Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
22.04.2004. Christa Wolfs Tagebuch, Marc Fumarolis Plädoyer für den Politiker Chateaubriand, Newtons große Nackte, Gartenbücher und ein Band über die kriminellen Deutschen.
Ein Halluzinogen

Es ist ein einmaliges Buch. 1960 rief die Moskauer Zeitung Iswestija die Schriftsteller der Welt auf, sie mögen alle einen Tag des Jahres, nämlich den 27. September so genau wie möglich beschreiben. Christa Wolf tat es. Vierzig Jahre lang. "Ein Tag im Jahr" sammelt auf fast 630 Seiten diese Aufzeichnungen. Es gibt keine vergleichbare Chronik der letzten vierzig Jahre. Jeder Leser wird die Schilderungen von Christa Wolf zu seinen Erinnerungen in Beziehung setzen. Christa Wolfs Notizen mobilisieren sein eigenes Gedächtnis. Er erinnert sich, wie sehr auch ihn Moshe Feldenkrais' "Bewusstheit durch Bewegung" (mehr) beeindruckte. Wenn er ein paar Jahre später liest, dass Christa Wolf "Feldenkrais-Exerzitien" macht, dann bewundert er die Kraft, mit der sie versucht, das für richtig Erkannte auch zu tun. Man kann, hat man ein bestimmtes Alter erreicht, "Ein Tag im Jahr" nicht lesen ohne sich dazu in Bezug zu setzen. Zu sehr ist es ein Buch über unser Leben. So anders das Leben der Christa Wolf auch gewesen sein mag als das ihrer Leser. Es sind dieselben Jahre und das übt einen eigenartigen Zauber aus. Identifikation und energische Markierung der Differenz lösen einander ab. Es gibt fast keine Seite, die den Leser ruhig lässt. Er ist zu sehr involviert. Woran Christa Wolf erinnert, beschämt den vergesslichen Leser. Was er bei ihr vermisst, wird dem Leser zu einer wichtigen Spur seiner eigenen Existenz.

Aber neben diesem die Lektüre bestimmenden Grundton gibt es die Themen, die den Leser gefangen nehmen. Da ist gleich vom ersten Jahr an - einen Monat nach dem Mauerbau - die schärfste Kritik an der DDR, die tiefgehende Enttäuschung an dem Staat, den sie gewollt und gestützt hat und die Reflexion darüber, dass sie doch bleiben muss. Um das Bessere zu ermöglichen, um dem weniger Schlimmen aufzuhelfen oder dann später nur noch, weil sie glaubt, es den Freunden, den Lesern schuldig zu sein: "denn hier werde ich gebraucht".

Die Grundspannung bleibt all die Jahre dieselbe. Sie wird nie gelöst. Sie wird gelebt, bedacht, beschrieben und erzählt. In immer neuen Gestalten. Vom "Geteilten Himmel" über "Kassandra" bis "Was bleibt?" 1979 notiert Christa Wolf: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten. Aber das wäre natürlich woanders genau so. - Nicht ganz, sagt er. Woanders würde es dich nichts angehen. - also eine Selbsttäuschung. - Ja. Aber woher eigentlich diese unauflösbare Identifizierung mit diesem Land. Warum wird man die nie los. - Ich sage, wenn sie es hätten loswerden können, wären Sarah Kirsch und Günter Kunert nicht gegangen. Das ist es eigentlich, wovor sie fliehen mussten. Und ich werde mich immer an den Augenblick erinnern - Es war nach der Biermann-Ausbürgerung, es war in Ungarn, im Bus von Hevis zum Flughafen, als ich mir versprach: Wenn ich mich frei machen und weiter schreiben kann, ganz unabhängig, kann ich hier bleiben; wenn nicht, muss ich gehen."

Es sind Passagen wie diese, die einem die Augen öffnen für das, was Freiheit ist, wenn sie nur die des Urteils sein kann. Man kommt freilich auch auf den Gedanken, dass man vielleicht nicht alle Freiheiten gleichzeitig haben kann, nicht aus moralischen Gründen, sondern dass man aus ebenso unumstößlichen Gründen nicht gleichzeitig die Freiheit des Handelns wie die des Urteilens und die des Beschreibens haben kann, wie es unmöglich ist, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens zu messen. Die von unserer Alltagserfahrung vielfältig gestützte Vorstellung, der handelnde, der sich also in seiner Praxis erfahrende Mensch, sei der, der sich eine klarere Kenntnis seiner Welt und seiner Selbst anzueignen in der Lage wäre, gilt vielleicht nur auf einem bestimmten Niveau unserer Erkenntnis. Auf anderen Ebenen aber verhindert die Fähigkeit zu Handeln gerade die zur Erkenntnis. Auch dafür fehlt es ja nicht an Beispielen, auch allerjüngsten aus Wirtschaft und Politik.

Jeder Leser wird "Ein Tag im Jahr" immer wieder aus der Hand legen, um solchen Tagträumereien nachzuhängen. Wer davor erschrickt, der wird keine zehn Seiten des Buches lesen können, wer dagegen für diese Art von Droge auch nur ein wenig empfindlich ist, der wird dem Buch verfallen. "Ein Tag im Jahr" ist ein stark wirksames Halluzinogen. Wie alle derartigen Substanzen bewirkt es, dass wir die Welt, nachdem wir sie genossen haben, anders wahrnehmen. "Ein Tag im Jahr" lässt einen anders als viele andere Halluzinogene nicht vergessen, wie arm man ohne es war, und gerade diese Erinnerung beflügelt die Einbildungskraft und macht einem Mut, weiter zu denken, selber zu denken. So sehr die Autorin sich ausliefert und so sehr das Regime der schwarzen Galle hinter jeder Zeile zu drohen scheint, so sehr immer wieder der Generalbass aller Melancholie - die Antriebslosigkeit - aufklingt, so sehr mobilisiert dieses Buch gerade dadurch die Lebenskräfte des Lesers, seinen kindlichen Assoziationsdrang, seine Einfallslust. "Ein Tag im Jahr" ist gerade durch seinen Ernst, durch die Nähe zum Schmerz ein heiteres, ein erheiterndes Buch.

Und es gibt Sätze darin! Noch ganze Generationen werden ihre Notizbücher und - es wird sie sicher wieder einmal geben - Poesiealben damit füllen: "Das Plenum hat entschieden: Die Realität wird abgeschafft." Das hat Christa Wolf zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 notiert. Wer Herrn Weltekes langen Abschied vom Amt beobachtete, dem wurde klar, dass man dasselbe von einem Aufsichtsrat sagen kann. Institutionen, die uns helfen sollen beim Umgang mit der Welt, neigen dazu, uns den Blick auf sie zu verstellen. Mein Lieblingssatz aber lautet: "Politik machen, was soviel heißt wie: Gewalt verteilen." Soviel Carl Schmitt hat niemand bei Christa Wolf vermutet. Daneben gibt es Äußerungen, deren Zartheit so beschaffen ist, dass sie einem über Stunden weiterhilft: "Ich wusste auch, noch während ich auf meinem bequemen Kinosessel mir vornahm, klare, mutige Handlungen nicht zu meiden, sondern zu suchen, dass ich diesen Vorsatz nicht ausführen werde, dass ich nicht frei bin zu tun, was ich will, nicht einmal zu wollen, was ich will: das ist eigentlich 'Altern', das zu wissen und doch weiterzuleben und Freude und Genuss zu suchen und zu finden."

Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr - 1960 - 2000". Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 695 Seiten, gebunden, 25 Euro. ISBN 3-630-87149-6.


Poesie

Der erste Satz des neuesten Buches von Marc Fumaroli lautet: "Das ist keine Biografie Chateaubriands". Er hat Recht, und dennoch liest man seine große Abhandlung über - so der Untertitel - "Poesie et Terreur" gespannt wie man sonst nur eine Biografie verschlingt. Der große Romancier der französischen Romantik, der vielgeschmähte Reaktionär, Marc Fumaroli unternimmt den Versuch, ihn als den Propagandisten eines monarchistischen Rechtsstaates vor zu stellen. Der glühende Rousseauverehrer Chateaubriand hat den Terror der Jakobiner erlebt. Seine politischen und seine ästhetischen Ansichten basieren auf dieser Erfahrung. Nach Auschwitz kein Gedicht mehr, nach dem Terror die Romantik.

Wer hier Fumarolis Plädoyer für den Politiker Chateaubriand liest, reibt sich die Augen. Die Fronten verlaufen in Deutschland ganz anders. Golo Manns großer Essay über das 19. Jahrhundert - in der von ihm mitherausgegebenen Propyläenweltgeschichte - begann mit einer Hymne auf Chateaubriand. Friedrich Sieburgs biografische Skizze ist mit nicht zu übersehender Sympathie geschrieben. In Deutschland wäre ein Plädoyer für Chateaubriands Pathos eine viel interessantere Aufgabe als das für seinen durch sein Eintreten für eine Konstitution gemilderten Monarchismus. Der hohe Ton, in dem Chateaubriand sich an sich und an sein Publikum wandte, scheint dem Akademiemitglied Marc Fumaroli und den Lesern, für die er schreibt, ganz und gar unproblematisch. So unermüdlich Fumaroli die Rolle der Erfahrung des jakobinischen Terrors für die Entstehung des Schriftstellers Chateaubriand betont, so wenig geht er doch ein auf diese Auffälligkeit, dass dem größten Grauen durch den edelsten Aufschwung beigekommen werden soll.

Manes Sperber, auch ein Autor, der ohne die Erfahrung der Vernichtung wohl keiner geworden wäre, auch ein Autor, bei dem Erzählung und Reflektion ununterscheidbar zusammengehen, hat doch aus dem Holocaust ganz andere Schlüsse gezogen als Chateaubriand sie aus dem Vorhaben, einige Klassen aus der französischen Gesellschaft und aus dem Leben zu werfen, gezogen hatte. Es ist schade, dass ein Mann von dem Wissen und der Gefühlsstärke Fumarolis das Thema "Poesie et Terreur" nur stellt, statt es in einer Analyse der Texte Chateaubriands zu entfalten. Aber vielleicht öffnet "Chateaubriand - Poesie et Terreur" ja anderen die Augen und ermuntert sie nachzudenken über das, was die Dichter aus der Bedrohung machen und über das, was wir mit den Dichtern machen.

Marc Fumaroli: "Chateaubriand - Poesie et Terreur", Editions de Fallois, Paris 2003, 799 Seiten, 27 Euro. ISBN 2-87706-483-2.


Newtons Moderne

Er war mutig. Allerdings wahrscheinlich aus einem einfachen Grunde: Er konnte nicht anders. Wer heute Helmut Newtons "Big Nudes" betrachtet, jene 1980 entstandene Serie 135 cm großer Frauenakte vor weißem Hintergrund in grellem Studiolicht, dem fällt es leicht, sich an die Faszination und die Angst zu erinnern, die die Fotos damals auslösten. Sie tun es immer noch. Man reagiert nur nicht mehr voller Aggression auf die eigene Faszination. Inzwischen darf man sie haben. Auch dank Helmut Newton. Damals hielten viele seine Fotos für fantastische Verzerrungen. Inzwischen gibt es Frauen, die von Natur so aussehen, wie Helmut Newton sie sich im Studio für diese Aufnahmen gestreckt hatte. Man betrachte sich nur Big Nude I und man sieht, wie fleischig und lebendig die Künstlichkeit dieser Fantasiegestalt war im Vergleich zur stockigen Länglichkeit etwa einer Nadja Auermann. Newton hat einen Anstoß gegeben, den die Natur selbst aufnahm.

Big Nude I war auch eine Beschwörung der Nazischönheit. Nur Newton hatte den Mut, das Schönheitsideal der Nazis einer neuen Generation zu empfehlen. Man kann die große Blonde, die ihren Zopf um die Stirn gelegt hat, nicht betrachten, ohne an Schamhaar-Ziegler zu denken. Wenn man aber nach einem unmittelbaren NS-Bezug sucht, dann stößt man auf die Frauenakte Ivo Saligers. Vor allem auf die eine Begleiterin der Göttin in "Die Rast der Diana", die Newton vor Augen gestanden haben könnte. Aber ebenso auffällig wie die Ähnlichkeiten sind die Unterschiede. Karl Lagerfeld, der in seinem "Nordfleisch" betitelten Vorwort die Kälte der Newtonschen Fotos betont, versucht ihn dadurch abzurücken von der Nazi-Ästhetik. Wer aber ein wenig die Nazi-Auseinandersetzungen um das Heroische gegen das Sentimentale kennt, der wird in Big Nude I die Auferstehung einer Nazi-Kriemhild sehen können.

Er liegt damit sicher nicht falsch. Ganz und gar falsch liegt er freilich, wenn er glaubt, damit sei das letzte Wort über Newtons Kunst gesprochen. Die Differenz zur Nazi-Kunst liegt allerdings nicht im Selbstbewusstsein von Newtons Heldinnen, auch nicht in ihrem Chic. Eher schon darin, dass sie so deutlich einer Kultur des Konsums entsprungen sind, einer Menschheit, die gelernt hat, auch die intimsten Körperteile mit distanziertem Blick abzuschmecken auf ihre Weiterverwertbarkeit. Aber zeichnet nicht gerade das - blickt man heute auf sie - auch die Kunst der Saligers und Zieglers aus? Den Unterschied zu markieren fällt schwer. Nicht zuletzt darum, weil wir heute, durch Newton belehrt, die Nazikunst als einen Teil der Moderne zu betrachten beginnen. Es gehörte Mut dazu, so weit man selbst zu sein, das Ideal, das man als Kind aufgenommen hatte, als Erwachsener, zu einem Zeitpunkt, da niemand daran erinnert zu werden wünschte, neu zu formulieren, es verändert einer veränderten Zeit wieder vorstellen zu können. Newton hatte diese Autonomie, diesen Mut. Wer ihm das abgucken könnte!

Helmut Newton: "Big Nudes". Schirmer/Mosel, München 2004. Mit einem Text von Karl Lagerfeld, mit 52 Duotone-Tafeln. 88 Seiten, gebunden, 29,80 Euro. ISBN: 3-8296-0139-5.


Das Gartenspiel

Das ist der Titel eines kleinen Buches, zu dem Andre Heller ein anmutiges Vorwort geschrieben hat. Es ist das kluge, heitere Buch einer jungen Frau über ihren "Dachgarten Eden". Die zwischen Mai 2001 und Dezember 2003 entstandenen Glossen sind selbstironische Kabinettstückchen. Solange man Julia Kospach - so heißt die Autorin - liest, glaubt man ihr ihren Hass auf Erlen und Holunder und ihre Liebe für fast alle Varianten von Tulpen. Man glaubt ihr, weil sie beides so schön formuliert, und schon erwischt man sich bei dem Gedanken, wenn sie es so schön formuliert, ist es nicht mehr in ihr, sie hat es schon geäußert, lügt es also. Sehr einnehmend ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der sie von ihrem Rigorismus, mit dem sie "Wohnungspflanzen" ablehnt, erzählt. Was heißt hier erzählt? Sie stellt fest: "Wohnungspflanzen lehne ich ab. Und zwar grundlos. Seit jeher." Punkt.

Sie analysiert sich nicht. Sie akzeptiert sich. Nein, das wäre zuviel gesagt. Sie nimmt sich hin. Dem an der Pflanzenwelt nicht so interessierten Leser kommt der Gedanke, dass sie vielleicht auch darum sich so wohl fühlt mit Pflanzen, weil auch die sie hinnehmen. Die, die es nicht tun und ihr nicht die Liebe tun, unter ihren Händen zu gedeihen, die verschmäht sie nicht. Sie hat Verständnis für sie, aber das Verhältnis kühlt sich merklich ab. Sie schreibt dann wie eine in nächtelangen Beziehungsgesprächen erprobte Geliebte: "Der Garten, finde ich, zeigt zu wenig Verständnis für mich. Vielleicht ist es, weil wir uns gegenseitig als Helden wollen. Dabei bin ich nur ein ganz gewöhnlicher Gartenlehrling, und er ist nur ein ganz normaler Garten." Soviel Weisheit ist in den zwischenmenschlichen Beziehungen wohl nicht zu erlangen. Das Buch wäre noch klüger und heiterer, wenn es nicht so hässlich wäre. Schlechte Fotos zeigen den Garten und die Autorin. Die Ästhetik eines Pflanzenkatalogs bildet eine das Auge verletzende Dissonanz zur Leichtigkeit der Texte. Wer die Autorin kennt, weiß, dass fast keines der Fotos etwas einfängt von ihrem Charme. Die Fotos zerstören das Buch.

"Augenweide - der Garten der Gärten" heißt ein prächtiges Bilderbuch, das Andre Heller und Julia Kospach zusammen herausgebracht haben. Es ist ein schwerer Band, eines aus dem Genre der Coffeetablebooks. Ein Buch zum Blättern und Träumen. Die Aufnahmen stehen für sich. Erst im Anhang kann man sich aufklären lassen über das, was man im Buch nur bewundert oder verblüfft angestarrt hatte. Die Ästhetik ist hier die erfahrener Illustriertengestalter. Gegenüber einer die ganze Seite in prächtigstem Gelb erfüllenden Ranunkelblüte in Draufsicht das bemalte Kinderhaus im Giardino Botanico in Gardone. Korallengärten kommen vor, eine Wiese aus The Beth Chatto Gardens of Unusual Plants in Colchester, England. Auch eine Aufnahme von Julia Kospachs Dachgarten, gleich nach der Alhambra. Natürlich fehlt nicht Monets Garten. Vermisst habe ich freilich aus sehr privaten Gründen den Wiener Wald und vierblättrigen Glücksklee. Vielleicht aber habe ich das alles nur übersehen. In der immer wieder so raffiniert entfalteten, die Augen blendenden Pracht dieses Bandes. Paul Klees geometrischem Bild in braun, gelb und schwarz "Ara. Kühlung in einem Garten der heißen Zone" ist die rote Blüte einer Protea in Seitenansicht gegenüber gestellt. Kurz davor eine Doppelseite mit dem Blick in einen englischen Landschaftsgarten über blühende Sträucher, Brücke und See auf ein kleines Pantheon. Soviel Augenweide gab es einmal.

Julia Kospach: "Das Gartenspiel". Residenz Verlag, Salzburg-Wien-Frankfurt/Main, 2004,108 Seiten, zahlreiche farbige Aufnahmen, 17,90 Euro. ISBN 3-7017-1362-6.

Andre Heller, Julia Kospach: "Augenweide - Der Garten der Gärten". Verlag Christian Brandstätter, Wien 2002, 400 Seiten, ca. 500 Farb-Abb., Format 24 x 32 cm. Ln., 69 Euro. ISBN 3-85498-189-9.


Verbrechen und Strafe

Es gibt Bücher, die erschrecken und solche, die Lust machen. Der Horrorroman versucht beides mit einander zu verbinden, aber meist trifft er nur auf ein Publikum, das Lust auf Schrecken hat, genauer gesagt: das sich darauf freut, zu erleben, dass es versteht, mit dem Schrecken fertig zu werden. Also vorzugsweise Teenager. "Wir kriminellen Deutschen" von Christian Bommarius verbindet die Lust und den Schrecken. Aber es ist alles andere als ein Buch für Teenager. Es ist für erwachsene Menschen, für Menschen, die bereit sind - wenigstens für die Dauer der Lektüre der 128 Seiten -, einmal alle Abwehrmechanismen ruhen zu lassen, die wir sonst gerne zu Hilfe rufen, wenn uns etwas nicht passt.

Es geht in dem Buch keine Sekunde lang um die Deutschen. Es geht um Kriminalität, und es geht darum, dass unsere Gesetze so beschaffen sind, dass niemand von uns niemals dagegen verstößt, dass unser Rechtssystem aber gleichzeitig dafür sorgt, dass nicht jeder ins Gefängnis kommt. Bommarius erinnert daran, dass große Teile der Schattenwirtschaft - zum Beispiel Insiderhandel, Steuerhinterziehung, Bilanzfälschung, Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht - auch in der Kriminalstatistik ein so finsteres Schattendasein führen, dass sie in ihr gar nicht vorkommen. Im Jahr 2000 wurde wegen Kapitalanlagebetrug nur gegen 100 Verdächtige ermittelt, verurteilt wurden am Ende neun von ihnen. Wegen Scheck- und Kreditkartenmissbrauchs wurden 68 Menschen verurteilt.

Solche Zahlen haben eine ungemein beruhigende Wirkung. Wir lesen sie gerne. Wir legen die Zeitung bei Seite und denken, selbst wenn es zehn Mal so viel sind, sind es wenig. Aber die Statistik täuscht. Die Wahrheit ist einfach und schrecklich: Das Verbrechen ist überall dort, wo nach ihm gesucht wird. Christian Bommarius' Büchlein zeigt uns, dass auf dieser Verabredung unser Rechtsstaat beruht. Wenn wir uns mit Schill einig sind, in den Hamburger Villen und Restaurants nicht nach Rauschgift zu suchen, werden wir es dort nicht finden, sondern nur auf den Straßen.

Man möchte "Wir kriminellen Deutschen" immer wieder aus der Hand legen, weil man es nicht erträgt, dass offensichtlich jeder Erwachsene mindestens einen Ladendiebstahl, einen Versicherungsbetrug oder verwandte Untaten schon begangen hat. Die Vorstellung, wir könnten dem Verbrechen entgehen, scheint völlig abwegig. Wir sind ständig Täter und Opfer. Warum legen wir das Buch nicht bei Seite? Es ist Bommarius' Stil. Er macht Lust. Man liest weiter, weil man auf die nächste süffisante Bemerkung wartet, und wenn man davon zuviel hat, dann freut einen der Ernst, mit dem der Autor sein Thema so lustvoll verfolgt.

Bommarius hat keine Lösung. Er bietet uns keine Lebens- und den Justizapparaten keine Rechtshilfe. Aber mit ihm nachzudenken über unsere Spezies, die offenbar Verbrechen und Strafen und Straffreiheit gleichzeitig haben möchte, das macht Spaß. Wenn man sich einmal für ein paar Stunden von der Forderung frei macht: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz werde."

Christian Bommarius: "Wir kriminellen Deutschen". Siedler Verlag, Berlin 2004, 128 Seiten, 16 Euro. ISBN 3-88680-806-8. Bestellen.