Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2002. Die SZ feiert als erste Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" und hält den Vergleich mit den größten amerikanischen Autoren für gerechtfertigt. Die NZZ bringt einen langen Hintergrundartikel zur Vergangenheitsbewältigung in Rumänien. In der taz präpariert Gabriele Goettle einen Berliner Taxidermisten. Die FR befasst sich mit den Intellektuellen und der Macht. Die FAZ empfiehlt Ning Jings Film "I Love Beijing".

FAZ, 24.06.2002

Recht beeindruckt schreibt Andreas Kilb über Ning Jings Taxifahrerfilm "I Love Beijing": "'I love Beijing' sieht streckenweise aus wie der Film einer übergelehrigen Fellini- und Antonioni-Schülerin: leere Stadtwüsten, traurige Luxuspartys und diese Parks im Morgengrauen, in denen alles möglich ist, ein neues Leben oder der endgültige Absturz, Erleuchtung oder Tod. Aber dann schaut die Kamera wieder aus Dezis Taxi auf die vorbeiziehenden Baustellen und Betonburgen, und man erkennt mit Schaudern die schlichte tagebuchartige Wahrheit, den reportagehaften Kern dieses Films."

Weiteres: Joseph Hanimann schickt eine Reportage von der Baustelle des TGV Paris-Straßburg, wo vor Baubeginn präventive archäologische Grabungen durchgeführt werden - eine Praxis, die Hanimann auch anderen Ländern empfiehlt. Mark Siemons beschreibt aus Anlass des 50. Jubiläums den literarischen Stil der Bild-Zeitung. Dietmar Polaczek hat im griechischen Epidauros Peter Steins italienischsprachige Inszenierung von Kleists "Penthesilea" gesehen und fand ein "staunenswertes symbiotisches Ritual aus Sprache, Musik und phonetischer Poesie". Eva Menasse schreibt zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers Gerhard Roth. WWS. schreibt zum siebzigsten Geburtstag des Jazzmusikers und Festivalorganisators George Gruntz. Matthias Pabsch erörtert die Architektur der neuen Fußballstadien in Japan und Südkorea.

Stephanie Sahm liest medizinische Zeitschriften, die sich mit medizin- und bioethischen Themen auseinandersetzen. Markus Breidenich resümiert einen Vortrag von Robert Brain über den Einfluss der Wissenschaftsfotografie Etienne-Jules Mareys (mehr hier und hier) auf die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Niklas Maak schreibt zum Tod des Architekten Jean Balladur. Auf der letzten Seite schreibt Wolfgang Sandner ein kleines Profil Daniel Dvoraks, des Intendanten der Prager Staatsoper. Und Christian Geinitz kündigt die Veranstalung MEXartes-Berlin.de an, mit der das Goethe-Institut im Berliner Haus der Kulturen einen Überblick über mexikanische Kultur geben will. Martin Lhotzky resümiert einen Vortragszyklus zur Erforschung der Metropole am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.

Auf der Medienseite belegt eine kleine Meldung über Stellenstreichungen bei der NZZ, wie gereizt die Stimmung in der Branche ist: "Die Neue Zürcher Zeitung, eben noch scharfzüngige Begleiterin des hiesigen Verlagsgeschehens, nutzt die Ungunst der Stunde und tut kund, dass wegen der Anzeigenflaute Stellen fallen, weil das Werbeaufkommen um ein Viertel gesunken sei." Souad Mekhennet schreibt über das syrische Computerspiel "Under Ash", das es arabischen Jugendlichen erlaubt die Intifada der achtziger Jahre nachzuspielen. Andreas Rosenfelder begleitet den Musiksender Viva auf seinem in die Globalisierung, der ihm durch den Einstieg des Medienriesen AOL nun gestattet wird.

Besprochen werden die Ausstellung "hell-grün" im Düsseldorfer Hofgarten, das Stück "Apocalipse 1,11" des Teatro da Vertigem aus São Paulo beim Kölner "Theater der Welt"-Festival, eine Ausstellung mit Scherenschnitten und anderen Arbeiten von Kara Walker in Berlin, ein Konzert Van Morrisons in Mainz, eine "Carmen" unter Peter Mussbach bei den Zürcher Festwochen und die maoistische Peking-Oper "Jiang Jie" beim Kölner "Theater der Welt".

NZZ, 24.06.2002

Eine sehr ausführliche Bestandsaufnahme der rumänischen Auseinandersetzung mit seiner kommunistischen Vergangenheit schickt der Publizist Edward Kanterian. Er schildert eine reiche Memoirenproduktion, einige engagierte Fernsehsendungen und stellt das Internationale Studienzentrum des Kommunismus vor, das er mit der Shoa-Foundation und der russischen Memorial-Stiftung vergleicht. Verallgemeinernd schreibt er über den Vergleich zum Holocaust: "In Osteuropa hört man des Öfteren die verbitterte Klage, dass sich der Westen zwar eine Erinnerungskultur hinsichtlich des Holocaust leiste, gegenüber dem millionenfachen Tod im Gulag aber blind sei. Dies ist zutreffend, doch beruhen die Gründe für diese Asymmetrie nicht auf einer Verschwörung, sondern sind historisch begründet: Die kommunistischen Verbrechen wurden über Jahrzehnte hinweg an disparaten Opfergemeinschaften verübt, die, anders als bei den Shoah-Überlebenden, kein einheitliches Kollektivgedächtnis im Westen entwickeln konnten."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod des Genetikers und Bioethikers Erwin Chargaff. Nick Liebmann gratuliert George Gruntz zum Siebzigsten. Marc Zitzmann stellt die Programmpolitik des Dirigenten David Robertson für das Orchestre National de Lyon vor. Besprochen werden Bizets "Carmen" in Zürich, das Eröffnungskonzert der Zürcher Festspiele mit Gennady Rozhdestvensky und Verdis "Nabucco" in Sankt Gallen.

FR, 24.06.2002

Christian Schlüter hat sich tief ins Brandenburgische begeben, nach Genshagen zum Berlin-Brandenburgischen Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit, wo Richard von Weizsäcker, Erhard Eppler, Wolfgang Mommsen, Henri de Bresson u.a. mit Rudolf von Thadden - und zu seinen Ehren - über die Intellektuellen und ihr Verhältnis zur Macht zu sprechen. Die Diskussion scheint allerdings nicht viel fruchtbarer gewesen zu sein als der märkische Sand. "Einige versuchten es mit Mutmaßungen über das Komplexitätsgefälle von der einen zur anderen Seite. Oder erzählten die nicht ganz unbekannte Geschichte von der Dreifuss-Affäre und dem J'accuse von Emile Zola. So war es dem Pariser Philosophen Heins Wismann vorbehalten, angesichts derlei Gegensätze einen Vorschlag zur Güte zu unterbreiten. Die Zeit der organischen Intellektuellen, der in Parteien oder anderen gesellschaftlichen Großgruppen organisierten Funktionäre sei vorbei."

Weitere Artikel: Wilfried F. Schoeller erinnert an die Ermordung Walther Rathenaus vor 80 Jahren, Stephan Hilpold hat sich in der Wiener Kunsthalle die Schau "Tableaux vivants" angesehen.

Besprochen werden noch Bücher: etwa das Manifest der italienischen Philosophin Paola Cavalieri "Die Frage nach den Tieren. Für eine erweiterte Theorie der Menschenrechte", Ingrid Richters Studie "Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich" oder der vom Komitee für Grundrechte und Demokratie herausgegebene Band "Verpolizeilichung der Bundesrepublik Deutschland. Polizei und Bürgerrechte in den Städten" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.06.2002

Wie an jedem letzten Montag schreibt Gabriele Goettle in der taz. Diesmal hat sie sich auf ihrer Erkundungsreise durch die deutschen Lande zu einem Taxidermisten begeben - einen Tierpräparator. Kleine Leseprobe: "Laden und Werkstatt von Ingo Kopmann liegen im preiswerteren Teil Charlottenburgs, dort, wo der Bezirk an Tiergarten und Moabit angrenzt. Über dem Laden steht BERLINER PRÄPARATORENWERKSTATT. Im kleinen Schaufenster verlocken die ausgestellten Präparate den Vorübergehenden zum Stehenbleiben. Ein Katzenskelett in gehender Haltung beherrscht die Bühne, gemeinsam mit einem Hundeschädel. Drumherum, in schönen alten zylindrischen Gläsern, schweben die eingelegten Präparate in hellen Flüssigkeiten. Gezeigt werden die Entwicklungsphasen, vom Embryo zur Ratte, zum Huhn, ein Krebs mit seinen Eiern, ein aufgeschnittener Fischleib mit allen Organen und Schwimmblase. Ein Hirschkäfer ruht innerhalb seiner Larve, zart, silbrig-weiß ist sein Geweih, eng angelegt an den Körper und zusammengefaltet, wie alles an ihm. Auf diese Szenerie blickt ein erhöht im Laden stehender Schwan mit vorwurfsvoller Sorge."

Früher auf der anderen Seite der Barrikade, gratuliert jetzt auch die taz der Bild-Zeitung zum Fünfzigjährigen. Über die bunten Seiten der Macht meint Stefan Kuzmany: "Dabei ist die Bildzeitung vergleichbar einem Big Mac. Sieht aus wie schlau. Ist aber doch nur Claus Jacobi. Liegt schwer im Magen. Muss schnell wieder ausgeschieden werden - im Gespräch beim Frühstück, beim Mittagessen, beim Bier am Abend: Ihr Gedankenmüll kontrolliert die Kommunikation, auf dass diese so gedankenarm wie Bild bleibe. Bloß keine Fragen stellen. Konsumieren. Glück ist käuflich."

Schließlich Tom.

SZ, 24.06.2002

Heute erscheint Jonathan Franzens sehnsüchtig erwarteter Roman "The Corrections" auf Deutsch. Thomas Steifeld jubiliert und hält sämtliche Vergleiche mit Fitzgerald, Updike oder DeLillo für völlig gerechtfertigt. Eine Epoche, einen ganzen Gesellschaftszustand zu erfassen und bis zur äußersten Deutlichkeit herauszuarbeiten, gelinge Jonathan Franzen mit seinem Buch, "das auf überraschende Weise konventionell daherkommt, das die literarische Moderne in sich aufgenommen hat und mit den Mitteln des neunzehnten Jahrhunderts übertrumpft - und eine erschütternd gelungene Erneuerung des angloamerikanischen Gesellschaftsromans ist, eine Familienchronik, mit Witz, Ironie und stupender Beobachtungsgabe geschrieben. Nicht einmal der 11. September hat dem grandiosen Erfolg dieses Buches schaden können. Denn die Geschichte, die es erzählt, ist auf grausam schöne, schrecklich lustige Weise wahr. Und nachvollziehbar für jeden Vater, jede Mutter, jedes Kind ... Der Roman 'Die Korrekturen' ist ein Denkmal der Intimität, und damit auch einer Sympathie, die so groß ist, dass man damit auch gegen Weltnachrichten bestehen kann."

Regisseur Luc Bondy, in diesem Jahr Intendant der Wiener Festwochen erklärt im Gespräch mit Uwe Mattheiß, wie es in der Stadt um die Kunst bestellt ist. Natürlich ganz schlecht. "Wien hat keine entwickelte Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung. Die Debatte kennt nur eine Temperatur, nämlich die des Skandals, und das Niveau ihrer Repräsentanz ist in manchen Medien erbärmlich. Da ist Wien wahrscheinlich die schlimmste Stadt der Welt."

Weitere Artikel: Vor 80 Jahren wurde Walther Rathenau, ermordet. Der Historiker Peter Reichel meint, dass Rathenau (mehr hier) für die Rechte "tot gefährlicher als lebendig" war. Der Zürcher Pädagogik-Professor Jürgen Oelkers hält den internationalen Wettbewerb für den eigentlichen politischen Effekt der Pisa-Studie und fordert einen kompletten Umbau des deutschen Schulsystems und bessere Lehrer. Von Sonja Zekri erfahren wir, dass Julian Nida-Rümelin heute aus Sankt Petersburg die Fenster der Marienkirche von Fankfurt an der Oder abholt. Martin Urban würdigt den verstorbenen Chemiker und Philosophen Erwin Chargaff. Und Jörg Drews berichtet von einer Tagung zu James Joyce in Triest.

Besprochen werden die lange Theaternacht für kurze Texte in Kassel, die Zürcher Inszenierung der "Carmen" von Peter Mussbach und Michel Plasson, das in diesem Jahr Frauenbildern gewidmete Festival "Photo Espana 2002" in Madrid (mehr hier), die Münchner Musica Viva, bei der es Neues von Riehm und Schnebel zu hören gab, der Klamaukfilm "Stefan & Erkan gegen die Mächte der Finsternis" und Bücher, darunter Jacques Attalis bisher nur Französisch erschienene Wirtschaftsgeschichte des Judentums "Les Juifs, le monde et l?argent", die Edition "Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914 - 1918" von Simone Hank und Hermann Simon, Karl Otto Hondrichs Aufsätze "Wieder Krieg" sowie ein Kanon des Computerspiels (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).