Post aus Neapel

Die Papst-Partei

Von Gabriella Vitiello
26.10.2005. Ob es um Abtreibung geht, homosexuelle Coppie di fatto, alleinerziehende Mütter oder künstliche Befruchtung - in Italien mischt die katholische Kirche mit, als säße sie auf der Regierungsbank. Da kneift sogar die Linke.
Neulich ging mein Bekannter Antonio aus Aversa mal wieder in die Kirche. Anlass war die Hochzeit seiner schwangeren Schwester. Bei wichtigen Familienfeiern geben sich selbst Religionsmuffel einen Ruck, zumal in Italien die meisten Ehen kirchlich geschlossen werden. Der Gang zum Standesamt ist aus Sicht vieler italienischer Familien nicht mehr als ein "Versprechen", der Prolog, der das Sakrament ankündigt. Der Priester von Aversa, einem Ort nördlich von Neapel mit hoher Mozzarella- und noch höherer Mafia-Dichte, übertraf mit seiner Predigt jedoch die schlimmsten Erwartungen Antonios: der Geistliche vermischte in seiner Ansprache religiöse Themen mit politisch-gesellschaftlichen und verurteilte das Zusammenleben von Paaren, die keinen Trauschein haben, nicht nur als Sünde, sondern als ungesetzlich und verfassungswidrig.

Seit Monaten gehört es in Italien zur gesellschaftlichen Tagesordnung, dass Vertreter der katholischen Kirche das Wort in öffentlichen Angelegenheiten ergreifen, als wären sie Mitglieder des italienischen Parlaments. Einer der Schwerpunkte des moralischen Diktats ist die Auseinandersetzung um die so genannten "Pacs", die Paare ohne Trauschein, die in Italien "coppie di fatto" heißen - de facto-Paare, die für ihre gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern gibt es für diese Paare nämlich keine staatlich eingetragene Lebenspartnerschaft als homo- oder heterosexuelle Alternative zur Ehe. Deshalb fordern viele Betroffene endlich eine politische Regelung der "Pacs", der "patti civili di solidarieta" - zivile Solidaritätsbündnisse - und bezeichnen sich selbst schon als solche, obwohl diese offiziell noch gar nicht anerkannt sind.

Romano Prodi, Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses ("Union"), der voraussichtlich bei der Wahl am 9. April 2006 gegen Berlusconi antreten wird, hatte die Regelung der "Pacs" einen wichtigen Punkt im Wahlprogramm der Union genannt. Damit machte sich Prodi bei den Kirchenoberen allerdings keine Freunde. Das Vatikan-Blatt Osservatore Romano warf ihm vor, er zerreiße auf der Jagd nach Wählerstimmen die Familie und verstoße damit gegen die Natur von Mann und Frau. Außerdem musste sich Prodi vom konservativen Politiker Marco Follini in Anlehnung an Jose Zapatero und die vom spanischen Regierungschef legalisierte Homo-Ehe als "Zapaterista" beschimpfen lassen. Da irrte Follini allerdings, denn das Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft hatte in Spanien bereits die Regierung Aznar verabschiedet.

Nicht zuletzt fielen Prodi sogar einige Politiker aus dem Mitte-Links-Bündnis in den Rücken. Sie würden es gerne bei der derzeitigen Trennung zwischen "natürlicher" - also heterosexueller - Ehe und den Paaren zweiter Klasse belassen. Dass ausgerechnet moderate Abgeordnete etwa der Margherita-Partei, die sich zum Mitte-Links-Block zählen, in Angelegenheiten wie Sexualität und Familie argumentieren, als wären sie der Papst persönlich, ist ein Zeichen für die dekadente politische Lage in Italien; denn nach eigenen Angaben wollen sich doch gerade die Oppositionsparteien besonders für die Familien einsetzen, deren Armut unter der Regierung Berlusconi drastisch zugenommen hat. "Im Jahr 2005 noch zu behaupten, dass die Heterosexualität natürlich sei, die Homosexualität dagegen nicht, entspricht aus wissenschaftlicher Sicht ungefähr der Aussage, die Erde sei eine Scheibe. Um die Situation nur geringfügig zu verbessern, müsste man zumindest wissen, dass die Erde rund ist", kommentierte der Journalist Giovanni Rossi Barilli bissig in der Tageszeitung il manifesto (hier ein Artikel Barillis über Ratzinger).

Umfragen haben ergeben, dass zwei Drittel der Italiener eine eingetragene Lebenspartnerschaft für Heterosexuelle befürworten würden, aber nur ein Drittel das gleiche Recht auch Homo- oder Transsexuellen zugestehen möchte. Der Corriere della Sera hat allerdings in einer weiterführenden Befragung herausgefunden, dass die Gegner der homosexuellen "Pacs" oft aus Schichten mit sehr niedrigem Bildungsstand kommen. Auch wird immer weniger geheiratet, und eine Familie besteht längst nicht mehr zwangsläufig aus Mann und Frau mit Trauschein plus Kind.

Die italienische Bischofskonferenz Cei macht sich ihr eigenes, exklusives Bild von der Realität: Die "Pacs" hält sie für soziologisch irrelevant, und sie verurteilt das Interesse von Politikern und der öffentlichen Meinung an der Debatte darüber als "widersprüchlich und ideologisch". Die Bischöfe fordern von der Regierung endlich eine Politik für solche Familien, die auf dem Bund der Ehe basieren. Unverheiratete Paare mit Kind oder alleinerziehende Mütter und Väter nimmt die Bischofskonferenz erst gar nicht als Personen und Familien wahr. Die Mitte-Rechts-Regierung unter Berlusconi übt an der Position der Cei keine Kritik, denn sie spekuliert darauf, dass bei einheitlicher Linie mit dem Klerus die Chancen auf die Wahlsieg im kommenden Jahr steigen. Die Opposition wiederum ist größtenteils zu feige, auf offenen Konfrontationskurs mit den Bischöfen zu gehen und riskiert damit, dass die Grenzen zwischen Staat und Kirche immer mehr verschwimmen.

Dem Vatikan gefällt das. Er profiliert sich gerne neben Regierung und Opposition als offensive dritte Kraft der Politik. Sein wichtigster Streiter ist Kardinal Camillo Ruini, Vorsitzender der Cei. Wie ein Polit-Star verbreitet er in den Medien seine Meinung zu "Pacs" und zur Abtreibungspille RU 486; auch schreckt er nicht vor Themen wie den italienischen Bankenskandalen zurück. Als einige Schüler und Studenten mit Spruchbändern wie "Wir sind alle homosexuell" und "Freie Liebe in freiem Staat" gegen das Pacs-Verbot Ruinis demonstrierten und den Kardinal auch noch auspfiffen, hallte das Echo der klerikalen Empörung bis zum Himmel (hier ein Artikel aus La Repubblica). Der Sekretär der Cei, Monsignor Bertori, stellte umgehend klar, dass die katholische Kirche sich nicht einschüchtern lasse. Er präsentierte Ruini als ein Opfer der Intoleranz anderer, dem das Recht auf freie Meinungsäußerung pfeifend geraubt worden sei. Den Gegner als antiliberal abzustempeln ist übrigens ein rhetorischer Trick, den auch Berlusconi immer wieder gerne anwendet, wenn er kritisiert wird.

Ruini hatte schon im vergangenen Frühjahr an vorderster politischer Front gekämpft. Es ist vor allem dem Kardinal zu verdanken, dass der Volksentscheid zur Regelung der künstlichen Befruchtung ein Misserfolg wurde. Die Regierung Berlusconi hatte ein entsprechendes neues Gesetz im Frühjahr 2004 verabschiedet, das viele Wissenschaftler als forschungs- und frauenfeindlich beurteilen (mehr hier). Zum einen verbietet es die Stammzellenforschung mit befruchteten Zellen. Zum anderen verkompliziert es das Prozedere der künstliche Befruchtung zu Lasten der Frau; denn im Sinne des Gesetzes dürfen weder mehr als drei befruchtete und schon geteilte Eizellen in die Gebärmutter eingepflanzt, noch überschüssige befruchtete Eizellen für einen weiteren Versuch konserviert werden. Zusätzlich sollen diese nicht im voraus auf Chromosomenschäden untersucht werden, so dass einer Frau nur die Möglichkeit der Abtreibung bleibt, sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass der Embryo nicht gesund ist. Gynäkologen zu Folge steigt mit diesem Verfahren die Wahrscheinlichkeit enorm, dass sich eine Frau mehrfach der belastenden Hormonbehandlung unterziehen muss.

Das Gesetz wird viele kinderlose Paare, soweit das nötige Bargeld vorhanden ist, in ausländische Kliniken treiben - mittellose Paare bleiben zu Hause und kinderlos, prophezeiten die Wissenschaftler. Dennoch wurde das Gesetz per Volksentscheid nicht abgeschafft. Die Wahlbeteiligung lag nur bei 25 Prozent, Lichtjahre vom erforderlichen Minimum entfernt. Ruini, unterstützt von zahlreichen Mitte-Rechts-Politikern, hatte wochenlang in der Presse gepredigt, entweder gar nicht zu wählen oder gegen die Abschaffung des Gesetzes zu stimmen. Die Mitte-Links Opposition setzte sich nur halbherzig für die Gesetzesänderung ein, und etliche Medien verkomplizierten die Sachlage, so dass ein Großteil der Bevölkerung vermutlich gar nicht verstanden hatte, worum es bei diesem Volksentscheid eigentlich ging. Ein klassisches Geschenk an den Vatikan war der Wahltermin, den die Regierung Berlusconi festgesetzt hatte: Mitte Juni ist in Italien die Badesaison schon in Gang. Die Strände waren voll, die Wahllokale leer. Nach dem gefloppten Volksentscheid verkündete Ruini ganz bescheiden, dass das Ergebnis keineswegs sein persönlicher Verdienst sei, er habe nur seine Pflicht getan und als Christ und Bürger auf sein Gewissen gehört.

Nur seine Pflicht tat angeblich auch Gesundheitsminister Francesco Storace, als er vor wenigen Wochen das Pilotprojekt eines Turiner Krankenhauses stoppte, in dem erstmals in Italien die Anwendung der Abtreibungspille RU 486 getestet wurde. Obwohl das Medikament in anderen europäischen Ländern längst zum medizinischen Alltag gehört, hatte der Minister Zweifel an dem vorschriftsmäßigen Gebrauch der Pille. Storace schickte Inspektoren ins Krankenhaus, die prompt in einem Fall einen vermeintlichen Formfehler im medizinischen Ablauf fanden. Die verantwortlichen Ärzte hingegen sahen darin nur eine politische Ablehnung ihrer Arbeit. Mittlerweile darf das Pilotprojekt unter noch strengeren Auflagen fortgesetzt werden. So müssen die Frauen, die die RU 486 einnehmen, nun paradoxerweise drei bis vier Tage im Krankenhaus bleiben. Bei einer herkömmlichen Abtreibung hingegen darf die Patientin einige Stunden nach dem Eingriff das Krankenhaus wieder verlassen. In konservativen und klerikalen Kreisen dominiert immer noch die Ansicht, dass bei einem Schwangerschaftsabbruch, wenn er denn durchgeführt wird, die körperliche und seelische Belastung für die Frau auch möglichst groß sein sollte: Es muss weh tun!

Vor 27 Jahren wurde - nach einem Volksentscheid - per Gesetz in Italien beschlossen, dass die Abtreibung in öffentlichen Krankenhäusern legal ist. Seitdem wird alles dafür getan, dass dieses Gesetz nicht richtig funktioniert, hat Alessandra Baduel in einer Reportage für D (kostenlose Registrierung auf der Website nötig), die Frauenzeitschrift der Tageszeitung La Repubblica, dargestellt. So mangelt es an der gesetzlich geforderten Aufklärung für Jugendliche über Verhütungsmittel. Manche Kontrazeptiva sind in Italien gar nicht erhältlich. Zwar gibt es das Diaphragma. Aber was soll frau damit, wenn die Apotheken die dafür notwendige spermizide Salbe nicht verkaufen dürfen? Voraussichtlich in sechs Monaten soll nun beides lieferbar sein. In den Krankenhäusern werden unterdessen die Wartezeiten für einen Schwangerschaftsabbruch stets länger, weil es immer mehr Ärzte aus Gewissensgründen - hinter denen sich oft jedoch Karrieregründe verbergen - ablehnen, eine Abtreibung vorzunehmen. Manchmal vergehen drei Wochen, bis der Termin für den Abbruch steht. Zeit genug, um die Zweifel der Frau zu schüren, während der Embryo im Ultraschall immer besser sichtbar wird. Alessandra Baduel schildert die Geschichte einer Frau, der ein Arzt während einer Ultraschall-Untersuchung sagte: "Überlegen Sie sich gut, was Sie da vorhaben, das ist ein Kind."

Die klerikale Elite spekuliert mit ihren bevorzugten Themen Ehe, Familie, Sexualität und Fortpflanzung auf eine große Zuhörerschaft, denn für Familien-Fragen müsste sich schließlich jeder Italiener interessieren, gleich welcher politischen Couleur und Konfessionszugehörigkeit. Hinter den moralischen Anweisungen verbirgt sich der klassische katholische Glaubensgrundsatz vom Naturgesetz, für dessen Verbreitung und Respektierung die Kirche zu sorgen habe. Was es damit auf sich hat, erklärte der Papst kürzlich mittels einer Botschaft an die Teilnehmer eines politisch-religiösen Kongresses: "Die Würde des Menschen und seine grundlegenden Rechte werden nicht vom Gesetzgeber geschaffen, sondern sind in die Natur der Person selbst eingeschrieben und gehen letztlich nur auf den Schöpfer zurück." Die Kurzfassung lautet so: "Die Rechte kommen von Gott, nicht vom Staat". Der Papst hegt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Kirche das Recht hat, in der Politik mitzubestimmen: "Eine Toleranz, die Gott nur als eine private Meinung zulässt, aber ihm den öffentlichen Bereich, die Wirklichkeit der Welt und unser Leben verweigert, ist keine Toleranz, sondern Heuchelei."

Da ist es selbstverständlich, dass anlässlich der ersten, vom Papst Anfang Oktober für drei Wochen einberufenen Synode mit 265 Kardinälen aus aller Welt nicht urbi und orbi zu hören war, sondern eine ganze Reihe von moralisch-politischen Anweisungen. So soll Politikern, die sich für die Abtreibung einsetzen und der traditionellen Familie ihre Unterstützung verweigern, die Kommunion verweigert werden. Wer wiederum diese Politiker wählt, begeht Sünde und wird zur Beichte geschickt.

Die katholische Kirche in Italien macht es sich gerade in einer selbst definierten kulturpolitischen Hauptrolle bequem. Jahrzehntelang hatte sie es nicht nötig, ihre Prämissen so lautstark zu propagieren, denn bis zu Beginn der neunziger Jahre vertrat die Democrazia Christiana (DC - hier der Relaunch), die christdemokratische Partei, die Interessen des Klerus. Die Fronten waren klar: auf der einen Seite DC und Kirche, auf der anderen die kommunistische Partei - wie bei Don Camillo und Peppone. Nach den Korruptionsskandalen und der Neugestaltung des traditionellen Parteiensystems blieb die Kirche zunächst Mitte der Neunziger ohne Referenzpartner zurück.

Das hat sich geändert: Die Regierung Berlusconi beschenkt den Vatikan seit Jahren reichlich und unterstützt den neuen politischen Aktivismus der Kirche: katholische Privatschulen erhielten in den vergangenen Jahren Zuschüsse von 50 Millionen Euro; auch katholische Forschungseinrichtungen werden stärker gefördert als staatliche. Zur Diskussion für den Haushaltsplan 2006 steht zudem ein gewaltiger Steuererlass für alle katholischen Institutionen, die einer kommerziellen Aktivität nachgehen, darunter Krankenhäuser, Kindergärten, Privatschulen und Hotels. Diese Steuergelder werden in den Kassen der Kommunen fehlen, die sowieso schon kurz vor dem Kollaps stehen. Denn die Regierung Berlusconi hat bereits beschlossen, im Haushaltsplan für das kommende Jahr die Gelder für Gemeinden und Städte radikal zu kürzen. Das wiederum wird zu Lasten der kommunalen Kultur- und Sozialpolitik gehen. So hat der Bürgermeister von Rom schon ausgerechnet, wie viele Straßenlaternen er abschalten, Kinos schließen und Nachtbusse er einstellen muss.

Kirche und konservative Politiker haben einen würdigen Ersatz für das verschwundene Gespenst des Kommunismus gefunden: den Laizismus. Sie bekämpfen ihn einträchtig und mit allen Mitteln. Filippo Gentiloni von il manifesto verkündet gar das Scheitern des "Laizismus, der bislang als charakteristisches Grundgerüst der Kultur und Politik galt."

Manch einer fühlt sich in Italien an die fünfziger Jahre erinnert. Damals war der Bikini am Strand genauso verpönt wie das Knutschen in der Öffentlichkeit - wofür es sogar Strafzettel gab (hier das Dossier als pdf-download aus La Repubblica mit einer Liste der Verbote). Dass das Klima ein halbes Jahrhundert später wieder prüder wird, zeigt das Verbot der neuen Werbekampagne von Ex-Benetton-Fotograf Oliviero Toscani. Seine Fotos von Männern, die sich lachend küssen und in den Schritt fassen, wurden zensiert. Toscanis Werbung für eine italienische Modefirma ist nur noch im Internet zu sehen.