Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Frieden beschädigt

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24.08.2018. In der SZ erzählt Christoph Hein, wie kleinbürgerlich in der DDR mit Homosexualität umgegangen wurde. Putin lenkt den Laden, meint der Regisseur Spike Lee im Standard mit Blick auf die USA. Hyperallergic erlebt in Saarbrücken begeistert, wie feministische Künstlerinnen den männlichen Körper enttabuisieren. Und der Tagesspiegel lernt von der Band Family 5, wie gut Kraftwerk und die Ramones zusammenpassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.08.2018 finden Sie hier

Literatur

In seinem neuen Roman "Verwirrnis" porträtiert Christoph Hein auch seinen früheren Lehrer, den Literaturwissenschaftler Hans Mayer, verrät der Schriftsteller im großen SZ-Gespräch, das Felix Stephan geführt hat. Mayer war "einerseits aus politischen Gründen in den Westen gegangen, seine Theorien waren eine Lehrmeinung zu viel. Ein anderer Punkt war aber auch, dass er sich als Homosexueller in Leipzig nicht outen wollte. Er ging rüber, weil drüben die Homosexualität zumindest in den Universitätsstädten akzeptiert wurde, wie in Ostdeutschland nur an den Theatern. Das war ganz merkwürdig: Der Staat war im Osten weiter als im Westen, aber die Bevölkerung war kleinbürgerlich geblieben. ... Bis es sich dann dreht: Die Revolution von 1989, zwanzig Jahre später, kam von unten. In der Presse heißt es immer, die Biermann-Ausweisung sei der Anfang vom Ende gewesen. Der eigentliche Punkt aber war, dass sich damals zwölf Autoren meldeten und Widerspruch einlegten. Das brachte die Sache ins Rutschen. Das führte dazu, dass sich immer mehr Menschen meldeten und sagten: 'Die haben recht.' Dadurch setzte der Korrosionsprozess ein."

Weitere Artikel: Schriftstellerin Stefanie de Velasco denkt im Freitext-Blog auf ZeitOnline über die Dürre nach. In der FAZ gratuliert Hannes Hintermeier dem Schriftsteller Frederick Forsyth zum 80. Geburtstag. 105 Jahre alt wird am kommenden Sonntag der Schriftsteller Boris Pahor, dem Paul Jandl in der NZZ gratuliert.

Besprochen werden Helene Hegemanns "Bungalow" (Zeit), Andrej Platonows "Tschewengur" (FR), Mario Gmürs "Zitatgedichte" (NZZ), Alexa Hennig von Langes "Kampfsterne" (Berliner Zeitung, Zeit), Claudia Piñeiros "Der Privatsekretär" (FR) und Davit Gabunias "Farben der Nacht" (online nachgereicht von der FAZ).
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Kunst

Susan Silas. "Love in the Ruins - Sex over 50", ab 2003, 12 Fotografien.

Eine "erleuchtende Penisparade" jenseits von Tabuisierung und Zensur erlebt Nadja Verena Marcin auf Hyperallergic bei der Saarbrücker Ausstellung "In the Cut - Der männliche Körper in der Feministischen Kunst" mit Arbeiten unter anderem von Louise Bourgeois, Tracy Emin, Sophie Calle, Susan Silas oder Herlinde Koelbl, die im Gespräch ihr ästhetisches Interesse am erotischen männlichen Körper und ihre Leitfragen erklärt: "'Das Thema Männlichkeit in verschiedenen Variationen - was vertrauen wir, was erlauben wir, was tolerieren wir als Frauen? Unsere eigene Position zur Sexualität ist gegenwärtig. Was wollen wir uns selbst? Was lässt uns spüren, dass wir Männer mögen? Wovor haben wir Angst? Haben wir Angst?'  (…)'A.Williams' (1984) ist ein intimes Bild eines massiven Penis, der mit dicken Schamhaaren geschmückt ist und in einer entblößten, nur mit einem Gürtel gezähmten Jeans lauert. Koelbls Blick bleibt höflich zurückhaltend, aber humorvoll direkt in Bezug auf ihr Thema."

Konsterniert kehrt Sandra Danicke in der FR aus der Frankfurter Schirn zurück, wo der französische Künstler Neil Beloufa Soldaten in Videoinstallationen erzählen lässt: "'Einige haben bereits in diversen Kriegen gekämpft. In Sarajevo zum Beispiel oder im Kosovo. Andere scheinen zu bedauern, dass es noch nie dazu kam. Nach 200 kriegslosen Jahren seien sie 'peace damaged', also vom Frieden beschädigt, findet ein Soldat der schwedischen Armee. Man habe ohne Krieg schlichtweg vergessen, dass man in Form bleiben müsse. Seit der Besetzung der Krim durch Russland gebe es allerdings auch in Schweden häufiger militärische Übungen. Zudem würden drei Stunden Workout pro Woche bezahlt."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat sich Nicola Kuhn im Künstlerhaus Bethanien die Ausstellung "Berlinzulage" mit Berliner Kunst der achtziger Jahre angesehen, die in Bildern und Installationen das Leben in der geteilten Stadt zeigt. In der NZZ verliebt sich Angelika Affentranger-Kirchrath in den "zahmen Fauve" Henri Manguin, dessen impressionistische Bilder von seiner Frau Jeanne derzeit in der Fondation de l'Hermitage in Lausanne ausgestellt werden. Besprochen wird die Roman-Ondak-Retrospektive in der Ostdeutschen Galerie in Regensburg (taz) und Amy Balls Performance "Woman" im Rahmen der Serie "Assemble" im Haus am Lützowplatz (taz).
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Bühne

Beschwingt berichtet Gina Thomas in der FAZ von den britischen Opernfestival in Glyndebourne und in Garsington. Letzteres wartete dieses Jahr erstmals mit der Uraufführung eines Auftragswerkes auf: "Für David Sawers 'The Skating Rink' nach Rory Mullarkeys Bearbeitung des 1993 veröffentlichten magisch-realistischen Roman 'La pista de hielo' des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño hat das Festival auf der Bühne des gläsernen Pavillons, in dem sich Garten und Szenerie einnehmend verschmelzen, sogar eine synthetische Eisbahn eingerichtet, auf der eine Eiskunstläuferin zu träumerischen Klängen Pirouetten dreht. Drei Figuren schildern in ebenso vielen Aufzügen und einer Coda ihre verschiedenen Sichtweisen der Verkettung verhängnisvoller Leidenschaft mit Erpressung, Korruption und Mord an der Costa Brava."
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Musik

Peter Heins und Xao Seffcheques Band Family 5 sind sowas wie das bestgehütetste Geheimnis der westdeutsch geprägten Popkultur, schreibt Ulrich Gutmair im Tagesspiegel und plaudert hemmungslos alles Insiderwissen aus, das ihm zur Verfügung steht. Der Soul Punk zündet auch auf dem neuen Album "Das richtige Leben in Flaschen" noch: Unter anderem wird "Kraftwerks 'Autobahn' in ein Uptempo-Punkstück verwandelt. Es hat die didaktische Aufgabe, zu zeigen, dass Kraftwerk mit den Ramones verwandt sind, erklärt Xao Seffcheque. ... Zusammenfassung: uralte Band, frisches Album. Super Melodien, gut sitzende Rhythmen, grandiose Bläsersätze, Soul Punk. Langsame Stücke und schnelle, sogar ein Tango. Raffinierte Sprecherkonstruktionen, simple Slogans."

Family 5 entdecken auf diesem neuen Album im Zuge ihrer Zusammenarbeit mit Produzent Ekimas ihren Sinn fürs instrumentalisch Barocke, führt Pop-Experte Linus Volkmann im Freitag aus: "Einen Hinweis stellt bereits das Cover dar, ein nerdiger Nach- und Umbau von Beatles' 'Sgt. Pepper's'. ... Beatles-eske Buzzwords: Sitar, Harfe, Viola. Dennoch hat Ekimas stets darauf geachtet, den Songs nichts von ihrer rumpelig hermetischen Punkschönheit zu nehmen. Die Folge ist ein buntes aber dennoch cooles Treiben, deren heimlicher beziehungsweise unheimlicher Star wie so oft die Lyrik von Peter Hein darstellt. Sie schont keinen, wenn sie fragt, was all die eigene rebellische Folklore abseits einer echten Rebellion eigentlich so taugt." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Mit großer Zufriedenheit nimmt Marco Frei in der NZZ zur Kenntnis, dass sich immer mehr ambitionierte Klassik-Musikfestivals gründen. Karl Fluch schreibt im Standard einen Nachruf auf den Gitarristen Spencer P. Jones. Stefan Jacobs (Tagesspiegel) und Wolfgang Sandner (FAZ) gratulieren Jean-Michel Jarre zum 70. Geburtstag, dessen wohl bekanntestes Album "Oxygene" Sandner als "reine ästhetische Sauerstoffzufuhr" bezeichnet:



Besprochen werden das neue Album von Blood Orange (taz, Pitchfork, The Quietus, außerdem bringt Pitchfork Liner Notes), das neue Album der Punkband Idles (taz), ein Konzert der Regierung und der Flowerpornoes (taz), ein Auftritt der Rapperin Young M.A (Tagesspiegel), ein Konzert von King Gizzard & the Lizard Wizard (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Woman Worldwide" von Justice, in den Ohren von ZeitOnline-Kritiker Jan Freitag "ein Brett, das den Mainstream des Pop zünftig mit seinen eigenen Waffen vermöbelt."

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Film

In den Chefetagen der US-Politik spiele sich derzeit ein "Todeskampf" ab, sagt Regisseur Spike Lee im Standard-Gespräch zum Filmstart seiner Farce "BLackkklansman" (unsere Kritik hier): Selbst gestandene Rechtsaußen gehen mittlerweile zu den Geschehnissen im Weißen Haus auf Distanz. Man sollte sich dieser Tage daher unbedingt wieder "The Manchurian Candidate" mit Laurence Harvey ansehen, rät Lee. "Als ordentlicher Filmprofessor in New York habe ich gleich noch eine Empfehlung für Ihre Leser: 'A Face in the Crowd' von Elia Kazan mit Andy Griffith aus dem Jahr 1957. Alles, was man heute erleben kann, ist in diesen Filmen bereits enthalten. Dass ein fremdes Land, ausgerechnet Russland, die US-Präsidentschaftswahl beeinflusst: Faktum. Als mich Anderson Cooper auf CNN unlängst fragte, wie ich über den Präsidenten denke, sagte ich: 'Putin?' Er konnte 30 Sekunden nicht mehr sprechen! Das ist aber kein Märchen, Leute. Der lenkt den Laden."

Ziemlich hin und weg ist Matthias Dell auf SpiegelOnline von Andreas Dresens "Gundermann", bei dem es sich um "einen der reichsten, differenziertesten, tollsten Filme über die DDR" handelt, gerade weil der Film mit seiner Titelfigur von einem "faszinierend widersprüchlichen Typ" erzählt, "den so wohl nur die selbst so widersprüchliche DDR hervorbringen konnte. ... Das größte Ereignis des Films ist dabei Alexander Scheer, der den komischen Vogel 'Gundi' in seiner ganzen Vogelhaftigkeit spielt. Das Spackelige der Figur, die mit hochgezogener Nase, großen Zähnen und unschicken Brillen durchaus stullig in die Welt schaut, gerät nie zur Karikatur, sondern füllt sich mit Eigenleben: Scheer entwickelt eine Kunstfigur, die man irgendwann nicht mehr vom echten Gundermann unterscheiden kann." Für die Berliner Zeitung hat sich Torsten Wahl mit Gundermanns Witwe Conny Gundermann getroffen.

Kracauer-Stipendiat Lukas Foerster philosophiert beim Filmdienst über eine Handbewegung in Leo McCareys Laurel-&-Hardy-Film "Wrong Again": "Wie eine einfache Geste, die für sich selbst schlichtweg gar nichts bedeutet, die keine praktische Funktion hat, die auch nicht Teil eines allgemein akzeptierten Zeichensystems ist, aber dennoch nicht nur zu einem genuinen Medium des Filmischen, sondern sogar zum Mittelpunkt dieses einen Universums werden kann; wie sie zu einer Art symbolischem, epistemologischem Universalschlüssel avanciert, der Sinn herstellt, wo vorher Chaos war (unabhängig davon, ob es um Fragen der Inneneinrichtung oder der Anthropologie geht): Das führt 'Wrong Again' mit spielerischer Leichtigkeit vor." Auf Youtube kann man den Kurzfilm sehen:



Besprochen werden die Serie "Patrick Melrose" mit Benedict Cumberbatch (Freitag), die beiden Justizdramen "Nach dem Urteil" und "Kindeswohl" (Tagesspiegel), eine für Netflix entstandene Buzzfeed-Dokureihe, bei der sich laut taz-Kritiker Daniel Bouhs insbesondere Buzzfeed selbst werblich in den Mittelpunkt rückt, Karim Moussaouis "Warten auf Schwalben" (critic.de, SZ), die Arte-Serie "Elven" (FAZ, FR) und die Serie "The Innocents" (FAZ).
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Architektur

Im Feuilletonaufmacher der SZ hat Laura Weissmüller das von Arno Brandlhuber für die "kreative Elite" Berlins zum Arbeiten und Wohnen entworfene Projekt LoBe im Wedding besucht, das ihr als innovatives, "raues" und "straßenköterartiges" Wohnexperiment erscheint: "Man betritt große Räume nahezu ohne Wände, außer einem Bad und einem Küchenblock aus Beton gibt es vor allem viel Freifläche. Tatsächlich macht nur das Licht Vorgaben. Durch die großen Tiefen im Erdgeschoss und in den unteren Etagen sind diese im Kern relativ dunkel, geeignet etwa, um dort am Computer zu arbeiten. Nach oben hin wird es schmaler und damit wohnlicher, weil dadurch mehr Licht in die Räume fällt."
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Stichwörter: Brandlhuber, Arno