Efeu - Die Kulturrundschau

Singsang unserer Zeit

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14.01.2021. Im Filmdienst graust es Lars Henrik Gass vor der Abschaffung des individuellen Filmemachers zugunsten des Filmschaffenden, den er sich nur als Untertan vorstellen kann. In der nachtkritik hat der Theaterregisseur Tim Tondorf dagegen die Nase voll vom Theatergenie, das er sich nur als alten weißen Mann vorstellen kann. Die FAZ ist hin und weg von den Konzertfilmen des DSO-Symphonieorchesters, in denen die Trompeter, Hornisten und Posaunisten die Waldschrate geben. Der Tagesspiegel spaziert durch eine virtuelle Ausstellung zum Einfluss Caravaggios. In der SZ möchte sich Lukas Bärfuss in der Coronakrise dem "Scheißdreck" der Wirklichkeit stellen. Und: Die Musikkritiker gratulieren der großen Caterina Valente zum Neunzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.01.2021 finden Sie hier

Film

Wer aus Filmemachern "Filmschaffende" macht, bewegt sich "bereits in der Struktur autoritärer Sprache, ist freiwillig untertan, Mitläufer", schreibt Lars Henrik Gass in einem großen Essay für den Filmdienst, in dem sich der Filmhistoriker in einem ziemlich energischen Rundumschlag dagegen richtet, dass Kunst und Film per Förderung für sozialpolitische Maßnahmen in den Dienst genommen werden. Den Begriff "Kulturschaffende" haben die Nazis zwar nicht erfunden, aber doch durchgesetzt, erklärt er - um Künstler an den Staatsdienst zu binden. "Was am 'Regisseur' problematisch wurde, Willkür und Exzess des Subjekts, die grobe Verletzung subjektiven Rechts, soll der 'Filmschaffende' in gesellschaftlichen Konsens verwandeln. ... Das Verständnis von 'Kulturgut' ist national geblieben, auch nach 1945, denn es wurde entweder 'kriegsbedingt verlagert' oder muss gegen Einfluss oder gar Ansprüche von außen, vor Restitution geschützt werden. 'Für mich ist der Film zuallererst ein Kulturgut', sagt die Kulturstaatsministerin. Hätte sie Kunst gesagt, wäre es wahrscheinlich um das Filmförderungsgesetz geschehen gewesen, denn wäre Film in diesem Land als Kunst angesehen, erwartet und gefördert, gäbe es vielleicht aufregendere Filme und auch eine Perspektive für das und nicht nur Liebe zum Kino als einer kulturellen Praxis, die der Gesellschaft auch dann noch erhalten bliebe, wenn die Geschäfte damit längst gemacht sind."

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Stefan Hochgesand die online stattfindende Queerfilmnacht. Im "Bayerischen Feuilleton" des BR2 befasst sich Joana Ortmann ausgiebig mit den bayerischen Sexklamotten des Alois Brummer aus den 70ern. Susan Vahabzadeh (SZ) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren Faye Dunaway zum 80. Geburtstag. Die Münchner Filmzeitschrift SigiGoetz-Entertainment meldet außerdem den Tod des Regisseurs Jürgen Enz, dem mit "Herbstromanze" 1980 laut ihres Autors Christoph Huber "ein kitschverstrahlter Heimatfilm" gelungen ist, "vom lange nur als Sexfilmregisseur wahrgenommenen Jürgen Enz mit Bresson'scher Klarheit zur abgründigen Ultrakunst verdichtet."

Besprochen werden Regina Kings auf Amazon gezeigter "One Night in Miami" über ein fiktives Treffen zwischen Cassius Clay, Malcolm X, Sam Cooke und Jim Brown (taz), Bjarne Mädels Regiedebüt, der vom Ersten online gestellte Krimi "Sörensen hat Angst" (taz), Martin Scorseses Netflix-Porträt "Pretend it's a City" über Fran Lebowitz (Presse) und Daniel Nolascos "Vento seco" (taz).
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Bühne

In der nachtkritik trampelt der freie Regisseur Tim Tondorf noch ein bisschen auf dem "alten weißen Mann" und seiner "neoliberalen" Theaterpolitik herum, den er zugunsten von Kollektiven und unkündbaren Schauspielern ersetzt sehen möchte, wenn wir das richtig verstehen: "An den großen Häusern werden mit den großen Regie-Namen regelmäßig große Gast-Stars für die großen Rollen verpflichtet (siehe 'teure, verchromte Edelstücke'). An den mittleren Häusern wird alles unter 30, was nicht schnell genug sesshaft wird und sich dem gewünschten Spielstil von Intendanz und Haus-Regie anpasst, mindestens alle zwei Jahre gnadenlos ausgetauscht ('Wir haben leider nicht das gefunden, was wir beim Vorsprechen in dir gesehen haben.') oder so lange bei den Regie-Teams angeschwärzt ('Die ist schwierig. Sehr schwierig. Schwierige Kollegin.'), bis der hoffnungslos verunsicherte oder komplett unterforderte Nachwuchs von alleine das Feld räumt (vulgo: Platz macht für ein 'frisches Gesicht')."

Laut einer vom Konzerthaus Dortmund in Auftrag gegebenen neuen Studie können Konzerte, Opern- und Theateraufführungen in Gebäuden mit moderner Klimatechnik nicht zu Superspreader-Events werden, schreibt Frederik Hanssen, der im Tagesspiegel detailliert auflistet, wie getestet wurde: "Als 'hervorragende Untersuchung mit viel Aussagekraft' bezeichnete Heinz-Jörn Moriske, Direktor und Professor im Umweltbundesamt, das Ergebnis und betonte, dass eine 50-prozentige Besetzung der Säle künftig sinnvoll ist. Eine geringere Auslastung habe nämlich 'keinerlei Mehrwert für den Infektionsschutz'. In den meisten Sälen waren deutschlandweit nach der Sommerpause aber zumeist nur Belegungen von 20 bis 25 Prozent erlaubt. 'Bei schachbrettartiger Verteilung der Gäste und 100 Prozent Volllast der raumlufttechnischen Anlage ist das Infektionsrisiko sehr gering', so Moriske, 'das Tragen von Mund-Nasen-Schutz im Saal ist nicht von so großer Bedeutung wie vorher angenommen'."

Außerdem streamt die nachtkritik heute abend ab 20 Uhr live "The Digital Assembly / Die Versammlung" von Porte Parole an den Münchner Kammerspielen ("Auch hier ist die Beteiligung des Publikums im digitalen Raum ein zentraler Bestandteil der Inszenierung. Die entsprechenden Links und technischen Details erhalten Sie vor der Veranstaltung per E-Mail", kündigen die Kammerspiele auf ihrer Webseite an.)
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Literatur

Lukas Bärfuss' Rat, wie man über den Coronawinter kommt, noch dazu mit der Aussicht, dass mit der Klimaerwärmung das Schlimmste eh noch auf uns zukommt, während gerade Fanatiker das Kapitol in den USA gestürmt haben? Sich nicht einigeln, sondern sich dem "Scheißdreck" der Wirklichkeit einfach ohne Rücksicht auf sich selbst zu stellen, schreibt der Schriftsteller in der SZ. Mit Erleuchtung, höheren Wahrheiten und Social-Media-Buzz brauche man ihm gar nicht erst kommen: "Der religiöse Duktus ist der Singsang unserer Zeit. Zu viele wähnen sich endgültig auf der richtigen Seite, der Seite der Erleuchteten", doch "für das Denken ist es tödlich, wenn ein Wort keinen Widerspruch mehr findet. ... Genau darin liegt die Gefahr der religiösen Diskurse: Sie lassen vergessen, dass diese Krisen kein Schicksal, sondern von Menschen verantwortet sind. Deshalb können sie von Menschen auch verändert werden. Das ist auch der Grund, weshalb ich nur von der Wirklichkeit Trost erwarte - und noch immer erhalten habe. Erst die Wirklichkeit zeigt mir, dass und wie ich handeln kann."

Weiteres: Für die SZ plaudert Alex Rühle mit Julius Deutschbauer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, seinerseits mit Menschen über Bücher zu sprechen, die sie nicht gelesen haben. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erzählt Frank Trende, wie Hans Christian Andersen einmal auf der Insel Föhr nach einem Sturm auf ein Seemannsgrab stieß.

Besprochen werden unter anderem Hideo Yokoyamas Krimi "50" (FR), Mila Haugovás "Zwischen zwei Leeren" (taz), Dana Rangas "Cosmos" (FR), Davide Reviatis Comic "Dreimal spucken" (Tagesspiegel), Julian Barnes' "Der Mann im roten Rock" (Tagesspiegel, SZ) und Maja Gal Štromars "Denk an mich, auch in guten Zeiten" (FAZ).
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Musik

Hin und weg ist FAZ-Kritiker Max Nyffeler von den ersten beiden Konzertfilmen des DSO-Symphonieorchesters, die heute Abend durch ein drittes im Livestream ergänzt werden. Wobei, was heißt da schon "Konzertfilme"? Die Videos bestechen vielmehr "als hinreißende Visualisierung eines Stücks Gegenwartsmusik", für die ordentlich Auftritt betrieben wurde. " Gedreht wurde in Schinkels sanierter Friedrichswerderscher Kirche in Berlin: "Die hier dauerhaft ausgestellten klassizistischen Skulpturen, säkularisierte Nachbilder antiker Götter, führen im Film einen stummen Dialog mit der Musik: Mozarts 'Jupitersymphonie'. Wenn nur der extrem lange Nachhall nicht wäre! ... Überraschend klar, trotz der Aufnahme im Freien, klingt dagegen das kurze Bläser-Intermezzo von Adámek. Schauplatz ist der herbstlich kühle Wald, die acht in Mäntel und Jacken gehüllten Trompeter, Hornisten und Posaunisten gucken wie Waldschrate hinter den Bäumen hervor und legen sich auch mal ins Laub. Dabei wird immer geblasen. Die Szene wirkt leicht surreal." Den ersten Teil gibt es hier, die surrealen Szenen im zweiten Teil kann man hier sehen:



Die Feuilletons gratulieren Caterina Valente zum 90. Geburtstag. Ihr Leben und Schaffen hält eine "Lehrstunde" bereit und zwar in "Konsequenz, körperlicher Disziplin, eisigem Fleiß, sehr harter Arbeit am eigenen Können und Verzicht auf alle Starallüren zugleich", schwärmt Jan Feddersen in der taz. Populär wurde sie, "weil sie in ihrem Fach alles beherrschte: singen in allen Tonarten, tanzen mit allen Schrittfolgen - für ihre Kolleg:innen gewiss furchteinflößend. Sie war der erste internationale Popstar (nicht nur) in der Bundesrepublik, immer populär, aber auch stets mit dem gewissen Flair kühler Distanziertheit." Und sie war in ihren großen Tagen mehr als die Schlagersängerin, auf die sie in Deutschland meist reduziert wird, erinnert sich Harry Nutt in der FR: "Sie sang Jazz und war eine der Ersten, die den Bossa Nova nach Europa brachten." Dem schließt sich auch Manuel Brug in der Welt an: Die Valente hat immerhin auch "eine grandiose Chansonkarriere hingelegt. ... Sechs Sprachen spricht sie, in dreizehn hat sie gesungen, dabei mit versatiler Leichtigkeit und bester Gesangstechnik mehr als ein halbes Dutzend musikalischen Genres durchtänzelt - Schlager, Jazz, Swing, Scat, Blues, Chanson, Bossa Nova." Und Dean Martin brachte sie einst den Samba bei:



Außerdem: Wenn das Reisen für Musiker derzeit und wohl auch bis auf weiteres noch flachfällt, hat Merle Krafeld für VAN sie wenigstens nach Erinnerungen an ihre schönsten Reiseerlebnisse befragt. Für VAN vergleicht Arno Lücker Aufnahmen von Bachs 4. Brandenburgischem Konzert. Außerdem schreibt Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen über Sophie-Carmen Eckhardt-Gramatté.

Besprochen wird Jazmine Sullivans Album "Heaux Tales", auf dem laut ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt zwar "alles Kränkung, Bedauern und Verletzung ist", aber dafür klingt "dieses Gefühls- und Beziehungschaos" immerhin ziemlich gut.

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Architektur

Der arme Axel Springer Konzern, dem ohne Leistungsschutzrecht und ein auf ihn zugeschnittenes Urheberrecht die Pleite droht, hat sich von Rem Koolhaas ein riesiges zusätzliches Medienhaus bauen lassen (unsere Resümees). Dort eingezogen sind allerdings kaum Journalisten, sondern vor allem die "Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Preisvergleichsplattform", erfahren wir in der NZZ von Florian Heilmeyer, der schwer beeindruckt ist von dem Gebäude: "Quer durch den Block zieht sich eine Diagonale, die an der Südwest- und der Nordostecke in einer vielfach gebrochenen Glasfassade die schwarze Hülle demonstrativ aufbricht, wie eine starke innere Kraft, die das Gestein zum Bersten bringt. Die Geste wird in der Dämmerung und nachts noch deutlicher, wenn hinter den dunkel getönten Glasscheiben die rechteckigen Bürofenster in sanftem Gelb zu leuchten beginnen. Sie erzählen von der Arbeit im Inneren und von den einzelnen Zellen, die dem Gebirge Form geben. Von einem 'Kraftwerk der Kreativität' spricht der Verlagschef Mathias Döpfner gerne, einem Symbolgebäude, das zeige, wie die Arbeit im 21. Jahrhundert organisiert werden könne." Das braucht man auch für Preisvergleiche!
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Kunst

Um ihn kreist die Dresdner Ausstellung: Caravaggios "Johannes der Täufer", 1602
Bernhard Schulz besucht für den Tagesspiegel die - wie er schreibt: ganz vorzügliche - virtuelle Ausstellung "Caravaggio. Das Menschliche und das Göttliche" in Dresdens Gemäldegalerie, die zeigen will, welchen Einfluss Caravaggio auf nachfolgende Maler hatte. "Die Ausstellung hat Stephan Koja, der Direktor der nach ihrem Gebäude Sempergalerie genannten Museumssammlung, bis auf die eine Ausleihe ganz aus dem eigenen Bestand zusammengestellt, so reichhaltig, dass sogar noch ein Gemälde von Vermeer - 'Bei der Kupplerin' - wie beiläufig darin Platz findet, um das jedes andere Museum eine eigene Huldigungs-Schau veranstalten würde." Aber es gibt auch Kopien, die erst später als solche erkannt wurden. "Dabei macht die jeweils weniger prominente Autorschaft die Bilder ja nicht schlechter. Im Gegenteil unterstreichen sie die Kennerschaft, mit der die Kunstagenten kauften. Die Ausstellung belegt gerade durch die Nachschöpfungen, wie der Caravaggismus zur übernationalen Stilsprache wurde und in höchstem Ansehen blieb - und einen der Schwerpunkte der Dresdner Sammlung bildet."

In der FAZ macht sich Stefan Trinks stark für den Erhalt von Fritz Koenigs Atelier-Landschaft am Ganslberg bei Landshut, das vom Verfall bedroht ist, weil es nicht unter Denkmalschutz und seit Jahren leer steht. "Nirgends in Deutschland jedoch existiert ein derart komplexes Gefüge aus ein halbes Jahrhundert lang bespielten Arbeits- und Ausstellungshallen mit Wohnhaus. ... Zu vergleichen ist der Kosmos Ganslberg nur mit den beiden stark frequentierten Künstlerhäusern von Stuck und Lenbach in München. Anders als diese heute klassischen Museen mit überschaubarem Außengrün könnte aus dem Ensemble (dem nicht einmal ein Autobahnanschluss fehlt) ein einzigartiges und durch die großzügige Fläche sogar coronageeignetes Freilichtmuseum mit den wieder wie einst in die Landschaft eingepassten Hauptwerken Koenigs werden. Schulklassen könnte zudem vermittelt werden, wo und wie die ikonischen Mahnmale für die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen entstanden. Aber man müsste es seitens der bislang untätigen Stadt eben wollen."

Weitere Artikel: Von den 1556 Kunstobjekten der Gurlitt-Sammlung sind jetzt alle 14, die als Raubkunst identifiziert wurden, an die Erben zurückgegeben, informiert Nicola Kuhn im Tagesspiegel.
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