Efeu - Die Kulturrundschau

Wenn man die Hölle gesehen hat

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09.10.2020. Vor einigen Jahren fragten englischsprachige Medien leicht konsterniert: Elfriede who? als der Literaturnobelpreis an Jelinek ging. In diesem Jahr blickt die Welt überrascht auf eine amerikanische Dichterin, die kaum ein Mensch hierzulande kennt: Louise Glück hat den Literaturnobelpreis 2020 erhalten - und damit eine höchst formbewusste Dichterin, die Literatur nicht für Politik instrumentalisiert, freut sich die FAZ. Verrat, ruft die NYRB angesichts des Zumthor-Neubaus für das Kunstmuseum in LA, das nicht nur kleiner, sondern auch viel elitärer sei als das alte. Die taz huldigt der Soft Power von Elektropop-Musikerin Maria Minerva.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.10.2020 finden Sie hier

Literatur

Louise Glück, ca. 1977. Foto: Von einem unbekannten Fotografen, poetrycenter.org. Public Domain


Mit erbitterten Kontroversen wie letztes Jahr beim Literaturnobelpreis für Peter Handke ist in diesem Jahr mit der Auszeichnung für die amerikanische Lyrikerin Louise Glück wohl nicht zu rechnen. Dafür hat mancher Kritiker vielleicht ganz andere Probleme mit ihr, die Alexander Gorkow und Willi Winkler mit einer satirischen SZ-Glosse zumindest in der Überschrift auf den Punkt bringen: "Louise wer?" Auch sich schnell mal einlesen wird schwierig: In Deutschland sind ihre Bücher - viele davon wurden eh nicht übersetzt - kaum aufzutreiben. Entsprechend schmal ist die Zahl an Glück-Experten, glaubt Tobias Lehmkuhl in der SZ, der mit der Entscheidung der Schwedischen Akademie sichtlich unzufrieden ist. Dass die amerikanischen Kritiker Glück für ihre "massenkompatiblen Gedichte" schätzen, ist für Lehmkuhl, der den Nobelpreis viel lieber bei Annie Ernaux oder David Grossman gesehen hätte, "ein zumindest mal zweifelhaftes Lob. ... Die literarischen Werte, das muss man wieder einmal so sehen, wurden mit dieser Preisentscheidung mit Füßen getreten. Denn blättert man in 'Wilde Iris', herrscht allerorten höchster Kitschalarm: 'depressiv ja, aber doch leidenschaftlich/ dem lebendigen Baum zugetan, mein Körper/ sogar in den gespaltenen Stamm geschmiegt, beinah friedvoll, im Abendregen/ beinah fähig zu fühlen,/ wie Saft schäumt und steigt.' Manch einem steigt da die Galle hoch."

Ja, "ihre Gedichte sind privat, ziehen ihren Reiz oft aus Naturbeobachtungen und Überlegungen zur Sterblichkeit", kommentiert Andreas Platthaus in der FAZ, erteilt Lehmkuhls Kritik aber eine klare Absage: "Ihre Qualität ist unbestreitbar. ... Gerade dass sie eine so persönliche und dabei höchst formbewusste Dichterin ist, macht die Auszeichnung mit dem Nobelpreis doch zu einem starken Signal in diesem Jahr der amerikanischen Prüfungen - gegen eine rein politische Inanspruchnahme von Literatur und für die Selbstversicherung, die uns dadurch verschafft wird, dass wir uns beim Lesen daran erinnern, was eine Gesellschaft auch verbindet: das Bedürfnis nach Schönheit, die Freude am Leben und das Unvergängliche von Kultur."

Dietmar Dath von der FAZ ist im Lyrikglück bei dieser Auszeichnung für eine Dichterin, die in ihren Gedichten mit der Auffassung spielt, dass Frauen quasi von Natur aus Naturwesen seien: Sie "liebt dezente Irreführungen auf diesem Glatteis und spricht daher mit der Natur oft vertraulicher als mit dem lesenden menschlichen Gegenüber. Im Gedicht 'Sunset', das, umgeben von vielfältigen irdisch-kosmischen Übungen mit Titeln, die heraufziehende Stürme, Mittagsstimmungen und Zwielicht versprechen, den Band 'A Village Life' (2009) regiert, erlaubt Glück der Majestät Sonne königlich-geschwisterlich, so von Sprachmacht zu Gestirn, das Untergehen: 'So it can set now.' Im ersten Schnee legt sie ein andermal die ganze Welt schlafen, obwohl diese wie ein quengeliges Kind noch wach bleiben will."

Mancher deutsche Feuilletonist mag schmollen, dass er sich nun nicht als Experte in Szene setzen kann. Aber in den USA ist für Leute, die sich mit Lyrik beschäftigen, an Glück seit Jahrzehnten schlicht kein Vorbeikommen, sie ist dort quasi die Instanz der Lyrik schlechthin, schreibt Christina Dongowski in der taz (Hannes Stein sieht das in der Welt völlig anders). Freuen kann sich Dongowski über diese Auszeichnung allerdings nicht recht, weil sie an eine Weiße geht. Große Freude empfindet dagegen Julius Greve von ZeitOnline: So weltabgewandt seien Glücks Naturanschauungen und -verschmelzungen gar nicht. Bemerkenswert findet er, wie die Dichterin "in gewissem Sinne die momentane Stimmung (nicht nur) amerikanischer Existenznöte und -freuden menschlicher Individuen einfängt sowie manchmal nicht-menschlicher Individuen, wie in 'The Wild Iris', in dem Blumen zum lyrischen Ich sprechen. ... Die direkte, klare Sprache der langjährigen Universitätsprofessorin ist allerdings zu keinem Zeitpunkt mit einer bloßen Tagebuchdichtung zu verwechseln, wie die komplexen Verästelungen von persönlicher Reflexion und mythologischen Bezügen auf antike Gestalten (wie Persephone in ihrem Werk 'Averno') bezeugen."

Es geht Glück um elementare Fragen, schreibt Jürgen Brôcan in der NZZ: "Wie sind Kälte, Hässlichkeit, Vergänglichkeit zu ertragen? Wie kann man leben, wenn man die Hölle gesehen hat? Diese Fragen trägt Louise Glück in einer einfachen, klaren, schnörkellosen Sprache vor, lyrisch aufgeladen, ohne Pathos, manchmal allzu schmerzhaft subjektiv, doch zeigt sich gerade hierin die Stärke ihrer Gedichte: dass sie im gleichen Atemzug robust und verletzlich sind."

Eine, die Glück definitiv gelesen hat, ist ihre Übersetzerin Ulrike Draesner. Der Preis geht an eine Autorin, deren Gedichte sehr aktuell sind, sagt sie dem Tagesspiegel, etwa darin "wie sie Natur beschreibt oder den weiblichen Körper, wie sie eine Rückbindung an wesentliche Mythen unserer Kultur sucht. ... In diesen Gedichten gerät man als Leserin in immer tiefere Schichten und macht eine abenteuerliche Reise in die Innenwelt von Menschen, weil sich in Louise Glücks Versen Hautschicht um Hautschicht löst." Im FAZ-Gespräch weist sie auf weitere Aspekte hin, etwa: "Welche Lyrik sollen Frauen schreiben? Glück nimmt zum Beispiel das romantische Blumengedicht auf - und kehrt es vollkommen um."

Äußerst überrascht zeigt sich die das Licht der Öffentlichkeit eher scheuende Lyrikerin im Gespräch mit der New York Times. Über ihre Art des Schreibens erzählt sie: "Jeder, der schreibt, zieht Nahrung und Treibstoff aus den frühesten Erinnerungen und den Dingen, die einen in der Kindheit verändert, berührt oder in Schrecken versetzt haben. Meine weitblickenden Eltern lasen mir die griechischen Mythen vor und als ich selber lesen konnte, las ich sie weiter. Die Götter und Helden darin waren mir lebendiger als die anderen kleinen Kinder aus der Nachbarschaft auf Long Island. Es ist nicht so, als hätte ich mir da später im Leben etwas angeeignet, um meiner Arbeit den Lack der Gelehrsamkeit zu verleihen. Das sind die Geschichten, die mir abends am Bett erzählt wurden. Und gewisse Geschichten hallten in mir ganz besonders wieder. Vor allem Persephone, über die ich in den letzten 50 Jahren immer wieder geschrieben habe. Und ich denke, so wie viele ambitionierte Mädchen war auch ich in Kämpfen mit meiner Mutter verfangen. Ich glaube, dieser ganz besondere Mythos verlieh diesen Kämpfen einen neuen Aspekt."

Günter de Bruyn bei der Berliner Begegnung zur Friedensförderung (1981). Foto:
Bundesarchiv / Gabriele Senft, unter CC-Lizenz
Der Schriftsteller Günter de Bruyn ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Als 17-Jähriger kehrte er mit einer schweren Kopfverletzung aus dem Krieg zurück. Und als die Mauer gebaut wurde blieb er, wo er war: in Ostberlin. "Ganz selbstverständlich begriff Günter de Bruyn die Literatur als ein geschütztes Rückzugsgebiet, vor allem indes als einen Ort der intimen Selbstvergewisserung. Mit Karl May, so sagte einmal Günter de Bruyn, habe er zu lesen gelernt; bei Heinrich Böll aber habe er den Zusammenhang verstanden zwischen Erfahrungen und Büchern. Empirie und Imagination: Das waren fortan die beiden Pole, zwischen denen sich sein Schaffen entfaltete. Er wurde zum Poeten seiner Lebenswelt", schreibt Roman Bucheli in der NZZ. Weitere Nachrufe von Gustav Seibt (SZ), Christian Schröder (Tsp) und Tilman Spreckelsen (FAZ).

Außerdem: Der Freitag spricht mit Alexander Kühne über dessen neuen Roman "Kummer im Westen". Besprochen werden unter anderem James Sturms Comic "Ausnahmezustand" (Tagesspiegel), Michael Kleebergs "Glücksritter" (Freitag), Anne Carsons Lyrikband "Irdischer Durst" (Freitag), Anna Prizkaus "Fast ein neues Leben" (SZ) und eine Ausstellung über "Utopien und Apokalysen" im Wiener Literaturmuseum (Standard).
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Bühne

Michael Stallknecht ist in der NZZ noch ganz berauscht von der Uraufführung der unbekannten Erstfassung der "Aida", die Riccardo Chailly jetzt in der Scala dirigierte. Das man sie erst jetzt hören kann, liegt am Urheberrecht, erklärt er: "Weil Verdi seine gesamten Skizzen nach dem Tod verbrannt sehen wollte, wurden sie von den Erben über ein Jahrhundert lang in seinem ehemaligen Landhaus Sant'Agata vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen. Nicht nur unter wissenschaftlichen Kriterien durfte das als wenig sachgemäße Lagerung gelten, auch Staat und Öffentlichkeit erhoben immer wieder Anspruch auf Zugang zum Nachlass des wichtigsten italienischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts. 2017 enteignete deshalb der Kulturminister die Nachkommen von Verdis Adoptivtochter ... Verdi-Forscher wähnen sich seit einem Jahr in Parma wie im Paradies: Sie können zahllose bisher unbekannte Vorstadien von Verdis Werken studieren.

Weiteres: In der nachtkritik-Reihe "30 Jahre Vereinigung" fragt sich die Regisseurin Juliane Kann: Ist das Theater gentrifiziert? der Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt die Schauspielerin und Aktivistin Lisa Jopt, warum sie als Gewerkschaftspräsidentin kandidiert. Ebenfalls in der Berliner Zeitung gratuliert Elena Philipp den Ufer-Tanzstudios an der Panke zum 10-jährigen Jubiläum. Besprochen wird Marco Goeckes Tanz-Hommage an George Gershwin im Stuttgarter Theaterhaus (SZ).
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Film

Andreas Busche erkundigt sich bei Vertretern der Filmverleiher nach der akuten momentanen Kinokrise. Dass bei der Constantin gerade die Sektkorken knallen, weil die großen US-Blockbuster sich ins nächste Jahr zu retten versuchen (unser Resümee), kann Leila Hamid von X-Filme nicht ganz nachvollziehen: "Da viele Blockbuster verschoben werden, fehlt den Kinos die große Aufmerksamkeit. Und im Arthouse-Bereich ist die Konkurrenz immer noch relativ hoch. Wir hören von Kinobetreibern, dass sie Besucher wegschicken müssen, weil aufgrund der Mindestabstände die Auslastung der Säle reduziert ist."

Besprochen werden Bertrand Bonellos "Zombi Child" (Perlentaucher, Zeit, Freitag), Therese Koppes Dokumentarfilm "Im Stillen laut" (Perlentaucher), Ines Johnson-Spains vom ZDF online gestellter Essayfilm "Becoming Black" über ihre Kindheit als schwarze Tochter weißer Eltern (ZeitOnline), Todd Haynes' "Vergiftete Wahrheit" (Tagesspiegel, Standard), Shannon Murphys "Milla meets Moses" (SZ, taz, Tagesspiegel), Sang-ho Yeons Zombiefilm "Peninsula" (Berliner Zeitung) und die dänische Serie "Killing Mike" (taz).
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Musik

Für die Berliner Zeitung plaudert Nadja Dilger mit Markus Kavka über Depeche Mode. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über Sillys DDR-Popsong "Schloßweißer Tag". Lars Fleischmann bespricht in der taz Maria Minervas neues Album "Soft Power", das diesen chaotischen Zeiten "so schöne Momente wie diese schlichte elektronische Popmusik" beschert:

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Stichwörter: Popmusik, Depeche Mode

Kunst

Das neue LACMA von Peter Zumthor. Foto: Zumthor & Partner


Das ist ein Verrat an der Öffentlichkeit, ruft Joseph Giovannini in der NYRB angesichts der Bulldozer, die im Mai Teile des LACMA, des Los Angeles County Museum of Art, abgerissen haben. Angeordnet hat die Aktion Museumsdirektor Michael Govan, der das Museum deutlich verkleinern will: "Er vertritt eine populäre post-strukturalistische Position gegen allzu direktive Museen, die kritisiert wurden, weil sie hierarchische Erzählungen aufzwingen, die Frauen, Minderheitengruppen und vom Mainstream marginalisierte Kulturen unterdrücken", erklärt Giovannini, der nicht versteht, wie das mit einer Verkleinerung des Museums korrigiert werden kann, die den größten Teil der Sammlung ins Depot verbannt. An die Stelle der abgerissenen Gebäude entsteht ein - deutlich kleinerer - Neubau von Peter Zumthor (Fotos bei Designboom). Und damit wird das Gerede von der Inklusion vollends absurd: "Der Zumthor-Entwurf ... ist kein guter Nachbar. Dieser Agent der städtischen Wüstenbildung schwebt dreißig Fuß über riesigen, sonnenverbrannten Plätzen und schafft toten Raum, statt den Boden zu berühren und sich in der Stadtlandschaft zu verwurzeln. Als ästhetische Trophäe will das Museum allein stehen, auch wenn ein Gebäude und eine Institution dieser Größenordnung als Katalysator eine vielfältige Kultur in der Stadt fördern könnte. So, wie es entworfen wurde, hat es keinen Bezug zu dem Boulevard und der Nachbarschaft, die es gebieterisch kolonisiert. Isoliert in einem Luftgraben, mit unwirtlichen Freiflächen unter dem Betonbauch, ist das elitäre Gebäude ganz piano nobile. Die Museumsbesucher blicken auf die Passanten herab, und die Passanten müssen nach oben schauen. Die distanzierte Haltung kodiert die ausschließende soziale Hierarchie, die Govan angeblich verbannen wollte."

Außerdem: Nancy Spector tritt zurück als künstlerische Leiterin des Guggenheim Museums, nachdem sie von der Kuratorin Chaédria LaBouvier des Rassismus beschuldigt worden war, meldet Valentina Di Liscia in Hyperallergic. "The resignation comes in the wake of mounting pressure from a group of current and former workers known as 'A Better Guggenheim', which recently called for the removal of the museum's top three executives - Spector; Director Richard Armstrong; and Senior Deputy Director and Chief Operating Officer Elizabeth Duggal. Earlier this summer, the group released a letter to the board demanding concrete steps to 'dismantle the systemic racism' at the museum. The letter centered the experience of Chaédria LaBouvier, who curated the 2019 exhibition 'Basquiat's 'Defacement': The Untold Story'. LaBouvier has accused Spector of excluding her from key aspects of the exhibition planning and taking credit for her work. 'Working at the Guggenheim w/ Nancy Spector & the leadership was the most racist professional experience of my life,' she said in a tweet." Das Museum selbst fand nach einer gründlichen Untersuchung keinen Hinweis auf eine rassistische Behandlung LaBouviers. Doch sehe man selbst kritisch den Mangel an Diversität beim Museumspersonal, so Di Liscia. Da hilft es bestimmt, wenn als erstes eine Frau gehen muss!

Weiteres: "Deutsche Bank verkauft schon wieder Kunst aus ihrer Sammlung", meldet die Welt. 200 Werke sollen es diesmal sein und unheimlich soll es diesmal auch nicht geschehen. Besprochen werden eine Ausstellung der Meisterschüler_innen der niedersächsischen Kunsthochschule im Kunstverein Braunschweig (taz), die Ausstellung "Berlin 1945-2000: A Photographic Subject" in den Berliner Reinbeckhallen (taz), die Ausstellung "We Never Sleep" in der Frankfurter Schirn (SZ) und eine Ausstellung der Berlin-Fotos von Robert Capa im Centrum Judaicum (FAZ).
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