9punkt - Die Debattenrundschau

Private Meinungspolizei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2017. In der NZZ geißelt Jochen Hörisch die um sich greifende Idee, man könne Autor sein, ohne gelesen zu haben.  Auf Spon erklärt Sascha Lobo am Beispiel des Giftgasangriffs in Syrien, wie Social Propaganda funktioniert. Die NZZ beklagt die Feigheit der EU vor Viktor Orban. Selbst Zeitungsverleger können dem neuen Gesetz gegen Hate Speech nichts abgewinnen, meldet der Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2017 finden Sie hier

Ideen

Mit Blick auf Schreib- und Autorenprogramme beklagt der Germanist Jochen Hörisch in der NZZ eine "Epoche allgemeiner Autorschaft", die klassische Lese- und Schreibkompetenzen geradezu "überflüssig" macht: "Man vergisst gerne, dass die verpflichtende Alphabetisierung ein kultureller Sonderweg einer seltsamen Weltecke in einer exzentrischen Epoche ist bzw. war. Heute können, wenn sie denn Zugriff auf Zauberwerke der Ingenieurs- und Informatikerkunst haben, alle lesen und schreiben - paradoxerweise eben auch diejenigen, die nicht lesen und schreiben können. Gemeinsam ist ihnen der Wunsch, nicht nur ein Wort mitzureden, sondern Autoren zu werden, die von der Pflicht dispensiert sind, lesen zu müssen."
Archiv: Ideen

Politik

Wer hat die Einwohner von Khan Scheikhun mit Giftgas bombardiert? Alle Anzeichen weisen auf Assad. Nur der russische Generalmajor Igor Konoschenkow behauptet, die Bomben der Regierungstruppen hätten ein Giftgaslager des IS getroffen, die Terroristen seien also schuld am Tod der Zivilisten. Beweisen muss er das nicht, denn genau so funktioniert Social Propaganda, meint Sascha Lobo auf Spon, als "Angebot von einfachen, gut weitererzählbaren Erklärungen, die auf den ersten, sozialmedialen Blick irgendwie stimmen könnten, die passgenau in den Anschein eingefügt sind, der über soziale Medien entsteht. Dabei ist gar nicht so wichtig, dass Social Propaganda perfekt stimmig ist. Es geht um das erste Gefühl - hmmm, könnte ja wirklich sein."

In Wahrheit gibt es wenig Zweifel an der Urheberschaft Assads, meint Paul-Anton Krüger in der SZ: "So wurde der Stoff nach allen Berichten Stunden vor dem Angriff freigesetzt, von dem Konoschenkow sprach." Nach Beweisen für ihre Behauptung möchten die Russen auch nicht suchen: "Aufklärung könnte eine unabhängige Untersuchung bringen, wie sie die USA, Großbritannien und Frankreich in ihrem Entwurf für eine UN-Resolution fordern. 'Da kann ja eigentlich niemand etwas dagegen haben, wenn sich Moskau seiner Sache sicher ist', sagte ein westlicher Diplomat." Doch wurde die entsprechende UN-Resolution von Russland abgelehnt.

Auch Dominic Johnson hält die russische Version in der taz nicht für glaubwürdig und zitiert den britischen C-Waffenexperten Dan Kaszeta, der in der BBC (und hier) erklärt hatte, das - mit hoher Wahrscheinlichkeit benutzte - Gas Sarin werde in der Regel nur in seinen Komponenten aufbewahrt. "'Selbst unter der Annahme, dass große Mengen der beiden Sarin-Komponenten im gleichen Teil der gleichen Lagerstätte aufbewahrt worden seien - und das wäre eine merkwürdige Praxis -, führt ein Luftschlag nicht zur Entstehung großer Mengen Sarin', so Kaszeta. 'Auf die Komponenten eine Bombe zu werfen, ist nicht der korrekte Mechanismus, um Nervengas herzustellen.'"
Archiv: Politik

Europa

Viktor Orbans Gesetz gegen die Central European University Budapest, das "ein Exempel statuieren will, ist ein ernstzunehmendes Zeichen für den voranschreitenden Aufbau eines autoritären Regimes im Herzen Europas", warnt in der NZZ Shalini Randeria, Rektorin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien sowie Mitglied des CEU-Vereinsvorstands, die nicht begreift, dass die EU so untätig bleibt: "Mit ihrem Widerstand gegen die geplante Gesetzesnovelle haben ironischerweise einige von Orban selbst nominierte Rektoren und Richter mehr Mut bewiesen als die meisten europäischen Regierungen, die seine repressive Politik bis dato entweder schweigend geduldet oder - wie im Falle der Europäischen Volkspartei - sogar verteidigt haben. Nirgendwo gelangen Populisten ohne die Unterstützung konservativer Steigbügelhalter an die Macht."

"Es reicht", meint auch der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde im Freitag an die Adresse der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die Fidesz gehört. "Die Versuche, sich mit Orbán zu arrangieren, sind gescheitert. Sie haben ihn nicht gemäßigt, wie Vertreter der EVP selbst heute noch behaupten. Vielmehr radikalisiert er andere und höhlt immer weiter genau diejenigen Werte aus, für die die EU und die EVP angeblich stehen."
Archiv: Europa

Geschichte

Im Interview mit der FR beschreibt der Historiker Manfred Berg, wie Amerika unter Woodrow Wilson zur aktiven Weltmacht wurde und für eine globale Ordnung kämpfte. Der Blick zurück hält auch Lektionen für heute parat, meint er: "Donald Trump steht für einen neoisolationistischen und protektionistischen Nationalismus, wie ihn Wilsons radikale Kritiker vertraten. Die Zwischenkriegszeit ist ein warnendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Erde ihrer weltpolitischen Verantwortung nicht gerecht wird."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Im Aufmacher des SZ-Feuilletons gehen Jörg Häntzschel und Annette Ramelsberger der Frage nach, ob der frühere Verfassungsschützer Andreas Temme wirklich nichts vom NSU-Mord an Halil Yozgat 2006 in Kassel mitbekommen konnte, wie er behauptet hatte, obwohl er am Tatort war. Ihr Fazit: Möglich wärs.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Auch der umformulierte Entwurf des Gesetzes gegen Hate Speech im Netz wird heftig kritisiert, berichtet Maria Fiedler im Tagesspiegel: Selbst Zeitungsverleger befürchten, dass die Verwaltung der Meinungsfreiheit damit privaten Konzernen überlassen wird: "Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) kritisierte das Gesetzesvorhaben. 'Das läuft auf die staatliche Einsetzung privater Meinungspolizei hinaus', sagte VDZ-Präsident Stephan Holthoff-Pförtner. Auch die Grünen monieren, dass die sozialen Netzwerke in eine Richterrolle gedrängt würden. 'Die sensible Abwägung zwischen Grundrechten gehört zunächst einmal vor Gericht und nicht zwischen Privaten geklärt - sonst drohen Löschorgien wie beim Maas'schen Ansatz', sagte Fraktionsvize Konstantin von Notz dem Tagesspiegel."

Auf zeit online sieht Patrick Beuth auch ein paar positive Folgen dieses Gesetzes: "Die ersten und sichtbarsten wären die 'inländischen Zustellungsbevollmächtigten', also Ansprechpartner für Justiz, Bußgeldbehörden und Betroffene, die alle Anbieter von sozialen Netzwerken nennen müssen. Opfer und Justiz müssten bei ihren Versuchen, gegen Hetze, Bedrohungen und Verleumdungen vorzugehen, nicht länger monatelang (und häufig umsonst) auf Reaktionen eines gesichtslosen US-Mitarbeiters der Unternehmen warten."

Im Interview mit der FAZ dürfen Mathias Döpfner und Dieter Gorny - ohne auch nur von einer kritischen Frage behelligt zu werden - auf einer ganzen Seite Werbung machen für ein europäisches Leistungsschutzrecht für Verlage und andere Verbesserungen des Schutzes ihrer Verwertungsrechte.
Archiv: Medien