Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2006. In der Welt schreibt Niall Ferguson über den kommenden Krieg zwischen Israel und dem Iran. Und Peter Schneider wendet sich keineswegs gegen einen Wissenstest für muslimische Einwanderer, wohl aber gegen einen Gesinnungscheck. In der SZ erzählt Zhang Ziyi, wie sie alle zum Heulen brachte ohne zu weinen. In der taz erklärt Norbert Bolz, wie man zugleich links sein und sich mit Relativismus abfinden kann.

Welt, 17.01.2006

Im Forum blickt der britische Historiker Niall Ferguson aus dem Jahr 2011 zurück auf die Ursachen, die 2007 den Großen Golfkrieg zwischen Iran und Israel auslösten: "Wie in den Dreißigern verfiel der Westen in Wunschdenken. Man glaubte, Ahmadi-Nedschad würde sich nur im Säbelrasseln üben, weil er innenpolitisch schwach war. Vielleicht wollten seine politischen Rivalen im Klerus ihn loswerden. Das letzte, was der Westen in dieser Situation zeigen durfte, dachte man, war Härte, denn das würde nur Ahmadi-Nedschad stärken und den Volkszorn schüren. Also kreuzte man in Washington und London die Finger und hoffte auf einen deus ex machina, so etwas wie einen hausgemachten Regimewechsel."

Im Kulturteil stellt Peter Schneider in Antwort auf eine Polemik Thea Dorns klar, dass seine Ablehnung des baden-württembergischen Fragebogens für muslimische Einwanderungswillige nicht gleichbedeutend ist mit einem Verzicht auf Fragen. Allerdings sucht er nach Alternativen für einen "Gesinnungscheck": "Die im Einbürgerungsgesetz vorgesehenen 'Orientierungskurse' für Einwanderungswillige sollten nicht nur angekündigt, sondern finanziert und durchgeführt werden. Es spricht nichts dagegen, dass Neubürger einen Eid auf die Verfassung schwören - was freilich nur Sinn hat, wenn sie die Verfassung zuvor kennengelernt und verstanden haben. Man kann sich vorstellen, dass diese Kenntnisse in einem vorangehenden Einführungskurs vermittelt und geprüft werden. Eine solche Prüfung wäre kein Gesinnungscheck, sondern ein Wissenstest."

Weitere Artikel: Klaus Völker versucht im Aufmacher zu klären, "wie aus Berlins Akademie der Künste wieder ein lebendiges Haus werden kann". Sven Felix Kellerhoff unterhält sich mit dem Historiker Sönke Neitzel über die jüngst veröffentlichten Protokolle von heimlich abgehörten Gesprächen deutscher Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft. Manuel Brug gratuliert der Schauspielerin Moira Shearer zum Achtzigsten. Eckhard Fuhr stellt eine "Fusion light" für die Kulturstiftungen des Bundes und der Länder in Aussicht.

Besprochen werden Katharina Thalbachs "Bunbury"-Inszenierung in der Komödie am Kurfürstendamm und eine Retrospektive des Fotorealisten Franz Gertsch in Bern.

TAZ, 17.01.2006

Die taz-Kultur startet eine neue Reihe über Bürgerlichkeit. Gibt es sie noch? Oder wieder? Norbert Bolz macht den Anfang: "Jeder Trottel versucht sich heute als Querdenker zu profilieren, um den Komfort des Unbequemseins zu genießen", meint er und plädiert für eine bürgerliche Linke. "Vergesst Einstein! Wer auf der Straße auffällt, hat nichts im Kopf. Viel wäre gewonnen, wenn wir die Buntheit der Moderne nicht mehr im Outfit, sondern im Denken suchen würden. Dass man die Freiheit hat zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht denkt, was man nicht sagen darf. Einigkeit und Gewissheit sind Symptome für Gehirnwäsche. Gerade wer sich als links versteht, das heißt auf Gegenentwürfe zum Bestehenden nicht verzichten will, müsste lernen, zwischen kognitiven Stilen zu wählen. Das bedeutet aber auch, dass man sich mit moralischem wie mit kognitivem Relativismus abfinden muss."

Jony Eisenberg, so darf man vermuten, sieht das ganz anders. Er plädiert in seinen juristischen Betrachtungen für eine Zerschlagung der EU, dieses "Einfallstor der Multis und ihrer Lobbyisten". Anlass ist die Niederlage oberösterreichischer Bauern, die sich vor dem "demokratisch nicht legitimierten" Europäischen Gerichtshof vergeblich gegen die Zulassung genmanipulierter Pflanzen in Oberösterreich gewehrt haben.

Weitere Artikel: Ralf Leonhard berichtet vom überraschenden Ausgang eines Schiedsverfahrens: Die Österreichische Galerie Belvedere muss fünf berühmte Bilder Gustav Klimts als Raubkunst zurückgeben. Dirk Baecker sucht nach einer europäischen Leitkultur und findet sie bei Niklas Luhmann.

Besprochen werden der Kunstband "Bangkok. Heidi Specker. Germaine Krull", die Uraufführung von Anja Hillings Stück "Monsun" an den Münchner Kammerspielen.

Schließlich Tom.

NZZ, 17.01.2006

Hubertus Adam erzählt die Geschichte des Umbaus der alten Rotterdamer Van-Nelle-Fabrik in eine neue "Design Factory". Besprochen werden Händels "Orlando" im Opernhaus Zürich, Brechts "Mutter Courage" in Mailand, die Uraufführung von Klaus Ospalds Violinkonzert in Zürich und Bücher, darunter Matthias Polityckis Roman "Herr der Hörner" und Peter Handkes Reiseblätter "Gestern unterwegs" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 17.01.2006

Kerstin Holm hat einige russische Intellektuelle zu ihren Erwartungen an Angela Merkel befragt. Nicht alle sind optimistisch: "Der Schriftsteller Viktor Jerofejew kann sich gut vorstellen, dass Frau Merkel mit einer gewissen DDR-Reserve auf Russland blickt. Ihre russischen Partner würden ihr aber schnell beibringen, das abzulegen, ist Jerofejew gewiss. Angela Merkel werde rasch lernen, die Zustände in Russland mit einem Lächeln für wunderbar zu erklären wie das schon Schröder tat."

In der letzten Woche stellte die FAZ im Streit zwischen Verlegern und Übersetzern die Position der Verleger dar. Heute antwortet die Übersetzerin Gerlinde Schermer-Rauwolf und zieht die von Hanser-Verleger Michael Krüger genannten Zahlen in Zweifel: "Hätte Michael Krüger wirklich die Zahlen des Verlags auf den Tisch gelegt, wäre zu sehen: Auch wenn sich die Tendenz der jetzigen Rechtsprechung als Regel durchsetzt, werden Übersetzer nur dann gut verdienen, wenn der Verlag bereits sehr gut verdient hat."

Weitere Artikel: Im Aufmacher äußert sich Christian Geyer zustimmend zur Idee, die Schule ein wenig später anfangen zu lassen. Dirk Schümer erheitert sich in der Leitglosse über die Tatsache, dass die Italiener deutsche Urlauber kaum noch ertragen, während die Bevölkerung von Formentera die massiv anrückenden Italiener nicht mehr haben will und sich nach den Deutschen zurücksehnt. Irene Bazinger besuchte die von Katharina Thalbach besorgte und von tout Berlin besuchte "Bunbury"-Inszenierung in der bedrohten Komödie am Kurfürstendamm. Gina Thomas stellt die prächtige Fotozeitschrift C der Verlegerin (und Gattin Norman Fosters) Elena Ochoa vor. Patrick Bahners gratuliert Wolf Jobst Siedler zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite leistet Michael Hanfeld noch einmal detailreich Trauerarbeit über die an den Kartellbehörden gescheiterte Fusion von Springer mit Pro 7 Sat 1.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rosenfelder über eine Selbstverständigung der deutschen Liedermacher-Szene in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Robert von Lucius berichtet von Ereignissen zum hundertsten Todestag Henrik Ibsens. Und Andreas Kilb hat einem Berliner Vortrag des amerikanischen Militärhistorikers Eliot Cohen gelauscht, der den Irak-Krieg zwar befürwortet, die Kriegsführung aber scharf kritisiert.

Besprochen werden der Film "Dark Horse" des Dänen Dagur Kari, ein Konzert des Frankfurter Museumsorchesters unter Matthias Pintscher mit Werken der Zweiten Wiener Schule und Anton Bruckners, Marc Neikrugs Oper "Through Roses" in Frankfurt und neue CDs skandinavischer Bläserensembles.

FR, 17.01.2006

Tom Mustroph trägt einige Beobachtungen zur "schleichenden Akzeptanz" der Überwachungskameras in Gesellschaft und Kunst zusammen. Das war nicht immer so. "Gruppen wie die Surveillance Camera Players legten Karten mit Kamerastandorten an und entwickelten ein Arsenal an Guerilla-Strategien. Kameraaugen wurden mit Laserpointern 'blind' geschossen, Kameramasten zu Maibäumen erklärt, Stadtrundfahrten durch besonders Kamera-verseuchte Viertel angeboten und die anonymen Überwacher durch Performances herausgefordert. Doch verebbten diese Aktivitäten wieder. Nur aus Spaß, nicht aus wirklicher Angst lässt man sich heute von der webbasierten Software Isee den am wenigsten überwachten Weg durch Manhattan zeigen. 'Big Brother' hat seinen Schrecken verloren und ist zum wohl gelittenen Nachbarn geworden."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte strickt an der Legende zur WM-Eröffnungsgala und bemüht berühmte Namen wie Dali und Kracauer, um Andre Hellers abgesagtes Spektakel erinnerungstechnisch zu verankern. Thomas Medicus gratuliert dem Berliner "Verleger, Architektur-, Zeit-, Kulturkritiker und Buchautor" Wolf Jobst Siedler zum 80. Geburtstag. Auf der Medienseite berichtet Daland Segler, dass Springer es nun ablehnt, ProSieben nach oder vor einer eventuellen Übernahme zu verkaufen.

Besprechungen widmen sich Guillaume Bernardis "insgesamt ansprechender" Inszenierung von Marc Neikrugs Holocaust-Kammeroper "Through Roses" an der Frankfurter Oper und der Schau "Female" mit Bildern von Marlene Dumas in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden.

SZ, 17.01.2006

Patrick Roth erfährt von der Schauspielerin Zhang Ziyi, wie herzzerreißend die Dreharbeiten zu dem Film "Memoirs of a Geisha" waren. "Ich erinnere mich an die Szene, in der mir der General seine - wie er sagt - Kimono-Sammlung zeigen will. Die empfand ich als besonders grauenhaft für Sayuri. Ich hatte solches Mitleid mit ihr. Der Regisseur Rob Marshall wollte, dass Sayuri weint. Aber ich sagte: 'Vielleicht ist Sayuri dermaßen verängstigt, dass sie nicht einmal mehr weinen kann. Sie zittert, sie bringt kein Wort, keine Träne mehr raus.' Und so haben wir es dann versucht. Es war furchtbar, ich konnte, als ich die Szene begann, nicht mehr aus der Rolle schlüpfen. Ich bebte am ganzen Körper, auch zwischen den Takes hörte das nicht mehr auf. Meine beiden Assistentinnen, die mir nach jedem Take mit dem Kimono halfen, waren nur noch am Heulen und steckten uns alle damit an."

Alex Rühle erlebt auf einem Symposium in Basel, auf dem der LSD-Erfinder Albert Hofmann geehrt wurde, viel Kult und wenig Wissenschaft: "Albert Hofmann und seine Verehrer, das ist ein heftiger clash of civilizations. Als Hofmann vor einigen Jahren als Gast der Schweizerischen Rundfunks in die Sendung 'Musik für einen Gast' geladen wurde, hatte er ausnahmslos Mozartkompositionen dabei. Im Basler Kongresszentrum sind zu hören: Schamanentrommeln; ein wässriger Aufguss von Keith Jarrett, vorgetragen von einem Heidelberger Chefarzt, der 'damit die Elemente Erde und Luft zum Ausdruck bringen möchte'; und heftige Undergroundmusik aus den Sechzigern."

Weiteres: In einem Artikel, der vor einer Woche im englischen Literaturmagazin Granta erschienen ist (und den wir in die erste Magazinrundschau des Jahres aufgenommen haben), gibt der kenianische Autor Binyavanga Wainaina bissige Tipps für Afrikaliteraten: "Beenden Sie Ihr Buch mit einem Nelson-Mandela-Zitat, am besten mit irgendetwas über Regenbögen oder Wiedergeburt." Als Norbert Lammert die Berliner Philharmoniker dirigieren durfte, hat er sich einen ungarischen Tanz ausgesucht, erzählt Jörg Königsdorf, der es sich nicht verkneifen kann, diese Wahl mit der Leitkultur zu verknüpfen. Gustav Seibt gratuliert dem "fabelhaft eleganten" Verleger Wolf Jobst Siedler zum 80. Geburtstag und seiner "vorbildlichen Grandezza". Matthias Bickenbach bemerkt bei einer Tagung an der Bielefelder Universität über "Orient-Diskurse in der deutschen Literatur von Mittelalter bis zur Gegenwart", dass der Orient immer schon da war. Evelyn Roll gönnt sich eine "Zwischenzeit" mit Sudoku-Rätseln.

Online gemeldet wird, dass Ang Lees "Brokeback Mountain" vier Golden Globes (hier leider nur die Nominierten) gewonnen hat und damit als Favorit in die Oskarverleihung geht. Auf der Medienseite porträtiert Senta Krasser die Merkel-Stimmenimitatorin Anne Onken, die die Radio-Comedysendung "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" (Hörbeispiele) spricht. Wilhelm von Humboldt wollte einen Atlas der Sprachen erstellen, hat Jens Bisky auf einer Tagung der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften erfahren, die in den nächsten Jahren Humboldts "Schriften zur Sprachwissenschaft" in 20 Bänden herausgeben will.

Besprochen werden Alize Zandwijks "kunterbunte" aber "verwackelte" Inszenierung von Maxim Gorkis "Sommergästen" am Hamburger Thalia-Theater, Jens Daniel Herzogs Version von Händels "Orlando" unter William Christie in Zürich (Fast hätte Herzog den Schritt "vom Abend des guten Geschmacks zum bedrückenden und berührenden Psychotheater geschafft", lobt Michael Struck-Schloen.), Dietmar Pflegerls Erstinszenierung von Peter Turrinis Heimatstück "Bei Einbruch der Dunkelheit" in Klagenfurt, Billy Wilders Film und nun SZ-Klassiker "Küss mich, Dummkopf " aus dem Jahr 1964, drei neue DVDS - "Ladykillers", von Alexander Mackendrick, "Criminal" von Gregory Jacobs und "Arsene Lupin" von Jean-Paul Salome - und Bücher, darunter Edmund S. Morgans "leichtfüßige" Biografie über "Benjamin Franklin", Arno Orzesseks "verschwenderisch erzählter" Familienroman "Schattauers Tochter" sowie Hans Küngs Gedanken zum "Anfang aller Dinge" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).