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Deutsche Romane

So läuft es nicht jedes Jahr: Herbst 2008 ist ganz klar die Saison eines einzigen Romans. Nun hat also die DDR noch posthum ihre Buddenbrooks erhalten und ist damit mal wieder einen Schritt weiter als die alte Bundesrepublik. Die Bildungsbürger tummeln sich in Uwe Tellkamps "Turm" () im Städtchen Dresden. Den radikalsten Kommentar schrieb dazu der stolzgeschwellte Bildungsbürger Tilman Krause in der Welt: "Das allein ist schon, nach all dem Wischiwaschi der Christa Wolfs, Volker Brauns, Christoph Heins und tutti quanti, eine nahezu erlösende Tat. So klar antikommunistisch, so voller schneidender Verachtung für das Proleten- und Kleinbürgertum, das 40 Jahre lang im Ostteil dieses Landes sein Gift verspritzen durfte, hat noch keiner, der aus diesen Breiten kommt, den Stab gebrochen." Ob das wirklich die Substanz die Romans ist, müssen die Leser selbst entscheiden - oder vielleicht auch im Interview erkunden, das der ob des Bucherfolgs überglückliche Suhrkamp Verlag auf seine Website gestellt hat (hier findet sich auch eine Leseprobe).

Für die anderen Kritiker tobt in diesem Buch jedenfalls kein retrospektiver Klassenkampf. Dirk Knipphals verspricht den Lesern in der taz ein "einschneidendes Leseerlebnis", jedenfalls ab Seite 54. In der NZZ erlebte Beatrix Langner den Roman mit seinen Intellektuellen, Chirurgen, Verlagslektoren, Kombinatsdirektoren und Rechtsanwälten als "Tauchgang in eine von chemischen Trübungen verdunkelte Unterwassertopografie". Tellkamp ist nicht nur Publikums- sondern auch Feuilletonliebling. Eigentlich alle Kritiker waren mächtig beeindruckt. Die NZZ erwies dem Roman sogar die seltene Ehre einer zweiten, reflektierenden Lektüre. Roman Bucheli meldet hier ein leises Unbehagen an Tellkamps panoramatischer Erzählweise an: "Keinerlei Zweifel und Anfechtungen schwächen hier das Vertrauen in die sinnstiftende Darstellungskraft der (historischen) Erzählung und in die prinzipielle Darstellbarkeit der Geschichte."

Als Pendant zu diesem Roman kann allenfalls Norbert Niemanns "Willkommen neue Träume" () gelten. Dieser Roman schildert auf seinen auch immerhin 600 Seiten die Rückkehr eines Fernsehjournalisten aus Berlin in die Provinz. Der Roman eines Wessis über die alte Bundesrepublik. Die Kritiker waren zwiespältig. Manche empfanden ihn als eine "Menge Holz", andere lasen ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Und dann gab's da noch Sven Regeners "Der kleine Bruder" (). Ist ja in gewisser Hinsicht auch eine Antwort auf den "Turm". Regeners Kreuzbergtrilogie ist damit abgeschlossen. Alle mögen's.

Warum sich die Kritiker praktisch zum Erscheinungstermin auf Dietmar Dath und Christian Kracht stürzten, bleibt rätselhaft. Dietmar Dath, der Suhrkamp in dieser Saison den zweiten Erfolg bescherte, hat mit "Die Abschaffung der Arten" () eine 600-seitige biopolitische Utopie erschaffen, in der Menschen durch Mischwesen ersetzt werden. Die Zeit fand die Mischung aus "futuristischer Seminar- und Cybersprache" irgendwie paradigmatisch. Die NZZ spricht von "Dysotopie", die SZ fand das alles "Quatsch" und auch noch anstrengend. Die FR immerhin hatte das Gefühl, was Großes in den Händen gehalten zu haben und hat viel gelacht. Christian Krachts "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" () schreibt die Geschichte um: die kommunistische Revolution findet in der Schweiz statt. Die SZ sprach mit ihrem Verdikt - gedankliches Durcheinander in stilistischer Brillanz - den meisten Kritikern aus dem Herzen. Nur Dietmar Dath war begeistert und widmete dem Roman den Aufmacher der FAZ-Buchmessenbeilage.

Marion Poschmanns "Hundenovelle" () gehört zu den auffällig vielen Roman und Erzählungen dieses Jahrs, die mit Hunden zu tun haben (angefangen hat es mit Monika Marons "Ach Glück" (), und dann gibt es noch Hilmar Klutes "Winston oder Der Hund, der mich fand" () und Michael Köhlmeiers zum Teil sehr gut besprochene "Idylle mit ertrinkendem Hund" ()). Poschmanns Buch hat die Kritiker bewegt: Die NZZ spricht von "einem Schwindel, einem Abdriften und gleichzeitigen Auftauchen, einer Halluzination".

Außerdem viel besprochen: Alina Bronsky hat mit "Scherbenpark" () ein Debüt aus dem russlanddeutschen Milieu vorgelegt, das einiges Aufsehen erregte Ingo Schulzes "Adam und Evelyn" () wurden schon im August rezensiert und leben heute im Schatten des "Turms". Jan Koneffkes "Eine nie vergessene Geschichte" () ist eine Familiensaga. Zwei von drei Kritikern waren begeistert.

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Übersetzungen

Es gab Jahre, da haben wir die übersetzten Romane in Länder gegliedert: Amerikanische Romane, englische, französische, osteuropäische, skandinavische. Das lohnt sich in diesem Jahr leider nicht, so dominierend waren die deutschen Romane in den Beilagen.

Der neue Roman von Denis Johnson ist ein Epos mit 877 Seiten und verschlägt den Kritikern den Atem. Sie stimmten ab und setzten "Ein gerader Rauch" auf Platz 1 der SWR Bestenliste für Dezember. Vielleicht auch ein Tipp für die Nobelpreiskommission, die sich in dieser Saison mit Ressentiments gegen die amerikanische Literatur disqualifizierte. Es geht um den Vietnamkrieg, und da sind Joseph Conrads "Herz der Finsternis" und Coppolas Film "Apokalypse Now" nicht weit, schreibt Eberhard Falcke in der Zeit. Wirklich alle finden den Roman grandios. Die taz erwähnt aber auch, dass er keine "wirklich nachvollziehbar konstruierte erzählerische Ordnung hat".

Dave Eggers erzählt in "Weit gegangen - Das Leben des Valentino Achak Deng" die wahre vom Bürgerkrieg zerrüttete Lebensgeschichte des jungen Sudanesen Valentino Achak Deng als Roman. Die FAZ findet die Geschichte zu distanzlos erzählt, Eggers schreibe "gewissermaßen als Afrikaner". Die FAS feiert das Buch als "dramatischen Abenteuerroman aus der Welt der Wirklichkeit", und die SZ nennt es ein "bewegendes Dokument".


Vincenzo Consolo ist kein Newcomer: Der sizilianische Autor wurde 1933 geboren. In "Palermo" kehrt ein alter Schriftsteller nach Jahrzehnten der Abwesenheit in seine von der Mafia gezeichnete Heimatstadt zurück. 50 Jahre Zeitgeschichte zittern in diesem kurzen Roman (144 Seiten) mit, schreibt Franz Haas in der NZZ. Dabei ist dieser in Sprüngen erzählte Lebenslauf in ein dichtes Referenznetz von offenen und versteckten Zitaten aus Literatur, Kunst und Musik gebettet, so Haas fasziniert. Die Kürze des Werks nennt er darum "fulminant".

Aravind Adiga hat für "Der weiße Tiger" in diesem Jahr den Booker-Preis bekommen. Die Reaktionen in Indien, England und Amerika waren eher freudlos, denn Adiga erzählt von einem Aufsteiger aus der Unterschicht, der sogar mit einem Mord durchkommt. So viel angewandte Dialektik der Aufklärung behagte den Rezensenten nicht. In Deutschland wurde "Der weiße Tiger", den wir in weiser Voraussicht vorblätterten, dagegen als Schelmenroman aufgefasst und sehr gut besprochen. "Wohltuend unspirituell" fand ihn die taz, eine "Mordsgeschichte" lobte die Zeit und die FAZ mochte das Tempo und den Witz des Romans.

Außerdem gut besprochen: Anne Enright ist mit "Das Familientreffen" die Booker-Preisträgerin des letzten Jahres. Ihr ist laut Rezensenten eine dichte und überhaupt nicht irland-sentimentale Sozialstudie gelungen Miroslaw Nahacz war die Hoffnung der polnischen Literatur. Er hat sich wie sein Idol Ian Curtis von der Band Joy Division 22-jährig erhängt. "Bombel" die assoziationsreich erzählte Geschichte eines Trunkenbolds, hat auch die deutsche Kritiker tief beeindruckt. Heere Heeresma schildert in dem offensichtlich autobiografisch getönten Roman "Ein Junge aus Amsterdam" das Leben in Amsterdam zur Zeit der deutschen Besetzung und Judenverfolgung. "Meisterhaft", laut NZZ. Die FAZ fühlt sich an Primo Levi erinnert.

Auf Jean-Francois Vilars Krimi "Die Verschwundenen" haben wir bereits im November-Bücherbrief hingewiesen. Die "fantastisch faktentreue" Rekonstruktion, das virtuose Ineinanderflechten von Wirklichkeit, Geschichte und Fiktion scheinen das Faszinierende an diesem Roman zu sein - und Dimensionen hat er genug: Er verknüpft das Paris des Jahres 1938 mit dem Prag des Jahres 1989. Nationalsozialismus, Trotzkismus, Stalinismus, künstlerische Avantgarde und Mauerfall sind die Folie, vor der sich der Plot abspielt. "Ein großes Buch, von radikaler Wahrhaftigkeit und Kunst", resümiert fast atemlos Rezensent Thomas Gohlis in der Zeit.


Klassiker

Immer wieder macht sich Hanser mit großen Neuübersetzungen verdient. Dieses Jahr ist Miguel de Cervantes' "Don Quijote" dran, den Hanser zweibändig in der Übersetzung von Susanne Lange vorlegt. Hans-Martin Gauger äußert sich in der FAZ durchweg lobend, weist auch auf das Nachwort Langes hin und beteuert, dass der Trumm durchaus leicht lesenswert ist. Der bekannte Germanist Heinz Schlaffer stellt die Übersetzung in der SZ sogar höher als die klassische Übertragung Ludwig Tiecks.

Raoul Schrotts Thesen zu Homer sind in den Feuilletons nicht so gut angekommen, aber seine Neuübersetzung der "Ilias" für Hanser wird sehr gelobt, in FAZ, SZ, NZZ und FR. Schrott orientiert sich offenbar weniger am Wortlaut als am gemeinten. Und er hat Homers Klassiker mit Schwung ins 21. Jahrhundert befördert. Ein Beispiel: "er zerschmetterte seine stirnhöhlen, die augen flutschten heraus / und in den staub - während er rücklings aus dem wagen kippte / wie ein taucher aus einem boot und voll auf die erde plumpste / wo er keinen zappler mehr tat". Das ist nicht jedermanns Geschmack, und auch die konsequente Kleinschreibung mag abschreckend wirken: Der Mediävist Kurt Flasch hat eine wendungsreiche, amüsante und äußerst informative Kritik zu diesem Buch geschrieben, die einem wirklich bei der Entscheidung hilft. Lesen Sie das!

Michelangelo Antonioni hat diesen Roman verfilmt und daraus ein wunderbares Ballett der Grazie, der existenziellen Geworfenheit und übrigens auch der Emanzipation gemacht. Claassen bringt Cesare Paveses Nachkriegsklassiker "Die einsamen Frauen" in neuer Übersetzung heraus. Fast alle großen Feuilletons haben ihn besprochen - durchweg in höchsten Tönen des Lobes. Erst durch die Fassung von Maja Pflug werde wirklich deutlich, welche "musikalische Magie" Paveses "glasklare, alltagsnahe, an amerikanischen Vorbildern" geschulte Sprache habe, die seine Literatur für die Rezensentin in die Nähe der Neorealisten rücken, schreibt Kristina Maidt-Zinke in der Zeit.


Lyrik

Ausgesprochen magere Ernte dieses Jahr. Am häufigsten besprchen wurden Nico Bleutges "fallstreifen" (), Versuche über Wahrnehmung und das funktionieren des Gedächntisses, wenn man dem Klappentext glauben darf. Es wäre ein Verbrechen sie nicht zu lesen, meint Andreas Wirthensohn in der taz, für den Bletuge eine neue Art der Naturlyrik verkörpert. Auc Michael Braun preist in der NZZ die trancehafte Präzision der Beobachtung. Lothar Müller in der SZ stimmt ein. Hinzuweisen ist außerdem auf einen Band mit ausgewählten Gedichten von W.G. Sebald, "Über das Land und das Wasser" (), der auf Rührung iund Interesse der Kritik stieß.

Und natürlich auf den neuen "Conrady" (). Eigentlich schon ein Standardwerk deutscher Dichtung. Der Artemis und Winkler Verlag hat mit großem Aufwand die jüngste Auflage herausgebracht. Auch neue Lyrik wird berücksichtigt. Manfred Koch nahm die neue Auflage in der NZZ sehr zustimmend zur Kenntnis.






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