9punkt - Die Debattenrundschau

Algorithmen trimmen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2017. Wahlen im Iran: Bahman Nirumand graut's in der taz vor dem Kandidaten Ebrahim Raisi, der für Tausende von Hinrichtungen verantwortlich ist. Der Staat entdeckt das Internet: Was es hier noch alles zu regulieren gibt! Als erstes will die SPD jetzt Google zwingen, die öffentlich-rechtlichen Sender zu privilegieren, fürchtet die FAZ. Vor der neuen Mitgliederversammlung erzählt Wolfgang Michal in seinem Blog die interessante Vorgeschichte der VG Wort. Und die NZZ macht sich Sorgen um die Schweizer Verlage.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.05.2017 finden Sie hier

Urheberrecht

Die bervorstehende Mitgliederversammlung der VG Wort wird mit Spannung erwartet. Martin Vogel, der das berühmt-berüchtigte Urteil gegen die bisherige Verteilungspraxis erstritten hat, hat sich bereits vor ein paar Tagen im Perlentaucher zu Wort gemeldet. Mehr dazu auch bei der VG Info.

Wolfgang Michal erzählt in seinem Blog die sehr interessante Vor- und Frühgeschichte der VG Wort - die zunächst auf eine Initiative von Autoren (die "Gesellschaft zur Verwertung literarischer Urheberrechte", abgekürzt GELU) zurückging, bis sich die Verleger mit aller Macht hineindrängten: "Der 'Krieg' gegen die neue Verwertungsgesellschaft der Autoren hatte schließlich Erfolg. Unter dem Druck der Angriffe und der geringen Einnahmen der Gesellschaft zerbrach die Solidarität der Schriftsteller. Als im Herbst 1957 auch noch Gerüchte über hohe Schulden und unlauteres Geschäftsgebaren die Runde machten, war es so weit: Auf Initiative des S. Fischer Verlags trafen sich im November 1957 einige Autoren und Verleger in Frankfurt, um an der strauchelnden GELU vorbei die 'Arbeitsgemeinschaft literarischer Autoren und Verleger' aus der Taufe zu heben. Aus dieser Arbeitsgemeinschaft entstand wenige Monate später - mit finanzieller Unterstützung des Börsenvereins - die VG Wort."
Archiv: Urheberrecht

Internet

Heute wird im Bundestag über das drohende Netzwerkdurchsetzungsgesetz debattiert, mit dem Heiko Maas Facebook zum Zensor machen will. Aber es drohen noch andere Regulierungen einer plötzlich auf ihre Zuständigkeit pochenden Bürokratie, fürchtet Michael Hanfeld in der FAZ. So will die SPD neuerdings, dass Google die Inhalte der öffentlichen-rechtlichen Sender bevorzugt behandelt. Offenbar sehen die Sozialdemokraten das ganze Netz als Rundfunk und möchten wie bei der "Must Carry"-Vorschrift des Rundfunkrechts agieren. Sie zwingt Kabel-Anbieter, die öffentlich-rechtlichen Sender anzubieten: "Übertrüge man das aufs Netz, hieße das, Google & Co. müssten ihre Algorithmen darauf trimmen, ARD und ZDF, wie bei der Fernbedienung fürs Fernsehen, auf die ersten Plätze zu setzen. Wie sich das mit der Meinungsfreiheit verträgt, müssen die Sozialdemokraten erklären."

Die EU will zwar "Geoblocking" - also die Sperrung gewisser Internet-Inhalte in gewissen Ländern -  einschränken, aber viel zu schüchtern, meint die EU-Abgeordnete Julia Reda, die mit Kollegen einen Aufruf ausarbeitete: "Geoblocking sperrt ein europäisches Publikum von weiten Teilen der kulturellen Vielfalt Europas aus, und Kulturschaffende in Landesgrenzen ein. Besonders hart trifft es Angehörige sprachlicher Minderheiten, außerdem innereuropäische Auswandererinnen und Auswanderer, Austauschstudierende, Menschen, die Sprachen lernen, Startup-Unternehmen und viele mehr. Die aktuell geplanten Maßnahmen bleiben weit dahinter zurück, die Fehlermeldung 'Dieser Inhalt ist in deinem Land nicht verfügbar' dort zu beseitigen, wo die Menschen in Europa am häufigsten darauf treffen: Beim Zugriff auf Videos."

Tomas Rudl liefert auf Netzpolitik Hintergründe zum Thema Geoblocking. Künftig wird man sein Netflix-Abo auch im europäischen Ausland nutzen dürfen: "Allerdings umfasst die Verordnung bloß die Weiternutzung kostenpflichtiger Abo-Inhalte - den Zugriff auf Live-Streams oder auf Mediatheken öffentlich-rechtlicher Anstalten regelt das Gesetz nicht, ebensowenig wie das Abschließen von Online-Abos im EU-Ausland. Weiterhin kann man als deutscher EU-Bürger keinen Vertrag etwa mit dem griechischen Netflix-Ableger eingehen oder ungehindert aus einem beliebigen Mitgliedstaat das polnische TV-Programm ansehen."

Außerdem: In der NZZ warnt Evgeny Morozov mal wieder vor der Übermacht böser Digitalkonzerne, ohne auch nur den Schatten einer Gegenstrategie anzubieten.
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Politik

Heute sind Wahlen im Iran. Bahman Nirumand graut's in der taz vor dem konservativen Präsidentschaftskandidaten Ebrahim Raisi, dem wichtigsten Herausforderer Hassan Rohanis. "Die Rolle, die Raisi in der Vergangenheit spielte, ist alles andere als rühmlich. Er gehörte zu den drei Personen, die 1988 von Ajatollah Chomeini ernannt wurden, um über das Schicksal von tausenden politischen Gefangenen in den überfüllten Gefängnissen zu entscheiden. Die Entscheidung des Trios konnte dann härter nicht ausfallen: Mehrere tausend Gefangene wurden aufgrund ihrer politischen Ansichten in Schnellgerichten, die nur wenige Minuten andauerten, zum Tode verurteilt und hingerichtet."
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Kulturmarkt

Dem Schweizer Dörlemann Verlag geht es schlecht. Derzeit sucht er per Crowd-Funding 60.000 Franken für die Unterstützung seiner Verlagsarbeit, berichtet Martina Läubli in der NZZ. Und er ist nicht der einzige Schweizer Buchverlag in der Krise: "Die digitale Sammelaktion ist ein Hilferuf. Dem Verlag steht das Wasser bis zum Hals. Neue Projekte in Angriff zu nehmen, ja überhaupt in die Zukunft zu planen, sei nicht mehr möglich. 'Wir sind in eine Währungsproblematik geraten, die wir so nicht voraussehen konnten', sagt Dörlemann. Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Januar 2015 hat neben der Exportindustrie und dem Detailhandel auch Schweizer Verlage und Buchhandlungen schwer getroffen. Die Umsatzverluste summieren sich auf mindestens 20 Prozent."
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Medien

Emmanuel Macron hat Ärger mit der französischen Presse. Für seine erste Reise in den Mali behält sich der Elysée-Palast selbst die Auswahl der Journalisten vor, die mitkommen dürfen. Bisher bestimmen die Redaktionen die Journalisten selbst. Libération und Le Monde bringen einen Offenen Brief, der ihren Standpunkt klar macht. Man verstehe zwar die Notwendigkeit von Pools bei solchen Reisen, aber "es obliegt in keinster Weise dem Elysée, die Auswahl über diejenigen unter uns zu treffen, die über eine Reise berichten dürfen, wie auch immer das Thema lautet (Verteidigung, Diplomatie, Wirtschaft...). Es obliegt nicht dem Präsidenten der Republik oder seinen Beamten über die internen Abläufe von Redaktionen und ihre Berichterstattung zu entscheiden."
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Ideen

Robert B. Silvers, der kürzlich verstorbene legendäre Chefredakteur der New York Review of Books, der seit dem Tod seiner ebenfalls legendären Kollegin Barbara Epstein allein über die Inhalte des Blattes entschied, hat einen Nachfolger: Ian Buruma, meldet die legendäre Zeitschrift in ihrem Blog.

Viel retweeted wird Jia Tolentinos New-Yorker-Artikel über den angeblichen Tod eines in Amerika in den letzten Jahren weit verbreiteten Genres, des "personal essay" in Ich-Form über zum Teil intimste Themen. Das Internet hatte zu diesen Exzessen geführt: "Die Leute lieben es, über sich selbst zu sprechen, und nun hatte man ihnen eine Plattform und keine Regeln gegeben."
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Überwachung

Chelsea Manning ist nach sieben Jahren Gefängnis seit gestern wieder frei. Auf Instagram postet sie ihr erstes Selfie - natürlich unter einer CC-BY-SA-Lizenz.

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Europa

In Berlin steht das LKA im Verdacht, den gewerbsmäßigen Drogenhandel des tunesischen Islamisten Anis Amri erst ignoriert zu haben und später Akten manipuliert zu haben, um sein Wissen zu vertuschen. Das hat der Sonderermittler Bruno Jost herausgefunden, berichten Jens Schneider und Ronen Steinke auf der Seite 3 der SZ: "Schon zuvor hat es im LKA Seltsamkeiten gegeben. Vor zwei Wochen erst beklagte sich der Generalstaatsanwalt von Berlin, Ralf Rother, dass die LKA-Ermittler ihn nicht informiert hätten, als sie im Juni oder Juli 2016 eigenmächtig die Observation des Gefährders Amri einstellten. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte sogar noch Mitte August eine Verlängerung der Observation richterlich genehmigt bekommen, ohne zu wissen, dass die Polizei die Observation Amris bereits eingestellt hatte. Desselben Amri, der in Deutschland unbehelligt unter 14 verschiedenen Decknamen unterwegs war."
Archiv: Europa