Bücher der Saison

Frühjahrsbücher 2014: Romane

18.04.2014. In diesem Frühjahr dominieren der Krieg und seine Folgen die Literatur und dann und wann ein Schwätzen und Schlachten im Prenzlauer Berg, Pop-Theorie, Fotografie und Reproduktionstechnologien die Sachbücher. Und ein Reportageband führt uns nach Tiflis, Baku und Eriwan. Reichlich Lektüre für die hoffentlich sonnigen Ostertage.
Romane / Reportagen, Essays, Erinnerungen, Lyrik / Sach- und politische Bücher


Die Grundstimmung in diesem Frühjahr ist eher düster. Die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts grundiert viele Romane: Ein Nazigroßvater, eine ermordete jüdische Großmutter, im Bosnienkrieg, in Somalia oder in Afghanistan verkrüppelte Frauen, Kinder und Soldaten, der Rassismus in den USA der 50er Jahre, Migration, Flucht und immer wieder die Frage, was ist Heimat. Bei den Reportagebüchern nimmt Stephan Wackwitz uns mit zur vergessenen Mitte der Welt und der dänisch-palästinensische Dichter Yahya Hassan stößt einen Wutschrei in die Welt, der bei den Kritikern lange nachhallte. Bei den Sach- und politischen Büchern gehören Andreas Bernards Studie über neue Reproduktionstechnologien, der Sammelband "Majdan!", Marci Shores Geschichte über die Veränderungen in den ost- und mitteleuropäischen Ländern in den letzten zwanzig Jahren und Helmut Lethens Essay über Fotografie zu den meistbesprochenen Büchern. Viel Spaß beim Lesen!

Romane

Kriegsverletzungen

Martin Kordics hat mit "Wie ich mir das Glück vorstelle" einen sehr ungewöhnlichen Roman über den Bosnienkrieg geschrieben. Sein Held ist ein kleiner Junge mit einem verkrüppelten Rücken, Victor, der versucht, seine Kriegserlebnisse in seine Welt einzuordnen, indem er sie erzählt: Immer im Präsens, immer aus der Ich-Perspektive und immer direkt an den Leser gerichtet. Eine Familie hat er nicht mehr, aber Gefährten, die sich wie er versuchen in Mostar durchzuschlagen: ein Hund, eine Prostituierte und ein Hütchenspieler. Victor erzählt nicht nur von Krieg und Überleben, sondern auch von früher, als er noch im "Dorf der Glücklichen" lebte. Nur 170 Seiten hat dieser Debütroman des 1983 in Celle geborenen, im Brotberuf als Lektor bei Dumont arbeitende Martin Kordic. Immer wieder habe er seinen Stoff verdichtet, erzählt er im Interview mit der Welt, bis jedes Detail seine Funktion habe. Das hat funktioniert, wie die Rezensenten in FAZ, taz und Welt bestätigen: Ein todtrauriges Buch und doch voller Hoffnung.

Ein hartes Buch hat auch der 1981 in Benin geborene Ryad Assani-Razaki mit "Iman" geschrieben. Und auch dieses Buch wird - zu Teil jedenfalls - von einem verkrüppelten Jungen erzählt: Toumani ist noch klein, als er von seinem Vater, einem bettelarmen Bauern, verkauft wird. Er landet bei einer Madam, die ihn als Sklaven an einen brutalen Kerl vermietet, der ihn zum Krüppel schlägt. Er wirft Toumani in die Kanalisation, wo schon die Ratten an ihm nagen, als einige Kinder ihn finden und retten. Toumani findet zum ersten Mal in seinem Leben Freunde, aber etwas in ihm ist zerstört und seine Wut richtet sich am Ende gegen seine Freunde. Für die Rezensenten spiegelt sich in diesem Buch eine afrikanische Gegenwart, die nicht mehr nur vom Kolonialismus geprägt ist, sondern ihre eigene Gewaltdynamik hat. Das gelingt unter anderem, weil Assani-Razaki immer ganz dicht an seinen drei Hauptfiguren bleibt. Großes Lob auch für die lebendige Bildlichkeit der Geschichte.

Sehr gut besprochen wurde auch Paolo Giordanos Roman "Der menschliche Körper" der von einer Truppe italienischer Soldaten in Afghanistan erzählt. Der 1982 in Turin geborene Giordano bewertet nicht, er schildert auch kein Einzelschicksal, sondern stellt die Gruppendynamik in den Vordergrund und die Männlichkeitsbilder, die hier "durchdekliniert" werden, erzählt eine beeindruckte Maike Albath in der SZ. Der Krieg werde hier vor allem entlang der körperlichen Verfassung seiner Protagonisten erzählt. Auch FAZ-Rezensent Niklas Bender war nach dieser "Maximaldosis Literatur" ziemlich benommen. Vom Krieg, hier vom Bürgerkrieg in Somalia, erzählt auch die Autorin Nadifa Mohamed in "Der Garten der verlorenen Seelen" Ihre Hauptpersonen sind drei Frauen - ein Flüchtling, eine Witwe, eine Soldatin - drei Generationen, drei Schicksale. taz-Rezensentin Katharina Granzin bewundert, wie die Autorin ihre Figuren mit Würde und Haltung ausstattet, um der allgegenwärtigen Gewalt gegen den weiblichen Körper zu begegnen. Auch in Zeit und SZ wurde das Buch gut besprochen, nur das Happy End waren den Rezensenten zu hollywoodmäßig. In der NYT hatte Aminatta Forna damit gar kein Problem.


Spurensuche

Katja Petrowskaja erzählt in ihrem Debütroman "Vielleicht Esther" von ihrer Großmutter, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückgeblieben war und schließlich von deutschen Soldaten in Babij Jar erschossen wurde. Petrowskajas Spurensuche führt durch Kiew, Berlin, Warschau, Moskau, doch auch hier ist ausschlaggebend, wie sie die Geschichte erzählt - sprunghaft-assoziativ, lückenhaft, Leerstellen bewusst zulassend. Für den NZZ-Rezensenten Samuel Moser führte das zu einer traumhaften Erfahrung: Beeindruckend scheint ihm, wie die genauen Bilder, die Petrowskaja findet, metaphysische Horizonte eröffnen, so dass Gewalt und Tod erahnbar werden und das Verschwinden in der Geschichte reversibel scheint. Ähnlich beschreiben das auch die Rezensenten in FAZ, SZ, Zeit, FR und taz. Und alle bewundern Petrowskajas sinnlichen und bildlichen Umgang mit Sprache. In der Welt fasst Jan Küveler das Buch so: "Es kann nur liegen und tanzen."

Toni Morrisons neuer Roman "Heimkehr" blickt zurück in das Amerika kurz nach dem Koreakrieg und kurz vor Beginn der Bürgerrechtsbewegung. Es ist nur vordergründig eine Kriegsheimkehrerstory, erzählt Hubert Spiegel in der FAZ. Eigentlich ist es die Geschichte des schwarzen Geschwisterpaares Frank und Cee. Beide sind einander aus einer unglücklichen Kindheit im rassistischen Georgia tief verbunden. Doch sie müssen erst wieder zueinanderfinden. Wie sie das tun, und wie sie am Ende rassistisches Dorf und böse Großmutter hinter sich lassen, das hat nicht alle Rezensenten gleichermaßen überzeugt. Die SZ lobt den Roman als virtuos und findet das Ende wunderbar. Der FAZ geht alles in diesem Buch ein bisschen zu schnell. Sie hätte sich mehr Puste gewünscht.

Außerdem sehr gut besprochen: Per Leos Debütroman "Flut und Boden" eine Art Doppelbiografie seines Großvaters, einem strammen Nazi, und dessen älterem Bruder, einem körperlich behinderten Künstler, und Jonathan Lethems Roman "Der Garten der Dissidenten" der, angelehnt an die eigene Fmiliengeschichte, von der nach Amerika eingewanderten jüdisch-orthodoxen Kommunistin Rosa erzählt, die wegen ihrer Liebe zu einem schwarzen Polizisten aus der Partei ausgeschlossen wird, sich mit ihrer Hippie-Tochter überwirft und nicht einmal mit ihrem zartbesaiteten Pazifisten-Enkel klarkommt: Eine rauschhafte Geschichte des europäisch-amerikanischen 20. Jahrhunderts, lobte Doris Akrap in der taz.


Verwirrspiele

Zwei junge Männer, die nichts auf die Reihe kriegen, geschweige denn einen Mord verhindern, den ein dritter angeblich begehen will, ein Café im Prenzlauer Berg und eine Erzählerin, die das Buch nicht so erzählen will wie ihr Lektor es gern hätte: kurz, knackig, mit Sex auf den ersten Seiten. Aber nein, es werden 630 Seiten und eine Handlung gibt es eigentlich auch nicht. Alles Palaver, das ist "Schwätzen und Schlachten" der zweite Roman der 1979 geborenen Österreicherin Verena Roßbacher. In der SZ zuckt Hans-Peter Kunisch erst die Achseln und erwärmt sich dann doch für das Buch: Blättert man einfach im Buch, mal hierhin, mal dorthin, dann entpuppt sich das Palaver als elegant-intelligent. In der FAZ hat sich Nicole Henneberg ebenfalls höchst amüsiert. Und in der Zeit ist Florian Kessler total hingerissen, derart "beglückend" und umwerfend komisch findet er das Buch. Im Interview mit dem tip lernt man übrigens Roßbacher als schlagfertig-maliziöse, auf fast altmodische Art erwachsen wirkende Autorin kennen.

Der Schauspieler Alex Cleave, bereits bekannt aus anderen Romanen John Banvilles, erinnert sich in "Im Lichte der Vergangenheit" an einen Sommer im Irland der 60er Jahre, in dem er sich als 15-Jähriger in die Mutter seines besten Freundes verliebte und eine Affäre mit ihr hatte. Gleichzeitig wird ihm angeboten, im Film die Rolle eines Literaturkritikers zu spielen. Der Roman bietet eine Fülle intertextueller Verweise und kunsthistorischer Anspielungen. Letzteres haben nicht alle Kritiker genossen, aber die zugleich poetische wie drastisch-vulgäre Schilderung der Liebesbeziehung, überhaupt die Beschreibungskunst Banvilles, haben die Rezensentinnen in Zeit, SZ und FR ordentlich beeindruckt.
 

Heimat und Fremde

Sasa Stanisic hat für "Vor dem Fest" den Leipziger Buchpreis gewonnen und es gab eigentlich keinen Rezensenten, der fand, dass er das nicht verdient hätte. Stanisic erzählt in seinem zweiten Roman von einem fiktiven Dorf in der Uckermark. Dort leben ein alter Spitzel, ein alter Förster, eine alte Malerin, ein Neonazi, kaum junge Leute. Das klingt erst mal nicht so aufregend, ist aber so aufregend erzählt, dass taz-Rezensent Christoph Schröder Stanisics Erzählkunst regelrecht verstört. In der SZ ist Lothar Müller beeindruckt vom "Wir" der chorischen Erzählstimme, die Legenden und alte Chroniken, Volkes Stimme und Wirtshauslang, Lokalnachrichten, Heimatgesang und Familiengeschichten vereint. Auch FR-Rezensentin Cornelia Geißler lobte den Ausdrucksreichtum des Autors und sein virtuoses Spiel mit Märchen, historischem Dokument und Anekdote. In der Zeit hebt Verena Auffermann vor allem Stanisics Ethnologenaugen und seinen Blick für das Unzeitgemäße hervor. Ganz große Literatur eben, so das Fazit der Rezensenten.

Auch Assaf Gavrons Roman "Auf fremdem Land" spielt in einem Dorf, freilich im Westjordanland, wo es eher zufällig entstand. Eigentlich wollte der Gründer Etaniel Asis dort nur ein paar Ziegen halten und Salat anbauen. Aber dann gefällt es ihm so gut auf dem Stück Land, dass er bleibt. Andere kommen nach, die Behörden stellen die Illegalität der Siedlung fest, haben aber auch keine Genehmigung zur Räumung. Auch zwei sehr unterschiedliche Brüder aus Amerika ziehen dorthin. Gavron beschreibt diese Menschen "von unten", erklärt in der taz Jürgen Berger. Obwohl der Autor politisch gegen die Siedlungen sei, entgehe er so der Falle, ein politisches Manifest statt einen Roman zu schreiben. In der FAZ stimmt Eva Menasse zu: Gavron möchte nicht indoktrinieren, sondern eine verwickelte Geschichte möglichst genau erzählen, aus Sicht der Siedler und mit jeder Menge Sinn für den Aberwitz und die Tragik seiner Helden. Das gelingt ihm vorzüglich, findet sie. Hingewiesen sei auch noch einmal auf Angelika Klüssendorfs Roman "April" der von einer jungen Frau erzählt, die versucht, im Leipzig der siebziger Jahre und später in der BRD heimisch zu werden. Auch hier ist es der genaue Blick und die "einfache und schöne" Sprache (Gustav Seibt in der SZ), die die Rezensenten das Buch wärmstens empfehlen lassen. Hier unser Vorgeblättert.
 
Ein bäuerlicher Betrieb, Familienfehden, ein Fluch und ein Mord - es passiert eine Menge in Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Schwarzer Flieder" einer Fortsetzung seiner mit "Roter Flieder" begonnenen Familienchronik der Goldbergers. Man kann den Roman aber, das versichern alle Rezensenten, ohne weiteres als - etwas aus der Zeit gefallenes - Einzelwerk lesen. Ein junger Mann, Ferdinand, der sich eigentlich schon vom Hof gelöst und in Wien und Bolivien Erfahrungen gesammelt hat, die seine Beamtenseele gründlich erschüttert haben, kehrt zurück, nachdem sein Onkel den als Erben eingesetzten Neffen im Streit erschlagen hat. In einem kühnen Handstreich löst Ferdinand den Hof bis auch einen winzigen Rest auf. Ein Ende von alttestamentlicher Wucht, behaupten Klappentext und die Rezensenten in FR und Zeit. In der Presse würde Klaus Kastberger die Erzählweise in seiner lesenswerten Kritik lieber "oberösterreichisch" nennen - im Sinne "eines Vollkommen-überzeugt-in-der-eigenen-Landschaft-Stehens" wie Robert Musil und Stifter es beschrieben haben. Das Geschick und die Sprachkunst des Autors lässt ihn, wie auch die anderen Rezensenten, auf eine Fortsetzung hoffen.

Ganz unverständlich, dass Zsofia Bans Erzählband "Als nur die Tiere lebten" in den Zeitungen noch nicht besprochen wurde. Im Deutschlandradio hat Jörg Plath sie vorgestellt. Es sind Geschichten, deren Zusammenhänge der Leser selbst erkunden muss. Immer gibt es Jemanden, der geflohen ist - in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Sprache. Und immer gibt es ein Bild, einen eingefrorenen Moment, der erkennen lässt, dass Flucht vergebens war. Plath nennt als Beispiel die letzte Erzählung, in der eine Fotografin im Schneesturm gefangen ist und ein Foto macht. Nichts ist darauf zu sehen, alles ist weiß oder grau. Und sie erinnert sich an den Moment, als ihre Mutter starb. Auch dies ein Nullpunkt, an dem nichts mehr zu erkennen war. Plath gefiel der Konstruktions- und Formwille der Autorin, der überall spürbar sei. Aber, versichert er, jede Erzählung hat auch "genug Fleisch" auf den Knochen, um für sich zu bestehen. Hier unser Vorgeblättert.

Feridun Zaimoglus Roman "Isabel" erzählt von einer nicht mehr ganz jungen, türkischstämmigen Frau, die ihr eher bürgerliches Dasein aufgibt und an der Seite eines vom Kosovokrieg traumatisierten Ex-Soldaten durch ein deprimierend hässliches, sozial heruntergekommenes Berlin zieht. Der Roman wurde von den Rezensenten zwiespältig aufgenommen. Die durch keine soziale Notwendigkeit erzeugte Tristesse ging den meisten doch etwas auf die Nerven, aber Zaimoglus abgehackter, expressionistischer Stil hat beeindruckt. Für Zeit-Kritiker Jens Jessen erweist sich Zaimoglu hier als Meister der deutschen Sprache. Krieg, Flucht, Heimat und Migration - um all dies geht es in Dorothee Elmigers zweitem Roman "Schlafgänger" Doch gibt es weder eine Handlung noch irgend eine Art von Figurenpsychologie, dafür ein faszinierendes Nebeneinander von Ereignissen und Erzählperspektiven, ein Geflecht von Stimmen, ein "Prosa-Sprechtheater", das vom Transitorischen und Verletztenden an Grenzen und Entgrenzungen, Fluchten und Identitätsverzicht erzählt, so die durchaus beeindruckten Rezensenten in Zeit und SZ.


Der ganz normale Wahnsinn

Zum Schluss sei noch auf zwei Bücher hingewiesen, die wir schon in den letzten Bücherbriefen vorgestellt hatten: Zadie Smiths Roman "London NW und Rafael Chirbes' Roman "Am Ufer" Beides Bücher, die ganz im Hier und Heute wurzeln. Smith erzählt von vier Londonern, die im multikulturellen Kilburn im Nordwesten Londons aufwachsen und leben. Und Chirbes rechnet mit den Urhebern, Nutznießern und schuldigen Verlierern der Immobilienkrise in Spanien ab.


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