Efeu - Die Kulturrundschau

Fein verästelte Zeichensysteme

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2020. Regisseur Christian Petzold entziffert in der Welt Georges Simenons kinematografische Schreibweisen anhand von Tonspuren für Sehbehinderte. Margaret Atwood erinnert sich in der FR an die Quarantänen im Kanada der Vierziger. Die New York Review of Books denkt über den Sinn von Lipgloss unter der Schutzmaske nach. In der SZ hofft Klaus Lemke, dass die Coronakrise dem deutschen Film einen dringend nötigen Neustart verpasst. Die FAZ hofft, dass eine Entscheidung des Denkmalamts die Frankfurter Bühnen vor dem Abriss rettet. Die Neuen Musikzeitung diskutiert über das Für und Wider des elektronischen Komponierens.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2020 finden Sie hier

Kunst

Ulrike Ottinger: Ohne Titel, Detail, 1966-1967, Farbsiebdruck © Ulrike Ottinger / Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz 


In der taz nimmt Brigitte Werneburg die "wirklich tolle" Ausstellung "Pop on Paper" im Kupferstichkabinett zum Anlass zu fragen, wer im Berliner Kunstbetrieb eigentlich "den Tubenschlüssel dreht": Dem Kupferstichkabinett wurde nämlich in den Neunziger Jahren gleich der ganze Ankaufsetat gestrichen. Seitdem sitzt man in Berlin auf irrsinnig teuren Kunsthäusern, hat aber kein Geld sie zu bespielen: Und in den Neunzigern stellt man ausgerechnet den Kurator Wulf Herzogenrath kalt, der wie kein anderer in Berlin neue Kunst ausstellte - auch von Künstlerinnen, so Werneburg. "Künstlerinnen stören denn auch nicht weiter in der aktuellen Sammlungspräsentation 'Pop on Paper', die unter den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen wegen der Coronapandemie am 12. Mai im Kulturforum eröffnet hat. Andreas Schalhorn, der Ausstellungskurator, versucht dieses Manko erst gar nicht zu überspielen. Er stellt es im Gegenteil offensiv aus, mit Antje Dorns 'Motorgirls' (2000/2001), wunderbar bösen, witzigen Paraphrasen auf die Unart der Pop Art, nackte, junge, sexy Frauen mit Produkten der Konsumgüterindustrie zu kombinieren, um sie als die begehrliche Ware zu zeigen, die sie für Männer wie in der Ausstellung etwa Mel Ramos nun mal darstellten."

Christoph Brech hat die Fenster der neogotischen Heilig-Kreuz-Kirche in München-Giesing mit 1.200 Röntgenaufnahmen von Lungenflügeln gestaltet, berichtet Brita Sachs in der FAZ. Das aber schon letzten Herbst! Überhaupt haben die Lungenflügel mit Krankheit nichts zu tun, es geht eher um ihre abstrakte Form: "In langwieriger Bearbeitung kehrte der Künstler am Rechner die Lichtwerte des Originals um, nun stehen die Lungenflügel hell vor dunklerem Grund. Auch nahm er Knochenstrukturen heraus: 'ich wollte kein Memento mori wie der Barock', der Akzent liegt auf der Nähe zur Flügelform, der Assoziation aufwärts strebender Leichtigkeit, die sich der gotischen, also auch neugotischen Spitzbogenstruktur ideal angleicht. Brechs Werk zitiert aber auch ein Kreuz: Schlüsselbein und Rückgrat bilden es und erinnern an jenes Kreuz, das laut Jesus Aufforderung jeder Gläubige auf sich nehmen soll."

Weiteres: Im Blog der New York Review of Books stellt Elisa Wouk Almino die Künsterlin Luchita Hurtado vor, die gerade im Los Angeles County Museum of Art die Ausstellung "I Live I Die I Will Be Reborn" laufen hat. In der NZZ stellt Claude Lichtenstein den Tessiner Grafiker Bruno Monguzzi vor. Besprochen werden eine Ausstellung des Berliner Malers Max Kaus im Brücke-Museum in Berlin (Tsp), die "Eintritt in ein Lebewesen"-Schau im Bethanien in Berlin (taz)
Archiv: Kunst

Musik

In der Neuen Musikzeitung entwickelt sich eine kleine Debatte über das Für und Wider des elektronischen Komponierens - ausgehend von einer Kritik daran des Philosophen Harry Lehmann, der in der Digitalisierung einen entscheidenden Bruch in der Geschichte der Kunstmusik sieht. Der Komponist Felix Stachelhaus antwortet darauf: Wenn er "etwas Unspielbares schreibe, dann hat das einen Grund. Dann will ich Ungenauigkeiten hören, wenn viele Instrumentalist*innen rhythmisch nicht mehr exakt spielen können; dann liebe ich die Brüchigkeit des Klangs an der dynamischen Untergrenze eines Instruments; dann suche ich die Schwebungen, die aufgrund schwieriger Intonation in extremen Lagen entstehen. Die Elektronik ernst zu nehmen hieße, sie als eigenständiges Instrument zu betrachten und in den ästhetischen Möglichkeiten zu nutzen, die sie von anderen Medien unterscheidet; sie als eine Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten zu begreifen, die aber selbstverständlich eine Musikkultur weiterführt und diese nicht 'ablöst' oder 'aufhebt'."

"Für viele Musiker kommt das Konzertverbot einem Berufsverbot gleich, das sie finanziell ruiniert", schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Sein etwas sehr herbeigezogenes Argument: Die Flugzeuge dürfen ja auch wieder fliegen, "weil die Klimaanlagen so gut seien, dass keine Eineinhalb-Meter-Klausel gelten müsste. In Häusern wie Baden-Baden und der Berliner Philharmonie ist die Klimaanlage genauso gut, die wirtschaftliche Notlage genauso groß. Wenn Flugzeuge voll sein dürfen, dann auch die Konzertsäle. Das erfordert die Gleichbehandlung."

Außerdem: In der Berliner Zeitung schildert Susanne Lenz die Lage des bolivianischen Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, das wegen Corona seit über zwei Monaten im Brandenburgischen Rheinsberg festsitzt. Jasmin Tabatabai spricht in der Berliner Zeitung über ihr neues Album. In der Berliner Club- und Konzertszene herrscht ziemlich schlechte Stimmung, hat Markus Schneider für die Berliner Zeitung herausgefunden. Und: Die Berliner Zeitung meldet den Tod des City-Schlagzeugers Klaus Selmke.

Besprochen werden das Comeback-Album von Badly Drawn Boy (FR, Tagesspiegel), neue Alben von Jessie Reyez und Jhené Aiko (FR) und das neue Album von The 1975 (Pitchfork).
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Literatur

Chabrols "Betty" mit  Marie Trintignant


Von einem so amüsanten wie fruchtbaren Missverständnis bei einer alten VHS-Aufnahme von Claude Chabrols Simenon-Verfilmung "Betty" berichtet der Filmemacher Christian Petzold in der Literarischen Welt: Mit seinem akkurat bildbeschreibenden Voiceover des Films schien Chabrol "im Werk von Simenon etwas getroffen" zu haben - bis sich zur Enttäuschung der enthusiasmierten Cineasten vor dem Bildschirm allerdings herausstellte, dass es sich lediglich um die von der Fernsehanstalt zur Verfügung gestellte Tonspur für Sehbehinderte handelte. Kenntlich wurde ihnen aber Simenons kinematografische Schreibweise: "Es sind Bildbeschreibungen. Ein Film läuft ab, und Simenon beschreibt diesen Film, der schon vergangen ist und durch die Beschreibung noch einmal projiziert wird. Vorstellbar wird. ... Von der 'falschen' Tonspur und der folgenden Diskussion ist letzlich doch viel geblieben: die filmischen Beschreibungen der Verfolgungen, die sich in 'Die Verlobung des Monsieur Hire' durchkreuzen, vermischen" und zu zu "einer unglaublich schönen Sequenz" führen, "wie ein Tanz, bei dem die Verfolgte zur Verfolgerin wird."

Margaret Atwood erzählt in der FR, wie sie die momentane Lage an die Quarantänen in Kanada in den Vierzigern erinnert. Alle kannten "die Quarantäne-Schilder. Sie waren gelb und sie prangten plötzlich auf Haustüren. ... Wir Kinder standen draußen im Schnee - für mich war es immer Winter in der Stadt, da meine Familie den Rest des Jahres im Wald lebte -, und wir starrten also auf die mysteriösen Schilder und fragten uns, was für grausliche Sachen hinter diesen Türen vor sich gingen. Kinder waren besonders anfällig für diese Krankheiten, gerade Diphtherie - ich hatte vier junge Cousins, die daran starben. So kam es dann auch vor, dass eine Klassenkameradin verschwand. Manchmal tauchte sie wieder auf, manchmal nicht." Ihr Fazit daher: "Nur Mut! Die Menschheit hat das alles schon mal durchgemacht" und nutze den Tag!

Weitere Artikel: "Wer denkt, die Welt werde jemals wieder so wie früher, der irrt", meint Cees Nooteboom in der NZZ, sanft traumatisiert vom ersten Krankenhausaufenthalt seines Lebens und etwas überfordert von den Abstandsregelungen im Supermarkt. Lothar Müller erzählt in der SZ die Geschichte von Marcel Prousts Vater Adrien Proust, der ein früher Epidemiologe war und als solcher "Teil eines Lehrstücks über die Verflechtung der Gesundheitspolitik mit den ökonomischen und Kolonialinteressen der beteiligten europäischen Nationalstaaten". Ulrich Gutmair hat sich für die taz mit Tom Kummer zum Plausch über dessen neuen Roman "Von schlechten Eltern" getroffen. Die NZZ bringt Auszüge aus einer Erzählung von Martin Meyer. In der FAZ sprechen die Slawistinnen Sylvia Sasse und Renate Lachmann über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Holocaust- und Gulag-Literatur.

Besprochen werden unter anderem Patti Smiths "Im Jahr des Affen" (taz, Literarische Welt), die vom HR online gestellte Hörspielbearbeitung von Annie Ernauxs Buch "Der Platz" (FR), Cécile Wajsbrots "Zerstörung" (Standard), die Gesamtausgabe von Seths Comic "Clyde Fans" (Intellectures), Hans Joachim Schädlichs "Die Villa" (Dlf Kultur), die Ausstellung "Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (Dlf Kultur, FAZ), Benjamin Maacks "Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein" (FR), Jhumpa Lahiris "Wo ich mich finde" (Literarische Welt) und Anna Katharina Hahns "Aus und davon" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Klarer Fall: Wenn die ganze Filmbranche jammert, sieht Klaus Lemke vor allem die Chance auf den Neuanfang. David Steinitz ist mit dem Kino-Anarchisten für die SZ unter Missachtung aller Abstandsregeln durch das Münchner Univiertel flaniert. So einen Neustart könnte wohl auch das Publikum gut gebrauchen, meint Lemke: "Er hat da diese Theorie entwickelt, dass die Menschen vergessen haben, wie schön und wild das Leben sein kann - wenn man das Leben denn zulässt. Corona? Eine sich selbsterfüllende Prophezeiung, damit die Menschen endlich eine nahezu unanfechtbare Ausrede haben, dort zu bleiben, wo sie eh schon sitzen: in der Netflix-Einzelhaft. Dass vor allem die jungen Leute sich in ihrer Isolation nicht mal mehr für Sex interessieren würden, weiß Lemke mit Verben und Adjektiven zu umschreiben, die man in einer Tageszeitung leider unmöglich wiedergeben kann." Natürlich verliest Lemke im Gespräch auch wieder zahlreiche Passagen seines neuesten Manifests, das an dieser Stelle dokumentiert ist.

Weitere Artikel: Werner Herzog macht sich Sorgen um die indigenen Völker Brasiliens in der Coronakrise, erklärt er im Dlf Kultur. Claus Löser staunt in der Berliner Zeitung über das virtuelle Programm des Hannoveraner Lodderblast-Kinos, das Filme mit Rahmenprogramm streamt und damit ziemlich erfolgreich ist. Besprochen werden die von Reese Witherspoon produzierte Amazon-Serie "Little Fires Everywhere" (FAZ, Welt, ZeitOnline), die Serie "Harlots - Haus der Huren" (Freitag) und die Netflix-Komödie "The Lovebirds" (Presse).
Archiv: Film

Design

Toyohara Kunichika, Okon Yanagihashi trägt Lippenstift auf. Teil der Serie 16 moderne Sitten im Stil der 16 Musashi. 1871.


Eigentlich noch ganz im Corona-Lockdown gefangen, traf sich Daphne Merkin maskenbewehrt im Park mit einer Freundin und beobachtete fasziniert, wie diese in Sachen Make-up eher zurückhaltende Frau ihre Maske hochschob, Lipgloss auftrug und die Maske wieder herunterschob. Warum tat sie das, fragt sich eine faszinierte Merkin in der New York Review of Books. "Wenn es nicht, in den Worten von T.S. Eliot, darum ging, 'ein Gesicht für die Begegnung mit den Gesichtern, denen man begegnet, vorzubereiten', dann musste es um etwas fast ebenso Wichtiges gehen: ihr inneres Gesicht aufzusetzen, das Bild, das sie wie ein Memento mit sich herumträgt. Wenn Identität an sich eine Konstruktion ist, wie wir alle gelernt haben, seit die Literaturwissenschaften im ganzen Land begannen, Bücher als 'Texte' zu bezeichnen, dann ist unser Erscheinungsbild sicherlich ein wichtiger Teil dieser Konstruktion. ... Es geht darum, zu suggerieren, dass 'gut aussehen' mehr bedeutet als bloße Frivolität oder der Wunsch, für Männer begehrenswert zu sein. Für viele Frauen, ob Feministinnen oder andere, ist das Bemühen um ihr Äußeres eine Erinnerung daran, dass es ihnen freisteht, die besondere Version von Weiblichkeit, die sie der Welt vermitteln wollen, zu kreieren - um sie visuell zu dramatisieren -, sei es durch goldene Strähnchen im Haar oder durch blaue Zehennägel. Mit anderen Worten, es ist alles Teil einer ritualisierten Performance."
Archiv: Design

Bühne

Abstand ist im modernen Tanz eigentlich immer schon angelegt, meint Dorion Weickmann, die unser aller Coronachoreografie auf der Straße beobachtet hat, in der SZ: "Das befremdliche Motorik-Mosaik, das Corona uns aufzwingt, genießt andernorts längst Kultstatus. Auf der Tanzbühne feierten bereits im 20. Jahrhundert fein verästelte Zeichensysteme, Zufalls-Operationen und Alltagsbewegungen Triumphe. Merce Cunningham, Pionier der Postmoderne, erwürfelte den Ablauf ganzer Abendprogramme. Trisha Brown pflanzte körperrhetorische Fundstücke aus den Straßenschluchten New Yorks auf die Bühne und adelte so den Akt des Flanierens zur theatralen Aktion. In Frankfurt etablierte der Ballettneuerer William Forsythe die Choreografie auf Zuruf: Vorab vereinbarte Signale bestimmen die Einsätze der Tänzer. Aber wann das Startzeichen kommt und wer es gibt, bleibt offen - und fürs Publikum unsichtbar."

Ein Beispiel: Bachs "Chaconne" von Anne Teresa de Keersmaeker & Boris Charmatz in Tempelhof



Weitere Artikel: Shirin Sojitrawalla unterhält sich für die taz mit der Schauspielerin Sandra Hüller über deren Rolle als "Hamlet" und das Theaterspielen ohne Publikum. Seit dem 16. Mai haben die ausgefallenen Mülheimer Theatertage "Stücke 2020" jeden Tag ein filmisches (Selbst-)Porträt der acht nominierten DramatikerInnen ins Netz gestellt, berichtet Katrin Bettina Müller in der taz. Gute Werbung für die neue Dramatik, meint sie. Irene Bazinger lässt sich für die FAZ von Intendant Oliver Reese erklären, wie er den Theaterbetrieb in seinem Haus wieder aufnehmen will.

Die nachtkritik streamt heute bis 18 Uhr Kleists "Der zerbrochne Krug" in der Inszenierung von Laura Linnenbaum fürs Schauspielhaus Düsseldorf und ab 18 Uhr "Ramadram", eine Webserie von New Media Socialism von Kampnagel Hamburg.
Archiv: Bühne

Architektur

Panorama Bar im Foyer des Frankfurter Schauspiels. Foto: Epizentrum / Wikipedia unter cc-Lizenz


Das Landesdenkmalamt hat jetzt entschieden, dass das Foyer von Frankfurts Theater am Willy-Brandt-Platz unter Denkmalschutz gestellt werden soll. Ursprünglich war geplant, die Anlage abzureißen und das Theater an anderer Stelle neu zu bauen, weil das billiger sei als eine Renovierung. Niklas Maak freut sich in der FAZ über die Entscheidung. Nicht nur wegen des Gebäudes selbst, sondern auch wegen des Standortes: "Es ist kein Zufall, sondern Teil der kulturellen Identität gewachsener Städte und ihrer sozialen Rituale, dass Bahnhof und Banken, Theater und Rathaus, Museen und Hotels fußläufig beieinanderliegen. Die Standortfrage, die der Denkmalschutz zugunsten des Willy-Brandt-Platzes befeuert, handelt davon, welche Rolle ein Gemeinwesen der Kultur beimisst; will man zur Kultur hinausfahren, so wie man in einen Vergnügungspark oder in ein Ausflugslokal am Stadtrand fährt - oder betrachtet man sie als Teil des täglichen Lebens und Erlebens, dem als Bild und als Treffpunkt ein Platz im Zentrum reserviert werden muss?"
Archiv: Architektur