werden die Happen sein. Wenn Bergman aber, nachdem er mich mit seinen fulminanten ersten Seiten eingefangen hat, in dem Zwinger einer nichts als realistischen Kleinstadtgeschichte verhungern lassen möchte, dann werde ich das Buch empört über das Geländer meines Balkons werfen. Leser wollen getäuscht werden. Aber sie wollen den Autor nicht dabei ertappen, wie er es tut. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Hjalmar Bergman, Skandal in Wadköping, Roman, übersetzt von Günter Dallmann, Nachwort von Peter Urban-Helle, Manesse, Zürich 2016, 448 Seiten, 22,95Euro