Ist Jean-Luc Godard Antisemit?, fragt die FAZ heute. Nun ja, 1977 war er es jedenfalls, wenn man diese Passage aus einem hier dokumentierten Brief an den palästinensischen Lyriker Elias Sanbar liest. Godard denkt über das Foto eines "Muselmanen" nach. So nannte man in den KZ verhungernde Insassen im letzten Stadium. Auf französisch ist das Wort absolut identisch mit dem Wort für "Muslim" - nämlich "musulman". Nach einer dunklen Passage über ein "Urbild des jüdischen Volkes" schreibt Godard:

"Darüber spricht Israel nie, dass es ein zweites furchtbares Bild brauchte, ein Bild vom deutschen Wahnsinn, um das Recht auf eine Heimat zu erobern, eine Heimat im vollen Sinne, und dass das ein schweres Erbe ist.

Aber das kann man auf jedem Bild aus den deutschen Lagern sehen, außer wenn man oberflächlich guckt und es zu schrecklich zu sehen ist, zu schrecklich vor allem, dass man nur aus dem Hass des anderen heraus existiert.

Niemand weiß, wie es genau im Nahen Osten ausgehen wird, aber man weiß ein bisschen darüber, wo und wann es begonnen hat.

Es war hier, in Europa (es ist also auch unser Krieg, wenn es nicht unser Krieg wäre, würde
man garnicht verstehen, warum die Leute sich über de Libanon aufregen und nicht über Südafrika oder Kambodscha).

In Europa und mit einem seiner Bilder, nicht irgendeinem, und seiner wirklichen Bildlegende.

Der aktuelle Krieg im Nahen Osten wurde in einem Konzentrationslager geboren, an dem Tag, als ein großer jüdische Clochard sich vor seinem Tod von irgendeinem SSler noch als 'Muselmane' behandeln lassen musste.

Es muss wirklich der Geist des Bösen gewesen sein, der dem Gedächtnis von sechs Millionen toten Juden das Gedächtnis des Hasses auf den anderen einimpfte, aber auf denjenigen, der für die Juden 'der andere' ist, in diesem Fall, denn dreißig Jahre danach trifft das jüdische Volk auf seinesgleichen, ein anderes jüdisches Volk, auf einem ganz bestimmten Territorium, nicht in Nacht und Nebel diesmal, sondern eher in der Sonne, und das ihm sagt: Ich gleiche dir, ich bin Palästinenser."


Das Wort "Muselmane", das er immer wieder fälschlich mit dem französischen Begriff für den Muslim gleichsetzt, beschäftigt Godard auch in späteren Jahren. 1995 sagt er in einem Gespräch mit dem Radiosender France Culture: "Die Bücher sagen, dass die Deutschen Lagerinsassen im Endzustand als 'Muselmanen' bezeichneten, wenn sie sich überhaupt nicht mehr bewegen konnten, nicht mehr die Kraft hatten zu leben. Sie hätten sie 'Inder', 'Zigeuner', 'Russen' nennen können, es fehlte ihnen doch damals nicht an Leuten, die sie hassen konnten."

In den siebziger Jahren arbeitete Godard zusammen mit Anne-Marie Miéville an dem Essayfilm "Ici et ailleurs", in dem er die Gleichsetzung des Holocaust mit den Leiden des palästinensischen Volks mit den damaligen Mitteln des Videos umsetzt. Er montiert ein Bild Hitlers mit einem Bild Golda Meirs



und lässt zu den Gesängen eines Rabbis oder Kantors, in denen die Wörter "Auschwitz" und "Majdanek" vorkommen die Buchstabenfolge Israel wie auf früheren Flughafen-Schautafeln in die Buchstabenfolge Palestine umspringen.




Hier lässt sich die Passage aus dem Film ansehen:



Thierry Chervel

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