Efeu - Die Kulturrundschau

Hektik bei gleichzeitigem Stillstand

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31.08.2020. Ziemlich deprimiert kommen die KritikerInnen aus René Polleschs Stück "Melissa kriegt": Das soll das Wiedersehen nach der Corona-Pause sein?, fragt etwa der Tagesspiegel. Im Standard verrät David Grossman, mit welchen Exerzitien er seine Übersetzer zu Höchstleistungen anspornte. Die FAZ gerät in der Basler Ausstellung "Real Feelings" in eine emotionale Feedbackschleife. Und beim Vergleich der Wiener und Berliner Philharmoniker stellt die SZ fest: Abstand erzeugt einen spröden Klang. Und natürlich trauern auch die deutschen Feuilletons um den Black Panther Chadwick Boseman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.08.2020 finden Sie hier

Bühne

René Polleschs "Melissa kriegt alles". Foto: Arno Declair / Deutsches Theater

In Berlin hat am Wochenende die Theatersaison begonnen. Am Deutschen Theater hat René Polleschs seinen neuen Text "Melissa kriegt alles" aufgeführt. Nonsens mit System erlebte taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller. Es geht ums Theaterspielen, um Method Acting und Brechts Episches Theater: "Nach etwas Drittem zwischen diesen beiden Polen des Authentischen und des Verfremdeten zu suchen, bringt das diesmalige Pollesch-Team auf den Begriff der Trance. Trance, so erklärt es sich Franz Beil, bedeutet widersprüchlichen Anweisungen folgen: Sei sparsam wegen Hartz IV, aber kaufe Bio-Eier wegen der Hühner. So steht er dann völlig blockiert im Supermarkt und kommt keinen Schritt voran. Und so recht voran kommen sie auf der Bühne auch nicht; aber vermutlich ist das der Zustand, um dessen Ausmalung es geht; Hektik bei gleichzeitigem Stillstand." In der FAZ erfreut sich Jürgen Kaube an der unübersehbaren Spielfreude der Möchtegern-Revolutionäre: "Alle würden also gern in einer anderen Bühnenwelt leben, alle träumen von echtem Theater bis hin zum Stoßseufzer des Abends, den Katrin Wichmann ausstößt: 'Ich würde gerne mal in Würde gecastet werden.'" Große Schauspielkunst entdeckte auch Nachtkritikerin Elena Philipp, auch wenn sie nicht alle Szene gleich spritzig fand: "Wie viele Haltungen Wuttke und Angerer in einem Vorgang gleichzeitig spielen können!" Im Tagesspiegel beobachtet Rüdiger Schaper mit wachsendem Desinteresse: "Nichts zündet, die Atmosphäre ist deprimierend. Das soll das Wiedersehen nach der Corona-Pause sein? So melancholisch, müde und desorientiert? Könnte es sein, dass wir das Ausmaß der Krise noch überhaupt nicht begriffen haben - wenn eines der führenden Häuser des Landes mit einer solchen Implosion wiedereröffnet?"

Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt die Sängerin und Schauspielerin Dagmar Manzel, wie Schönberg und Beckett sie durch die Corona-Krise getragen haben. Totsagen solle man das Theater aber bitte noch nicht: "Diese Diskussion gab es nach der Wende: Keiner wird mehr ins Theater, keiner ins Kino gehen. Damals waren die Theater leer. Aber der Hunger, Kunst gemeinsam zu erleben, ist groß. Und das Erlebnis Theater ist nicht zu toppen. Mit keinem Fernsehprogramm und keiner Aufzeichnung. Wie so ein Abend stattfindet, wird er nie wieder stattfinden. Dieses Einmalige macht das Theater aus. So hat es in der Antike begonnen und so wird es immer bleiben. Das Theater wird nie tot sein. Never ever."

Besprochen werden der Schiller-Abend "Ode an die Freiheit", mit dem sich Antú Romero Nunes vom Thalia Theater in Hamburg verabschiedet (Nachtkritik), Lisa Gappels Inszenierung von Tschechow-Klassikers "Die Möwe" im Theater Kiel (Nachtkritik) und Hölderlins "Antigone" im Theater Willy Praml in Frankfurt (FR).
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Literatur

Im Interview mit dem Standard spricht David Grossman nicht nur über Israel und Palästina, sondern auch über seinen neuen Roman "Was Nina wusste", wie er sich schreibend ins Verhältnis zu seinen Figuren setzt und von den Exerzitien, die er mit seinen Übersetzern abhält: Diese hat er "an einen abgelegenen Ort gebracht. Diesmal war es ein Ort in Kroatien, weil der Roman dort spielt. Wir saßen eine Woche in einem Hotel, und ich las ihnen das Buch von A bis Z vor, etappenweise. Wir saßen da, fünfzehn Leute berieten sich gegenseitig, wie sie all die Übersetzungsprobleme lösen könnten. Die Deutsche half dem Niederländer, die Schwedin dem Norweger, die Slowakin der Tschechin, die Serbin der Kroatin - und die Amerikanerin half allen."

Weitere Artikel: Andrea Pollmeier (FR) und  Tilman Spreckelsen (FAZ) berichten von Dževad Karahasans Auszeichnung mit dem Goethepreis. Besprochen werden unter anderem Paolo Bacilieris Comic "Sweet Salgari" (taz), die illustrierten Science-Fiction-Romane von Simon Stålenhag (Intellectures), Rye Curtis' "Cloris" (Presse) und der neunte, für Essays und Interviews vorgesehene Band der Werkausgabe Jean Genet (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Christian Metz über Wolfgang Bächlers "Der Lift":

"Ich höre den Lift.
Er fährt durch meinen Körper
..."
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Kunst

Justine Emard: Co(AI)xistence, 2017. Bild: Haus der elektronischen Künste, Basel

Unsere Gesichter werden gerade nicht nur vermessen, um uns besser überwachen zu können, sondern auch um Emotionen besser erfassen zu können. In der Ausstellung "Real Feelings - Emotion and Technology" im Haus der elektronischen Künste Basel lernt FAZ-Kritikerin Ursula Scheer allerdings, dass die KI mit Gefühlen schwer klarkommt: "Allein das Glücklichsein scheint der Technik offensichtlich: 'Happiness is the only true emotion' heißt denn auch eine Fotoserie des Schweizers Clément Lambelet. Am eindrücklichsten übersetzt das koreanische Duo Shinseungback Kimyonghun, wie biometrische Systeme die unendliche Vielfalt der Seelenzustände erst digital rastern, dann in neue synthetische Weiten schicken können, auf die wir wiederum emotional reagieren - worauf das Spiel von Neuem beginnt. In der Installation 'Mind' erzeugen mit Metallkugeln gefüllte Trommeln Ozeangeräusche. Ob sanftes Wogen oder wildes Stürmen, das hängt von dem ab, was eine Gesichtserkennungssoftware aus der Mimik der Besucher liest."

Weiteres: In der Berliner Zeitung geht Ingeborg Ruthe freudig durch die Gerhard-Richter-Ausstellung im Dresdner Albertinum, die Bilder aus Richters ersten Monaten nach seiner Flucht aus der DDR zeigt: "Diese stilistisch bereits virtuose, jedoch nahezu unbekannte Phase zwischen März 1961 und Dezember 1962 war für Richter, der sich damals noch Gerd nannte, entscheidend. Er eignete sich die Stilrichtungen der westlichen Moderne an. Der Wechsel zwischen Figuration und Abstraktion wurde zentrales Element seiner Malerei." Sebastian Strenger blickt in seiner taz-Serie "Die Polizei in der Kunst" auf eine Fotografie der FAZ-Reporterin Barbara Klemm, die den Zusammenprall von Studenten und Polizei 1969 in Frankfurt festhält: "Barbara Klemm gelang das Einfrieren eines Moments kurz vor seiner physischen Entladung. Aus der Phalanx der Studenten kamen wenig später Steinwürfe, auf die die Polizei mit Wasserwerfern reagierte."
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Film

Große Trauer um den Schauspieler Chadwick Boseman, der im Alter von gerade mal 43 Jahren einem Krebsleiden erlegen ist. Mit dem vieldiskutierten Blockbuster "Black Panther", in dem er die Titelrolle spielte, wurde er 2018 zum internationalen Superstar. Sein Verdienst für die schwarze Community in den USA allein mit diesem Film kann man gar nicht überschätzen, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Doch "das Besondere an Boseman war, wie seine Persönlichkeit selbst historische Figuren durchdrang", etwa als er 2014 James Brown verkörperte: Seine Darstellung "war keine für Filmbiografien oft so typisch blutleere Nachstellung, sondern sprühte vor Witz und dem Charisma seines Darstellers; sie hatte buchstäblich Feuer." Verena Lueken würdigt in der FAZ den Schauspieler, der "mit wenigen sehr unterschiedlichen Rollen ikonisch wurde". Weitere Nachrufe auf ZeitOnline und in der SZ. Der Guardian hat ein Best-Of zusammengestellt:



Für die SZ unterhält sich Benjamin Ansari mit der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen über Viren im Film. Im Gegensatz zu Horror- oder Splatterfilmen und acuh im Gegensatz zur Literatur sind Pandemiefilme eigentlich ein optimistisches Genre, meint Bronfen: "Es sind Überwindungsgeschichten: Sie zeigen, wie schrecklich die Pandemie sein kann - aber am Ende wird sie meist überwunden und das Virus besiegt. Die Protagonisten sind kreativ und widerstandsfähig, die Bösewichte sterben oder werden entkräftet. Das ist mehr als nur ein Happy End, das ist eine Art Mobilmachung: Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um die Gemeinde gemeinsam zu retten. Haben die Helden das erst mal verstanden, gelingt die Rettung."

Weitere Artikel: In der taz gibt Stefan Hochgesand Tipps zum Queerfilmfestival, das in 12 Städten stattfindet. Ralf Schenk erinnert in der Berliner Zeitung an die DDR-Filmzensur, die auch den Trickfilm traf. Claus Schenk schreibt in der Berliner Zeitung anhand von Alfilm und Film Polska über die Lage der Berliner Filmfestivals.

Besprochen werden Christopher Nolans "Tenet" (Freitag, unsere Kritik hier), die Wiederaufführung von Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel" (SZ), die Netflix-Mockumentary "Masaba Masaba" über die indische Designerin Masaba Gupta (taz) und neue Heimmedien, darunter John Boultings Peter-Sellers-Komödie "Heavens Above" von 1963 (SZ).
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Musik

Coronamaßnahmen im Konzertsaal - wie wirkt sich das auf den Klang aus, fragen sich heute viele Feuilletons. Helmut Mauró hat für die SZ in Salzburg die Wiener Philharmoniker, die beisammen spielen durften, und die Berliner Philharmoniker, die wegen Versicherungsauflagen Abstand hielten, verglichen: Die Wiener klingen "wie immer warm, kompakt", die Berliner hingegen kommen dem Kritiker bei Schönbergs "Verklärte Nacht" nach überzeugendem Beginn "recht spröde vor, auch wenn sich die Musiker noch so leidenschaftlich ins Zeug legen und sie Dirigent Kirill Petrenko hin und wieder ein wenig darin bestärkt." Immerhin lässt Petrenko das Andante in Brahms' Vierter schweben: "Welch angenehme Überraschung. Petrenko, der immer zu größtmöglicher Präzision und Klarheit neigt, braucht keine vergrößerten Abstände im Orchester, um Einzelheiten hervorzuheben. Das zeigt auch das strahlende Finale, wo sich akustisch alles zum Besten fügt." In der FR bilanziert Markus Hinterhäuser, Intendant der Salzburger Festspiele, diesen besonderen Jahrgang und blickt sorgenvoll in die Zukunft.

Kurz zuvor eröffneten die Berliner auch ihre Saison zuhause. Gerald Felber ärgert sich in der FAZ sehr darüber, dass die Kulturpolitik den Salzburger Löwenmut missen und die Philharmoniker vor arg geleertem Saal und auch untereinander distanziert spielen lässt. Das hat - trotz "hochrespektablem" Spiel - Folgen: "Nicht nur, weil jene delikaten Mikrosignale, winzige Gesten und Augenwinkelblicke, die bei einem gut eingespielten Ensemble die Lötstellen für den homogenen Gesamtklang sind, enorm erschwert werden und das Auf-sich-Zurückgeworfensein jedes Einzelnen eine gewisse antispontane Übersorgfalt zeitigt; sondern auch, weil die pure physische Dichte der Körper (oder umgekehrt: der zwischen ihnen - vor allem im Blechbläsercorps - gähnende Leerraum) hörbare Folgen für die Ausbreitung oder Dämpfung der Töne hat." Immerhin spreche es "für den von Corona ungebrochenen Behauptungswillen von Orchester und Dirigent, wie sie sich aus dieser Malaise zunehmend freispielten und die kommunikative Not zur konzeptionellen Tugend machten." In der Berliner Zeitung berichtet Clemens Haustein.

Weitere Artikel: Stephanie Grimm resümiert in der taz das Berliner Festival Pop-Kultur, das in diesem Jahr als Onlinevideo-Festival stattfand. Susanne Lenz und Michael Maier sprechen für die Berliner Zeitung mit der Sängerin Dagmar Manzel über das zeitweilige Berufsaus wegen Corona. In der Jungle World meditiert Magnus Klaue darüber, was ihm die unter den Fans fortlaufend geführte Debatte um Britney Spears' Entmündigung über den Kapitalismus und die Kulturindustrie verrät.

Besprochen werden das neue Album von Katy Perry (Tagesspiegel) und weitere neue Veröffentlichungen, darunter von Pietari Inkinen dirigierte Dvořák- und Prokofjew-Aufnahmen (FAZ).
Archiv: Musik