Efeu - Die Kulturrundschau

Über den Beton fliegen

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11.09.2017. Mit dem Goldenen Löwen für Guillermo del Toro sind die Filmfestspiele von Venedig zu Ende gegangen. Die Feuilleton bejubeln einen durch und durch strahlenden Wettbewerb. Die SZ klopft sich nach Luk Percevals "Hunger"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale den Kohlestaub aus der Lunge. Der Standard vernimmt in Linz das Rasseln der Roboterketten. Und die taz erlebt beim Musikfest Berlin, wie Rebecca Saunders Töne aus dem konzentrierten Nichts erschafft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.09.2017 finden Sie hier

Film


Nostalgie, Pathos, echte Poesie: Guillermo del Toros "The Shape of Water" gewinnt beim Filmfest Venedig den Goldenen Löwen.

Mit einem Goldenen Löwen für Guillermo del Toros "The Shape of Water" sind die Filmfestspiele in Venedig zu Ende gegangen - die Kritiker bejubeln nahezu einstimmig einen hervorragenden Festivaljahrgang, in dem vor allem das amerikanische Kino glänzte. Dieses Jahr übertraf Venedig, wo man in der Konkurrenz der A-Festivals lange Zeit das Nachsehen hatte, mit seinem "Wettbewerb praktisch ohne Qualitätsausfälle" sogar Cannes und Berlin, jubelt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Auch Christiane Peitz freut sich im Tagesspiegel über diesen "außergewöhnlich gelungenen Jahrgang", an dessen Ende "zuguterletzt der richtige Film" gewann. Auf ein "strahlend-glamouröses Festival" blickt auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte zurück, der sich allerdings noch etwas mehr Aufmerksamkeit für die Filme von Paul Schrader und Frederick Wiseman gewünscht hätte. Sehr zufrieden ist er mit dem Gewinnerfilm von del Toro, einer "Liebesgeschichte zwischen einer Putzfrau und einem Wasserwesen, die das Erbe Traumfabrik mit Nostalgie, Pathos aber auch mit echter Poesie umarmt. " Die Jury habe sich im Großen und Ganzen "für perfekt gemachtes, expressives, malerisches Kino entschieden", schreiben Susan Vahabzadeh und Thomas Steinfeld in der SZ.

Mit dem Spott des Durchblickers reagiert Dietmar Dath in der FAZ auf die Versuche des Festivals, sich mit einer Virtual-Reality-Sektion als neuen Technologien gegenüber besonders aufgeschlossen zu präsentieren: Statt mit "derlei Kram" hält er es doch lieber mit dem klassischen Spielfilm, der sich diesmal von seiner besten Seite zeigte. "Köstliche Freudenschauer" befallen den Kritiker zudem beim Goldenen Löwen für del Toro. Weitere Bilanzen ziehen Michael Pekler (Standard) und Tim Caspar Boehme (taz).

Besprochen werden Emin Alpers türkischer Thriller "Abluka" (Zeit, unsere Besprechung hier), die Verfilmung von Dave Eggers' Roman "The Circle" mit Emma Watson und Tom Hanks (Freitag), David Simons neue HBO-Serie "The Deuce" über die Pornoindustrie im New York der 70er (ZeitOnline) und Álex de la Iglesias auf DVD veröffentlichte, spanische Thrillerkomödie "El Bar" (SZ, unsere Berlinale-Kritik hier).
Archiv: Film

Bühne


Émile Zola nach Luk Perceval: "Hunger. Trilogie meiner Familie 3". Foto: Armin Smailovic/Ruhrtriennale 2017

Bei der Ruhrtriennale hat Luk Perceval die beiden Zola-Romane "Germinal" und "Bestie Mensch" unter dem Titel "Hunger " auf die Bühne gebracht. In der SZ findet Cornelia Fiedler das inhaltlich ein bisschen krude, in seiner Düsternis aber konsequent: "Wenn Barbara Nüsse vor der bedrohlich schönen Industriekulisse des Hochofens des ehemaligen Duisburger Stahlwerks als Bergbau-Veteran Bonnemort das Wort ergreift, erzählt allein der Klang ihrer Stimme von Lungen voll Kohlestaub und Herzen voll resigniertem Zorn. Ganz anders und doch ähnlich stimmig ist auch Patrick Bartschs überdrehte Interpretation des Minenarbeiters und späteren Streikbrechers Chaval: Mit Gorillablick und pumpender Stimme gibt er die Parodie aller Proleten-Parodien - und macht ganz nebenbei klar, wie viel versnobtes Ressentiment im Lachen darüber steckt." Besprechungen gibt es auch in FAZ und Nachtkriktik.


György Ligetis "Le Grand Macabre" am Luzerner Theater.

Passagenweise gerät Herbert Fritschs Inszenierung von György Ligetis "Le Grand Macabre" unter die "Räder des szenischen Eifers" findet Peter Hagmann in der NZZ. Abgesehen davon ist er jedoch begeistert von der temperamentvollen Produktion: "Er macht 'Le Grand Macabre' zu einer knallbunten, lauten Clownerie, und er wird dabei von Clemens Heil, dem Musikdirektor des Luzerner Theaters, entschieden unterstützt. Das große Schlagwerk, das die Autohupen- und Türklingel-Vorspiele ausgezeichnet meistert, ist zusammen mit den Tasteninstrumenten auf der Bühne verteilt, die Trompeten von Jericho dröhnen vom Balkon herunter, und im Graben legt sich das Luzerner Sinfonieorchester mit muskulöser Brillanz ins Zeug."

Weiteres: Gestern eröffnete Chris Dercon seine Berliner Saison mit einem großen Tanzspektakel auf dem Tempelhofer Flughafen. Für die Berliner Zeitung schickt Ulrich Seidler nur einen allerersten Eindruck: "Dieses Tanzfest soll das Publikum erst einmal gewinnen, es umarmen und freundlich einladen. Es kann ja niemand etwas gegen staatliche Ballettschülerinnen sagen, die über den Beton fliegen, oder gegen die jungen, verrenkbaren Breakdancer von der Flying Steps Academy. Dazu Bier, Brause, Streetfood, Kugeleis und über fünfzig makellose Chemietoiletten." Der Tagesspiegel behilft sich mit einem Vorabbericht.

Besprochen werden Volker Löschs Inszenierung von Ulf Schmidts Stück über den Bauskandal ums Bonner WCCB "Bonnopoly" am Theater Bonn (Nachtkritik) Robert Borgmanns Inszenierung von Thomas Köcks postkolonialem Lehrstück im Wiener Akademietheater (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst


Katsuki Nogami und Taiki Watai: Rekion Voice. OK, Linz

Als spannenden Überblick über digitale Gegenwartskunst empfiehlt Roman Gerold im Standard die Schau "CyberArts" im OK in Linz, das die Gewinner des Prix Ars Electronia präsentiert: "Wie in einer technoiden Geisterbahn fühlt man sich in der Installation Rekion Voice von Katsuki Nogami und Taiki Watai. Im abgedunkelten Raum sieht man schemenhaft Roboter an Ketten, einer ist gar in einem Käfig respektive einem Einkaufswagerl eingesperrt. Dank Bewegungserkennung richten diese verlorenen Seelen ihre mit Schallerzeugern besetzten Köpfchen nach Betrachtern aus, um klackernd und tickend ihrem Leid Ausdruck zu verleihen. Oder ist ihr 'Rasseln mit den Ketten' als Drohung an uns Sklaventreiber zu verstehen?"

Weiteres: In der Welt lockt Hans-Joachim Müller fröhlich in die Bundeskunsthalle nach Bonn, die dem Schweizer Maler Ferdinand Hodler eine große Ausstellung widmet: "Der eine macht sich auf ins Unbekannte, der andere reist ins Engadin." Mitbestimmung ist ja gut und schön, meint Joseph Hanimann in der SZ, aber bei den Museeum hört der Spaß auf.

Besprochen wird die Ausstellung "Capricious Salad" im Projektraum Viktor Bucher in Wien (Standard).
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Literatur

Die Schriftstellerin Alena Wagnerová erzählt in der NZZ vom Glauben der beiden tschechischen Schriftsteller Bohumil Hrabal und Milan Kundera an die "Utopie einer humanen Gesellschaft" trotz ihrer Erfahrungen mit dem Realsozialismus: "Es ist, als würden hier Hrabal und Kundera aus verschiedenen Positionen zur gleichen Erkenntnis gelangen: 'Ein ordentliches Buch ist nicht dazu da, dass der Leser besser schläft.' Der Mensch kann seine 'Eigentlichkeit' nur auf der 'Müllhalde der Epoche' erfahren, wo alles Zeitfremde, Unangepasste, Unregulierbare endet."

Weitere Artikel: Sabinge Rohlf befragt in der Berliner Zeitung die Schriftstellerin Anke Stelling nach Sexismus im Literaturbetrieb. In der Berliner Zeitung spricht Frank Junghänel mit Friedrich Ani über dessen neuen, in der FR besprochenen Krimi "Die Ermordung des Glücks" und über dessen Hauptmotive Einsamkeit und Schweigsamkeit. Jörg Magenau berichtet in der SZ von politischen Veranstaltungen beim Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo unter anderem Edward Snowden zugeschaltet war. Andreas Platthaus (FAZ) und Volker Breidecker (SZ) resümieren ein unter dem Titel "Streitkultur" abgehaltenes Symposium über Marcel Reich-Ranicki. ZeitOnline bringt eine Erzählung von David Wagner über eine Vater-Sohn-Beziehung. In der FAZ gratuliert Reinhard Veser dem Dichter Tomas Venclova zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Ingo Schulzes "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst" (Freitag), Durs Grünbeins Gedichtband "Zündkerzen" (FR), Gerhard Falkners "Romeo oder Julia" (Tagesspiegel), Oswald Eggers "Val di Non" (Zeit), Martin Schäubles dystopischer Roman "Endland" (Tagesspiegel), Sasha Marianna Salzmanns "Außer sich" (SZ), Naja Marie Aidts "Schere, Stein, Papier" (Tagesspiegel), die Gesamtausgabe von Jacques Martins Comicklassiker "Alix" (Tagesspiegel) und ein neues Buch über den Dichter Harro Harring, der im 19. Jahrhundert im Grunde genommen eigentlich ständig von den Behörden gejagt wurde (Welt, hier unsere Leseprobe).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Kito Lorencs "Schlaflose Nacht":

"Regenlaub, sprich zu mir,
wärme mich, Dunkel,
lass mich sehen mit Augen,
..."
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Musik

Das Musikfest Berlin hat mit "Yes" eine neue, von Joyce' "Ulysses" inspirierte Arbeit von Rebecca Saunders uraufgeführt. Dafür betraten das Ensemble Musikfabrik und die Sopranistin Donatienne Michel-Dansac die Bühne zunächst sehr publikumsvergessen, erfahren wir von Katharina Granzin in der taz. Doch "auf einmal irgendwann aus diesem konzentrierten Nichts dieser Ton! Er ist der erste Baustein eines großen musikalischen Gebäudes, das an diesem Abend entstehen wird. Oder sollte man sagen: eines klanglichen Gebäudes? ...  Saunders arbeitet konzentriert am einzelnen Ton und dabei mit der Klangqualität unterschiedlicher Instrumente, lässt Töne der einen von anderen aufnehmen, in ihnen aufgehen, sodass die eigentliche Quelle der Klangerzeugung hinter dem Klang selbst verschwindet. Ein Ton kann somit gleichsam eine eigene, konkrete Präsenz gewinnen, als sei er eben schon immer da und als seien die ihn erzeugenden Instrumente nur seine austauschbare Hülle."

Nur hier, in diesem in jeder Ecke mit Notenständern bestücktem Saal, könne dieses Stück werkgetreu aufgeführt werden, behauptet Clemens Haustein in der FAZ, der mit großer Freude zur Kenntnis nimmt, dass Saunders mit ihrer Komposition "keinem Anspruch auf Verstehbarkeit Raum" gebe und bei ihr Musik schlicht Musik sein soll. "Dass sie im besten Sinn auf der Nutzlosigkeit von Musik beharrt in Zeiten, da die klassische Musik sich steigendem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sieht, macht sie zur wichtigen Stimme. ... Rebecca Saunders' Reichtum an klanglichem Vokabular ist dabei überwältigend. Dass sie dieses Vokabular gemeinsam mit den Musikern des Ensembles entwickelte, trägt entschieden zur klanglichen Schönheit bei." Die Zeit hat ihr Gespräch mit der Komponistin (unser Resümee) online nachgereicht.

In der SZ denkt Helmut Mauró über das Spiel des 1991 gestorbenen Pianisten Rudolf Serkin anhand dessen Beethoven-Aufnahmen nach: Serkin "war nicht wirklich ein virtuoses Naturtalent, sondern eines, das durch unendlichen Fleiß und Disziplin am Ende höchstes pianistisches Niveau erreichte. Ein Genie der Besessenheit, ein Künstler gewordenes Lob der Tüchtigkeit. ... Die erste Aufnahme der Mondscheinsonate erscheint fast harmlos, die letzte: schwer, pathetisch, entblößt. Da steht ein nackter König, dem Weltenlauf ergeben, aber mit einer bescheidenen Fröhlichkeit, einer kleinen privaten Hoffnung für das große Ganze." Hier spielt er den Dritten Satz live im Weißen Haus:



Weiteres: Silvia Perdoni plaudert in der Berliner Zeitung mit dem Rapper Cro.

Besprochen werden ein Konzert von GAS (taz), der Hamburger Auftritt der Rolling Stones (Welt, SZ), ein Konzert von Christian Thielemanns Sächsischer Staatskapelle Dresden (Standard), eine neue CD von Vijay Iyers Jazz-Sextett (SZ), ein Konzert von Mogwai (The Quietus), ein Mahler-Konzert des Konzerthausorchesters unter Iván Fischer mit Organist Cameron Carpenter (Tagesspiegel), ein Bartók- und Busoni-Abend der Berliner Philharmoniker unter Susanna Mälkki (Tagesspiegel), der erste Abend des Berliner Lollapalooza-Festivals (Tagesspiegel) und ein neues Album von Van Morrison (FAZ).
Archiv: Musik