9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn es am Kaiserreich etwas zu feiern gilt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2021. In der FR fordert die Historikerin Dorothee Linneman Denkmäler für die Heldinnen der Frauenbewegung. Die SZ erzählt, wie EU-Mitglied Luxemburg zum zweitreichsten Land der Welt wurde. Die NZZ wirft einen kritschen Blick auf die Bundeszentrale für politische Bildung, die ihre Stellenzahl und ihr Budget in einigen Jahren verdoppelte. Die taz erzählt, wie sich Holocaustforscher in Polen gegen Angriffe von rechts wehren müssen. In der NZZ fragt Ulrike Ackermann: Wo sind die Intellektuellen der Mitte?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.02.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Das wäre überfällig: Denkmäler für die Heldinnen der Frauenbewegung, fordert die Historikerin Dorothee Linnemann in der FR. Und warum wurde keine einzige ihrer Kämpferin in der Rede des Bundespräsidenten zur Reichsgründung erwähnt? "Anderes wurde hervorgehoben: 'Wir Deutschen stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche' ... 2018/19 wurde das hundertste Jubiläum der Einführung des Frauenwahlrechts gefeiert. Die Erinnerungskultur sollte den befragenden Blick von Königen, Kaisern und Feldherren sowie ihren Statuen abwenden. Wenn es am Kaiserreich etwas zu erinnern und auch zu feiern gilt, dann die Frauenbewegung. Denkmäler sollten für ihre Protagonistinnen aufgestellt werden."

Der Islamismusforscher Lorenzo Vidino von der George-Washington-Universität in Washington warnt im FAS-Gespräch mit Christian Meier vor einem politischen Islam, der sich urban verkleidet und gefährlicher sei als äußere Zeichen: "Die Subversion, die sie betreiben, ist erst in mittel- und langfristiger Perspektive greifbar. Es ist dagegen sehr leicht, auf einen Salafisten oder eine Frau mit Niqab zu zeigen und zu sagen: 'Das ist das Problem!' Wir sprechen von Leuten, die sehr clever sind. Sie beherrschen die Sprache der Islamophobie und der postkolonialen Theorie und werfen einem bei Kritik schnell vor, man sei rassistisch oder islamophob. Die sind als Gegner viel herausfordernder."

Im Interview mit der SZ bezweifelt der Soziologe Armin Nassehi, dass wir als Gesellschaft fähig sind, das Coronavirus oder andere Krisen zu meistern: "Im Übrigen haben wir ein ganzes Jahr verloren, weil wir viele Dinge noch immer nicht wissen: Wir wissen nicht genug darüber, wo die Leute sich anstecken, wie sie sich anstecken, und deshalb sind viele differenzierte, präzise Maßnahmen und Eingriffe bis heute nicht möglich. Zeit ging verloren, um mittelfristige Planung zu machen. Das formuliere ich tatsächlich als Vorwurf. Es bestätigt mein systemtheoretisches Gesellschaftsmodell, wonach so etwas wie kollektives Handeln für eine komplexe moderne Gesellschaft fast unmöglich ist, wenn man es nicht politisch autoritär durchsetzen will. Wir müssen resilienter werden."

Als "Jana aus Kassel" sich im Herbst mit der Widerständlerin Sophie Scholl verglich, gab es viel Empörung. Als jetzt die Komikerin Idil Baydar auf der App Clubhouse den Umgang mit Clan-Kriminellen mit dem Umgang mit Juden im Zweiten Weltkrieg gleichsetzte ("Das ist die gleiche Story!"), regte sich kein Mensch auf, wundert sich Johannes Boie in der Welt, obwohl Baydar keine unbekannte Jana sei, sondern "oft Gast im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ... Es kommt offenbar immer darauf an, wer sich im Ton vergreift. Man darf gespannt sein, wann Baydars nächster Auftritt in der ARD folgt."
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Geschichte

Gabriele Lesser erzählt in der taz, wie die beiden Holocaustforscher Barbara Engelking und Jan Grabowski in Polen wegen eines tatsächlichen kleinen Irrtums in ihrem monumentalen Werk "Dalej jest noc - Losy Zydów w wybranych powiatach okupowanej Polski" (Und immer noch ist Nacht - Die Schicksale von Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens, mehr hier) gerichtlich unter Druck gesetzt werden, auch um fromme offizielle Geschichtsversionen über Polen und den Holocaust durchzusetzen: "Als besonders schmerzlich erwies sich für viele die durch historische Quellen belegte Tatsache, dass es unter den Polen auch Täter und sogar Nazi-Kollaborateure gab, ebenso wie unter den Ukrainern, Russen, Franzosen, Litauern, Letten und anderen Nationen. Die Pogrome, die katholische Polen 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, sind ein besonders schwarzes Kapitel in der Geschichte Polens. Zugleich bestreitet niemand, dass es Deutsche und Österreicher waren, die den Massenmord an sechs Millionen Juden Europas verübten."
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Europa

Es ist höchste Zeit, dass Angela Merkel ihre Unterstützung vor Nord Stream 2 aufgibt, schreibt Konrad Schuller in der FAS: "Putins Pipeline dient dem Ziel, die Ukraine als Gas-Transitland zu umgehen. Wenn die Röhre fertig ist, kann der Präsident den eingefrorenen Krieg gegen dieses Land neu entfachen, ohne Störungen im West-Export fürchten zu müssen. Für die Nato-Länder im Osten wäre das eine neue Dimension russischer Bedrohung. Deshalb haben sie Merkels Duldung der Leitung immer als Missachtung ihrer Kerninteressen betrachtet."

Luxemburg ist nach wie vor trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und Absichten die Steueroase Nr. 1 in Europa, wo andere europäische Länder um Milliarden Steuergelder geprellt werden. Für Luxemburg hat sich der Eigennutz prächtig gelohnt, es ist das zweitreichste Land der Welt, berichtet auf vier Seiten die SZ, die sich für die Geschichte mit einer Reihe internationaler Zeitungen und Reporterorganisationen zusammengetan hat. Doch nicht nur das: Bei etwa der Hälfte der Firmen würden entgegen der Vorschriften "keine Angaben zum Eigentümer gemacht, etliche drücken sich mit schwer nachzuvollziehenden Argumenten um Offenlegung." Zudem führe das Register neben einigen Minderjährigen auch "etliche fragwürdige Gestalten als Firmeneigentümer auf: einen Waffenhändler, der im Zentrum eines großen Korruptionsskandals in Frankreich steht. Den Anführer einer der größten Mafiaorganisationen Russlands. Einen der Korruption verdächtigen Schwiegersohn des tunesischen Diktators Ben Ali. Und Menschen mit Verbindung zur mächtigen italienischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta. Welch ehrenwerte Gesellschaft."

Die Politik in Deutschland hat die Tendenz, sich ihre Zivilgesellschaft selbst zu organisieren. Eine ihrer Institutionen ist die Bundeszentrale für politische Bildung, die laut Anna Schneider in der NZZ weiter ausgebaut wird und demnächst 369 Stellen haben soll, doppelt so viel wie im Jahr 2013. Diese Stellen dienen dem "Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus". Schneider wirft der bpb vor, sich sehr viel mehr mit Rechts- als mit Linksextremismus zu befassen:  "Jüngst sorgte ein Vorfall für Aufruhr, der auch den Beirat beschäftigte. Im Einleitungstext zum Online-Dossier Linksextremismus der Bundeszentrale war bis Anfang Jahr zu lesen: 'Im Unterschied zum Rechtsextremismus teilen sozialistische und kommunistische Bewegungen die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.' Das rief Thorsten Frei auf den Plan, den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag und Vorsitzenden des Kuratoriums der Bundeszentrale... Eine Relativierung des Linksextremismus sei im Sinne der politischen Bildung inakzeptabel."

Auf Zeit online berichtet Özlem Topçu über die seit Wochen andauernden Studentenproteste gegen den von Recep Tayyip Erdoğan eingesetzten neuen Rektor der Boğaziçi-Uni in Istanbul. Mit dessen Einsetzung "wird ein Kampf gegen eine alte staatliche Institution - die Boğaziçi ist keine Privat-Uni - geführt, der stellvertretend steht für den Kampf gegen die alte, vermeintlich liberale Ordnung, die die vermeintlich neue, emporgekommene, verhindern will. Ein Kampf 'wir gegen sie', jene, die 'uns fromme Anatolier' verachten; gegen 'die Liberalen', 'die Linken', 'die Eliten', 'die Intellektuellen' - und einen tiefen Staat auch, dessen Existenz in der Türkei nicht von der Hand zu weisen, und vielleicht irgendwo in dem Land zu finden ist, aber wohl nicht an der Boğaziçi."

Weiteres: Die Coronakrise zeige einmal mehr, dass Deutschland ein absteigendes Land ist. Aber das wolle man noch nicht so recht wahrnehmen, meint Harald Welzer in der FAS: "Es führt zu jener seltsamen Starrheit und Unflexibilität in der politischen Klasse, die desto mehr an hergebrachten Strategien festhält, je deutlicher wird, dass sie nicht wirken." Und im Tagesspiegel warnt Hannes Soltau: Wir sind viel rassistischer, als wir es wahrhaben wollen, und der Kapitalismus ist schuld: "Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass Menschen mit Abstiegsangst sich politisch radikalisieren. Und nach Schuldigen suchen."
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Kulturpolitik

Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) rechnet im Interview mit Susanne Messmer und Bert Schulz von der taz erst zu Beginn des nächsten Jahres mit einer Normalisierung des Kulturlebens wie in Vor-Corona-Zeiten: "Ich hoffe, dass alle Kultureinrichtungen zu Beginn des nächsten Jahres im Großen und Ganzen wieder so öffnen und besucht werden können, wie wir das vor der Pandemie kannten. Möglicherweise mit niedrigschwelligeren Hygieneanforderungen, deren Einhaltung man aber, glaube ich, allen abverlangen kann. In einzelnen Bereichen, wie der Clubkultur, wird es selbst dann noch schwierig sein. Auch darauf werden wir reagieren müssen."
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Internet

Die Internetgiganten regulieren, ok. Aber bitte nicht zu sehr, meint Mathias Müller von Blumencron im Tagesspiegel: "Die deutsche Autoindustrie braucht den heißen Atem von Tesla, damit sie endlich begreift, dass das Auto der Zukunft ein Stück Software mit Fahrwerk ist - und nicht umgekehrt. Die deutschen Handelshäuser brauchen den Antrieb von Amazon, der sie ins Digitalzeitalter drängt. Und die Verlage brauchen die Konkurrenz durch Facebook, um sich auf das zu besinnen, für das Leser bereit sind, Geld auszugeben: hochwertige Inhalte."
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Stichwörter: Autoindustrie, Tesla

Ideen

In der NZZ denkt Nico Hoppe über Selbstoptimierung nach. Die Linke kritisiert sie als kapitalistischen Zwang, dabei ist sie selbst "vielfach verstrickt in das, was sie heute kritisiert", meint Hoppe. "Authentizität und Selbstoptimierung ähneln sich insofern, als in beiden Fällen der Verweis auf das 'eigentliche Selbst' dazu dient, jede Form von Besinnung zu vermeiden. Der einzige Unterschied ist ein gradueller: Die einen, die auf Authentizität pochen, halten sich bereits für perfekt (oder in narzisstischem Kalenderspruch-Jargon: 'perfekt-imperfekt'), die anderen, die auf Optimierung setzen, sind damit beschäftigt, das Ich-Ideal des anpackenden Selbstverwirklichers zu erreichen. Beide kennen keinen Zustand, in dem Müßiggang zwar erstrebt wird, aber nicht als Möglichkeit von kerniger Selbstvergewisserung, sondern von Entäußerung und Erfahrung - also gerade als eine der seltenen Gelegenheiten, die eigene Borniertheit hinter sich zu lassen."

Im Interview mit der NZZ erklärt die Politikwissenschafterin Ulrike Ackermann, Mitinitiatorin des neu gegründeten "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit" (unser Resümee), weshalb sie die Freiheit der Wissenschaft gefährdet sieht und was ihr heute fehlt: "Ich wünsche mir, dass die gesellschaftliche Mitte geistig befruchtet wird. Es ist immer ein Problem gewesen, dass viele Intellektuelle früher eher links waren. Es fehlten Intellektuelle, die wie etwa Ralf Dahrendorf die Freiheit ins Zentrum stellten, streitlustig waren und neue Ideen entwickelt haben, ohne sich vereinnahmen zu lassen von irgendeinem Lager. Der Intellektuelle mit großem Einfluss ist immer noch Jürgen Habermas. Etwas Vergleichbares auf liberaler Seite haben Sie nicht. Sie finden in Deutschland nirgends prominent besetzte Lehrstühle, wo beispielsweise eine Ideengeschichte der Freiheit gelehrt wird. Sie haben eigentlich keine Tradition der liberalen Köpfe."

Im Tagesspiegel möchte Gregor Dotzauer das Netzwerk liebend gerne an den rechten Rand rücken, indem er einzelne herauspickt, die er ohne weitere Begründung als "neurechte Zündler" verortet: "etwa der Würzburger Neuhistoriker Peter Hoeres, der emeritierte Althistoriker Egon Flaig oder der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski. Die Liste überschneidet sich nicht unwesentlich mit derjenigen der Erstunterzeichner des 'Appells für freie Debattenräume', der im September 2020 auch klar rechtspopulistische Unterstützer wie Monika Maron, Vera Lengsfeld oder Matthias Matussek anzog."
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