Vorgeblättert

Claus Christian Malzahn: Die Signatur des Krieges. Teil 2

03.03.2005.
Im Winter vergnügte sich Lady Sale mit ihren Töchtern beim Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Kabuli-Fluß. Im Sommer wurde natürlich Cricket gespielt und ein britischer Militärpfarrer wunderte sich darüber, daß die den Spielen beiwohnenden Afghanen angesichts der brillanten englischen Spielzüge nicht sofort das Feld stürmten, um an diesem noblen Sport als Herausforderer teilzunehmen.

Auf meinen Reisen nach Kabul quartierte ich mich für gewöhnlich in einer kleinen Pension namens B?s Place ein, die hinter einer hohen Mauer zwischen Kiefern lag und in deren Vorgarten ein afghanischer Gärtner Blumenbeete anlegte. B?s Place liegt im besseren Wazir-Akhbar-Khan-Viertel und verfügt über sechs Zimmer und einen Gemeinschaftsraum mit Sat-TV. Im Sommer saß man, von Bäumen beschattet, draußen auf der Veranda. Matthew, der australische Pächter des kleinen Hotels, brachte es immer fertig, irgendwo Bier, Rotwein oder Whisky aufzutreiben. Das Essen im B?s Place war gut, die Pasta sogar hausgemacht. Vor allem machte die Kost nicht krank, weil die Küchenjungs alle schon in pakistanischen Hotels gearbeitet hatten und Matthew ihnen regelmäßig auf die Finger schaute. Ich fühlte mich dort sehr viel wohler als im Hotel Intercontinental, einem am Rande der Stadt gelegenen Hotelklotz auf einem Hügel. Die Kellner dort klauten, die Waschbecken, in denen die Köche das Gemüse putzten, benutzten sie ebenso zum Haarewaschen oder zur Morgentoilette.
Ich habe vergessen, wofür das B in B?s Place steht, aber an die Bewohner dieser Herberge im Sommer 2002 kann ich mich gut erinnern. Da war Peter, ein Neuseeländer, der eine medizinische Hilfsorganisation für Frauen leitete. Er suchte damals afghanische Krankenschwestern und einheimische Ärztinnen. Das war schwer, weil die meisten gut ausgebildeten Afghaninnen noch immer im Exil waren oder sich in ihren Burkhas nicht zu erkennen gaben. Als Peter endlich eine Gynäkologin ausfindig gemacht hatte - unter den Taliban hatte sie Berufsverbot gehabt -, erschien sie in einem hellblauen Ganzkörperschleier und brachte ihren Mann mit zum Bewerbungsgespräch. Bevor sie einen Ton sagte, erklärte ihr Mann, der ebenfalls Arzt war: "Es ist besser, wenn Sie mich einstellen." Peter erklärte ihm, das sei nicht möglich, weil seine Organisation bevorzugt Frauen beschäftige, das ganze Programm der medizinischen Schwangerschaftsbetreuung sei ja für Frauen gemacht. Der Ehemann wurde wütend. Er bestand darauf, wenigstens beim Bewerbungsgespräch seiner Frau anwesend zu sein. Peter blieb hart. Der Mann mußte das Zimmer verlassen, die Frau bekam den Job. Zum Abschied, sagte Peter begeistert, habe ihm die Ärztin ein konspiratives Lächeln zugeworfen.

Unsere Abende verbrachten wir meist mit Diskussionen über die Lage im Lande. Neben dem eloquenten Peter stieß dann noch Nancy, eine Journalistin aus New York und Piers, ein aus Islamabad stammender, englischer Fotograf dazu. Ich war der einzige Deutsche, die meisten Gäste kamen aus Staaten des Commonwealth. Mir wurde klar, daß die Briten Kabul nie aufgegeben hatten.
Wir erzählten uns gegenseitig Anekdoten aus aller Welt. Auf Fremde hätten wir wahrscheinlich den Eindruck einer Selbsthilfegruppe von Krisengebietsreisenden gemacht. Wir merkten, daß wir hier in Kabul offener über diese Dinge sprechen konnten als zu Hause. Dort, warf Nancy einmal in die Runde, wollen die Leute gar nicht wissen, wo du gewesen bist. Je mehr du von Landminen oder Kalaschnikows, von abgerissenen Gliedmaßen, von Waisenkindern, obdachlosen Frauen und erschossenen Kriegern erzählst, desto mehr bringst du das Leben desjenigen durcheinander, der dir zuhört und dessen größtes Problem bisher die Erweiterung seines Dispo-Kredits oder der Krach mit seinem Partner oder Vorgesetzten gewesen ist.
Nancy, eine unerschrockene, kräftige Frau aus Manhattan, hatte recht. Es gab wenige Menschen, denen ich nach meiner Rückkehr aus Ländern wie Somalia, Bosnien, Äthiopien, dem Kosovo oder nun Afghanistan wirklich erzählen konnte, was ich erlebt hatte. Und es gab noch weniger, die zuhörten und wirklich mehr wissen wollten, als sie selbst schon über diese Länder zu wissen glaubten. Echte Neugier ist selten geworden im Westen, und ich glaube, das Fernsehen ist daran schuld, weil es Bilder in jedes Wohnzimmer lanciert und die Zuschauer anschließend denken, sie wüßten Bescheid.
So saßen wir also unter einer mächtigen Kiefer in Kabul, tranken abwechselnd grünen und schwarzen Tee und schwiegen nach Nancys Worten. Alle nickten. Es war immerhin ein Trost, zu wissen, daß es offenbar nicht an uns persönlich lag, wenn wir nach unseren Reisen von den meisten Menschen nicht viel mehr gefragt wurden als: "War's schlimm?"

Manchmal gab es Krach, wie in allen Wohngemeinschaften. Als eines Tages eine junge Journalistin vom New Yorker Glamour-Magazine erschien, hing eine Woche der Haussegen schief. Die Kollegin der US-Frauenzeitschrift, die ihren Leserinnen eher Schmink-, Sex- und Beziehungstips verabreicht, als Geschichten aus dem kalten Leben in Kabul zu erzählen, hatte, ohne zu fragen, Nancys Terrasse okkupiert. Ihr Fotograf, ein ungehobelter Kerl, verstopfte jeden Morgen erst die Toilette und dann eine halbe Stunde lang das Badezimmer, das wir uns im zweiten Stock zu viert teilen mußten. Wenn er aus dem Bad kam, war kein heißes Wasser mehr im schmalen Boiler, was Peter auf die Palme brachte. "Du Arschloch, du bist hier nicht im Hilton!" fuhr er ihn an. Der Bursche zog nur die Augenbrauen hoch. Dann machte er sich mit seiner Kollegin wieder auf die Suche nach Prostituierten in Kabul, denn darüber wollten sie eine Geschichte machen, es gab ja sonst nichts zu erzählen aus der afghanischen Hauptstadt. Ohne Sex ging eben nichts bei Glamour, auch nicht in Kabul, und wir waren alle froh, als das New Yorker Schickimicki-Kommando nach einer Woche endlich wieder die Kurve kratzte.

In diesem Sommer verbrachte ich mehr Zeit in Afghanistan als in Deutschland. Mein Zimmer in Matthews Pension wurde zu meinem zweiten Zuhause. Abends saßen wir wie eine Patchwork-Family um den Fernseher herum, guckten Krimis, Schnulzen oder Game-Shows, wie man das eben nach Feierabend macht. Ich habe selten so viele neue Kinofilme gesehen wie in Kabul. Es war kein Problem, an die neuesten, aus China geschmuggelten DVD-Raubkopien heranzukommen, Blockbuster wie Matrix, About a boy oder Herr der Ringe und TV-Serien wie Band of Brothers gab es an jeder Ecke. Sogar die Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea entging uns nicht. Die meisten Sender, darunter auch die ARD, hatten die Live-Spiele zwar aus unerfindlichen Gründen für Satellitenempfang gesperrt. Das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien (6:0!!) mußte ich mir deshalb auf einer Reise nach Khost nahe der pakistanischen Grenze auf Kurzwelle anhören. Schließlich fanden wir aber einen türkischen TV-Sender, der die meisten Spiele live übertrug. Der Kommentator ging uns zwar auf die Nerven, weil er die ganze Zeit rumbrüllte, als würde er gerade in einem Armeesender die Eroberung Nordzyperns kommentieren. Aber nachdem wir den Ton zum Viertelfinale abgestellt hatten, wurde es dann doch noch ein schöner, sonniger Nachmittag in der afghanischen Hauptstadt, in der, nach Jahren der Angst, auf den Straßen plötzlich wieder kleine Jungs zu sehen waren, die in Pluderhosen mit Blechdosen Fußball spielten. Am nächsten Tag kauften Peter und ich ein paar Lederbälle und verteilten sie an die Kids in der Straße. Sie hätten sich fast geprügelt. Ich fragte mich, wie Hilfsorganisationen, die lebenswichtigere Gegenstände oder Nahrungsmittel verteilen, eigentlich ihre Arbeit tun können, ohne bei der Ausgabe an Bedürftige jedes Mal einen Aufruhr auszulösen.



Die größte militärische Katastrophe in der englischen Geschichte begann schleichend und leise, und der Statthalter des Empires, William MacNaghten, übersah im Vergnügungspark Kabul alle ihre dunklen Vorzeichen. Für die eigentlichen Bewohner des Landes, die Afghanen, ihre Stämme und Fehden, ihre jahrhundertealte Kultur, schienen sich die Angehörigen der britischen Kolonie nicht weiter zu interessieren.

"Die Afghanen", schrieb Friedrich Engels, "sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk; sie beschäftigen sich ausschließlich mit Viehzucht und Ackerbau und meiden Handel und Gewerbe, die sie voller Verachtung den Hindus und anderen Stadtbewohnern überlassen. Der Krieg ist für sie ein erregendes Erlebnis und eine Abwechslung von der monotonen Erwerbsarbeit."

Die Aufstände brachen, wie immer in Afghanistan, zunächst unter den Stämmen auf dem Lande fernab der Hauptstadt los. MacNaghten und Keane glaubten, Schah Dhost Mohammed bereits besiegt zu haben, doch die Tatsache, daß er Kabul verlassen hatte, bedeutete nicht Victory, sondern Strategy. In den Stammesgebieten scharte der afghanische Führer neue Anhänger um sich und brachte seine Armee in Ordnung. Schon bald nahmen seine Krieger in vielen Provinzen einen für die Briten verlustreichen Guerillakampf auf, den die Okkupanten zunächst gar nicht begriffen. "Die englisch-indischen Truppen waren gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben", rekapitulierte Engels. "Doch MacNaghten erklärte, das sei der normale Zustand der afghanischen Gesellschaft und schrieb nach Hause, alles sei in Ordnung und die Macht Schah Schudjahs festige sich. Vergeblich waren die Warnungen der englischen Offiziere und anderer politischer Agenten."
Die Bewegungsfreiheit der Besatzungstruppen und ihrer Verbündeten wurde wegen der ständigen Attacken der Afghanen, die Dhost Mohammed die Treue geschworen hatten, immer weiter eingeschränkt. Erhebliche taktische Fehler brachten die Briten dann im Frühjahr und Sommer 1841 in eine fast ausweglose Lage. Nachdem Keane nach Hindustan zurückkehrte und auch Sale mit seinen Truppen im Herbst nach Jalalabad marschierte, seine Frau und Kinder jedoch zurückließ, übernahm General Mountstuart Elphinstone das Kommando der inzwischen stark reduzierten britischen Truppen. Sein Kollege, General William Nott, bezeichnete Elphinstone später als "inkompetentesten Soldaten, der in diesen Rang überhaupt zu finden war". Elphinstone war zwar von hoher Geburt und besaß gute Manieren. Doch militärisch war er eine Null. Engels charakterisierte ihn als einen "gichtleidenden, unentschlossenen, völlig hilflosen alten Manne, dessen Befehle einander ständig widersprachen". Um Schah Schudjah nicht zu brüskieren, hatte der General beispielsweise darauf verzichtet, die Zitadelle Kabuls besetzen zu lassen, einer Festung, die seinen Truppen bequem Platz und den Winter über genügend Wasser geboten hätte. Von Elphinstone ist genaugenommen kein einziger Befehl überliefert, der angesichts der immer desaströseren Lage der Briten in Kabul irgendeinen Sinn gemacht hätte. Immerhin hatte sich der 60jährige Baron nicht um das Kommando gerissen, sich anfangs sogar dagegen gewehrt. Doch die Zentrale in Kalkutta bestand auf seiner Verpflichtung. Elphinstones letzter aktiver Einsatz in einem Krieg war bei der Schlacht von Waterloo gewesen und lag ein Vierteljahrhundert zurück. Man mag fast sagen: Die Briten siegten seinerzeit gegen Napoleon, obwohl Elphinstone dabei war.
Am 2. November erhoben sich die Dhost Mohammed treu ergebenen Stämme. Auch die Bewohner Kabuls revoltierten. Von der chaotischen, unkoordinierten Gegenwehr der Briten ebenso erstaunt wie ermuntert, standen die afghanischen Krieger schon am Tag darauf vor dem Lager der Briten. Am 9. November stürmten die Afghanen das mit nur 80 Mann besetzte britische Versorgungsfort. Die Verpflegung war nun auch verspielt, die Soldaten wurden auf halbe Ration gesetzt.
Angesichts der offensichtlichen militärischen Schwäche versuchte William MacNaghten wenigstens auf diplomatischem Parkett zu retten, was zu retten war. Er begann, mit den Stammesführern über einen freien Abzug zu verhandeln. Die afghanischen Diplomaten luden ihn zum Tee ein, warteten, bis er mit den ihn begleitenden britischen Offizieren vom Pferd gestiegen war. Dann fielen die Krieger, kaum 500 Meter vom Fort entfernt, über die Briten her. Einem der Offiziere wurde der Kopf abgeschlagen; seinen Rumpf stellte man in Kabul auf einem Bazar zur Schau. Die Leiche MacNaghtens wurde vom Mob durch die Gassen geschleift.

Eigentlich hätte das Verhandlungskommando von einer Leibgarde begleitet werden müssen, doch die Soldaten meldeten sich einfach nicht mehr zum Dienst. Elphinstones Autorität war lange zum Teufel. Florentia Sale registrierte seine Führungsschwäche sehr genau. So entsetzte sie sich darüber, daß Elphinstone seinen Adjutanten nicht maßregelte, als dieser einer Lagebesprechung auf dem Teppich liegend beiwohnte. Er machte keine Anstalten, in Gegenwart des Generalmajors Haltung anzunehmen. Elphinstones Zögern und die sich verdüsternde Lage hatte die Truppe demoralisiert. Und auch jetzt, nach dem Verrat und dem Mord an MacNaghten, geschah nichts. Anstatt die Gegner sofort zu attackieren, ignorierte Elphinstone zum Entsetzen aller Offiziere den Vorfall und ging zur Tagesordnung über.
Dann setzten heftige Schneefälle ein. Elphinstone kapitulierte - vor sich selbst und vor dem Feind. Am 1. Januar 1942 unterzeichnete er schließlich eine Kapitulationsurkunde. Die gesamte britische Besatzung, 4500 Soldaten, etwa 12000 Zivilisten, darunter viele Kinder und Frauen sowie unbewaffnete Bedienstete und befreundete Afghanen, verließen innerhalb weniger Tage die Stadt. Nur sechs Kanonen durften die Truppen mitführen, die meisten schweren Waffen mußte die Armee zurücklassen. Auch die Verletzten und Kranken blieben in Kabul. Dhost Mohammed hatte garantiert, daß ihnen kein Haar gekrümmt werden sollte. Doch kaum war der letzte Soldat aus dem Fort abgezogen, steckten die afghanischen Krieger die Zelte und Behausungen der Briten in Brand, massakrierten die Patienten im Lazarett und besetzten die Zinnen des Forts, um noch einige Abrückende mit langen, zielgenauen Flinten zu erschießen.

Den Wegezoll, den seine Leute den Schmugglern abknöpfen, führte Khan dennoch brav in die Hauptstadt ab - jedenfalls sagte er das. Einen Teil, nahm ich an, würde er sicher für sich und seinen Clan behalten, denn so war das hier seit Jahrhunderten üblich, und Khan sah mit seinem Krummdolch, seinem breiten roten Gürtel und goldverzierten Turban nicht so aus, als würde er mit Traditionen brechen.


Gegen Abend erreichten wir Orgun. Der Ort bestand aus einem Dutzend, hinter hohen Lehmmauern verborgenen Häusern und einer Zollstation, die gleichzeitig als Gemeindezentrum diente. Wir machten unseren Anstandsbesuch beim Stammesführer. Er war 32, hieß Asef Khan und lud uns ein, im Gemeindehaus zu übernachten. Auf diese Einladung hatten wir gehofft, denn vor uns lagen noch fünf Stunden Fahrt bis Angur Ada, und die Strecke war nachts besonders gefährlich.

Im Versammlungszimmer des Gemeindehauses hing ein Portrait von Hamid Karzai. Das war ein gutes Zeichen, der Stamm in Orgun schien Kabul gegenüber loyal zu sein. Ich schloß daraus, die Afghanen in Orgun seien Feinde der Taliban und fragte Ebadullah, ob meine Hypothese stimme. Ebadullah sagte: "Das kommt drauf an." Ich fragte, worauf. Er zuckte ratlos mit den Schultern: "Hier draußen weiß man das nie so genau."
Der Raum war brechend voll, ein Ölofen spendete etwas Wärme. Es ist unter Afghanen unüblich, sich gegenseitig zu Hause zu besuchen, denn die Häuser sind heilig und im übrigen den Frauen vorbehalten - der einzige Ort, an dem sie die Burkha ablegen dürfen. Also treffen sich die Männer an öffentlichen Orten wie diesem mit ein paar billigen Teppichen ausgelegten Gemeindehaus, das mit Stacheldraht umzäunt war und an dessen spitzen Dornen braune Kassettenbänder im kalten Abendwind wehten. Ich fragte Ebadullah, was dieses Lametta zu bedeuten habe. Er sagte, daß die Taliban früher sämtliche Lkw, die vom nahen Pakistan die Straße aus den Bergen heruntergekommen seien, nach Musikkasetten durchsucht hätten. Wurden sie fündig, bestraften sie die afghanischen Fahrer mit ein paar Schlägen und zerstörten die Kassetten, die sie zur Mahnung über den Stacheldrahtzaun warfen.
Doch die Taliban waren aus Orgun vertrieben worden und Asef Khan wartete darauf, daß das Leben nun besser werden solle. Khan hoffte auf Hilfe aus Kabul, denn in seiner Heimat, diesem Land der kalten Dürre, gab es außer Zoll nicht viel zu holen. Weil es in dieser Gegend aber immer wieder zu Überfällen der Taliban kam, traute sich keine Hilfsorganisation in diese Ecke Afghanistans. Und weil die Hilfe ausblieb, gab es für Leute wie Khan eigentlich keinen Grund, die Politik des ständigen Frontwechselns zu ändern.

Ich blickte aus dem Fenster in den blauroten Abendhimmel. Ein paar Fichten, Schneekuppen und Sand - das war alles, was es hier gab. Etwa 30000 Menschen leben in dieser feindseligen Landschaft um Orgun. Die Luft ist dünn, Wasser gibt es nur im Fluß. Der Strom wird mit Dieselgeneratoren erzeugt. Aber die hatte der Besitzer, ein reicher Paschtune, bei Wintereinbruch stillgelegt. Die Leute im Dorf hatten ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Also saß man im Dunkeln oder ging früh ins Bett.
Asef Khan wußte langsam nicht mehr weiter. Er fragte mich, was er tun solle. Seit die Taliban vor über einem Jahr besiegt wurden, wartete der 32jährige Gemeindechef darauf, daß das Leben "besser wird". Die US-Armee hatte wenige Kilometer südwestlich eine Zeltstadt für ihre Garnison aufgeschlagen. Etwa 100 Afghanen standen im Söldnerdienst. Doch "es gibt keine gute Nachbarschaft", sagte Khan, "die Amerikaner haben uns enttäuscht."
Oft hatte er die Offiziere gebeten, beim Bau einer Schule und eines Krankenhauses zu helfen. Das nächste Hospital liegt von Orgun mehrere Stunden entfernt. Aber die Antwort war immer dieselbe: "Das gehört nicht zu unseren Aufgaben."
Den Wegezoll, den seine Leute den Schmugglern abknöpfen, führte Khan dennoch brav in die Hauptstadt ab - jedenfalls sagte er das. Einen Teil, nahm ich an, würde er sicher für sich und seinen Clan behalten, denn so war das hier seit Jahrhunderten üblich, und Khan sah mit seinem Krummdolch, seinem breiten roten Gürtel und goldverzierten Turban nicht so aus, als würde er mit Traditionen brechen.


Teil 3