Im Kino

Was tun, wenn man stirbt?

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl
30.11.2022. Im Mittelpunkt von"Mehr denn je" steht eine unheilbar kranke junge Frau. Doch Regisseurin Emily Atef ist weniger an ihrer Geschichte interessiert als an einer Zustandsbeschreibung aus der Perspektive ihrer Heldin.


Hélène (Vicky Krieps) ist bei Freunden zum Abendessen eingeladen, aber offensichtlich fehl am Platz. Geschwächt und abwesend taumelt sie verloren zwischen Small-Talk-Fetzen herum. Die anderen versuchen, sie möglichst normal zu behandeln, doch Mitleid und Unwohlsein stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. Hélène ist Anfang 30, leidet an einer unheilbaren Lungenerkrankung und wurde von ihrem Freund Matthieu (Gaspar Ulliel) ein letztes Mal in ihr einstiges soziales Umfeld geschleift. Allerdings ist es bereits zu spät. Allein das Wissen um ihren nahenden Tod hat sie von den anderen entfremdet.

Wenn "Mehr denn je" beginnt, gibt es schon keine Zuversicht mehr. Die Möglichkeit einer sehr riskanten Transplantation zieht nur Matthieu in Erwägung. Hélène sucht dagegen einen Weg, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Regisseurin Emily Atef zeigt sich in ihrem gemeinsam mit Lars Hubrich verfassten Drehbuch weniger an einer Geschichte als an einer Zustandsbeschreibung interessiert. Ihre Heldin bewegt sich zwischen Leben und Tod, zwischen Hoffnungslosigkeit und Akzeptanz. Wenn der Film Hélène mehrmals gelöst im Wasser treiben lässt, findet er für ihre Situation eine etwas überstrapazierte Metapher. Während eines Konzertbesuchs ist sie in ein ähnliches azurblaues Licht getaucht und wiegt sich gedankenverloren im Takt der melancholischen Musik. Diese Momente der Leichtigkeit und Freiheit beziehen sich auf einen Sehnsuchtsort, der erst noch gefunden werden muss.

Was tun, wenn man stirbt, will Hélène von Google wissen und gerät dabei auf eine mit Sonnenuntergängen übersäte Website, auf der Worte wie "Hoffnung" und "Ewigkeit" prangen. So wie der Film "Mehr denn je" will sie jedoch keine schmerzlindernden Lügen, sondern Ehrlichkeit und Verständnis. Der dieses Jahr mit nur 37 Jahren bei einem Skiunfall verstorbene Gaspar Ulliel bemüht sich als Matthieu aufopferungsvoll um seine sterbende Freundin. Er meint es zwar gut, verschließt aber die Augen vor der Wahrheit. Verstanden fühlt sich Hélène lediglich auf dem verspielt humorvollen Blog des ebenfalls todgeweihten Bent (Bjørn Floberg). Allein reist sie schließlich nach Norwegen, um ihn zu besuchen.

Nachdem sich Hélène immer von allem weggeträumt hat, muss sie mit der Abgeschiedenheit klar kommen. Auf die dunkle Enge Bordeaux' folgt die endlose Weite Norwegens. Die hellen Nächte rauben ihr den Schlaf, der fehlende Handy-Empfang treibt sie auf einen Hügel, auf den scheinbar das halbe Dorf zum Telefonieren kommt. Das Verhältnis zu dem ehemaligen Bohrinsel-Arbeiter Bent ist wortkarg, aber verständnisvoll. Es geht zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr darum, zu anderen Kontakt aufzunehmen.



Das Filmposter, auf dem Hélène und Matthieu sich innig umarmen, und der von Streichermusik aufgepeitschte Trailer führen in die Irre. "Mehr denn je" strebt weder nach dramatischer Intensität, noch erzählt er von der tragischen Zerreißprobe einer Beziehung. Es ist ein Film über und aus der Perpsektive seiner Heldin und ihrer Suche nach Selbstbestimmung und persönlichem Frieden. Das Wechselspiel aus Verwundbarkeit, Neugier, Sturheit und Wut verkörpert Vicky Krieps, deren Stimme und luxemburgischer Akzent immer etwas leicht Brüchiges haben, mit sanfter Würde. Mal stampft sie keuchend und abenteuerlustig durch die Natur, mal wird sie von der Krankheit in die Schranken gewiesen und sucht blass und klapprig nach Halt.

"Mehr denn je" kreist um seine Protagonistin, ohne sie ganz ergründen zu wollen. Dass der Film nicht sensationalistisch ist und eher alltägliche als verdichtete Momente sucht, verleiht ihm eine Ruhe, mit der er teilweise überfordert ist. Lediglich ein Faustschlag und ein Schwächeanfall brechen kurz mit dem gediegenen Erzähltempo. Selbst wenn Matthieu gegen Ende nach Norwegen reist und es zu Reibungen und einem dramatischen Finale kommt, bleiben diese Szenen blass. Wie seine Heldin scheint auch der Film in einer Sphäre gefangen zu sein, zu der wir keinen Zugang haben. Ein ätherischer Schleier liegt über den pittoresken Bildern, in denen die Figuren in flauschige Wollpullis gehüllt sind und im weichen nordischen Licht vor atemberaubender Bergkulisse stehen. Das Dilemma der Heldin lässt einen nicht kalt und man wünscht ihr auch die Freiheit, über den eigenen Tod zu bestimmen, aber die glatte Ästhetik und die zerdehnte elegische Stimmung von "Mehr denn je" lasssen die Anteilnahme immer wieder in Langeweile umschlagen.

Michael Kienzl

Mehr denn je - Frankreich 2022 - OT: Plus que jamais - Regie: Emily Atef - Darsteller: Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg, Sophie Langevin - Laufzeit: 123 Minuten.