Efeu - Die Kulturrundschau

Die Gold- und Sahneadern

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09.01.2021. Die New York Times unterhält sich mit mit Martin Scorsese und Fran Lebowitz über die Netflix-Doku-Serie "Pretend it's a City", für die die beiden durch New York flanieren. Die Literarische Welt vermisst den jähen Tempuswechsel in der neueren Literatur. Hyperallergic überlegt, warum die Briten so wenig mit abstrakter Kunst anfangen können. Die nachtkritik stellt ein Instagame vor, das Theater mit den Mittel des Internets - oder vielmehr der sozialen Medien - macht. Im Neuen Deutschland erinnert Berthold Seliger an den einst ungemein populären jüdischen Musiker, Dirigenten und Komponisten Walter Kaufmann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2021 finden Sie hier

Film

Hat gut lachen: Martin Scorsese und Fan Lebowitz in "Pretend it's a City" (Netflix)

Dave Itzkoff hat für die New York Times mit Martin Scorsese und Fran Lebowitz geplaudert. Den Anlass dafür bietet die Netflix-Doku-Serie "Pretend it's a City" für die die beiden Vollblut-New-Yorker durch ihre Stadt flanieren. Auch unabhängig davon verbindet beide eine langjährige Freundschaft:  "Wäre dieser Jahreswechsel ein normaler gewesen, hätten sie ihn so verbracht wie immer: gemeinsam, mit ein paar engen Freunden, im Vorführraum in Scorseses Büro, wo sie einen Klassiker wie 'Vertigo' oder 'A Matter of Life and Death' sehen würden. Das Jahr, in dem 'Barry Lyndon' lief, sahen sie eine seltene, qualitativ hochwertige Kopie, die direkt von Stanley Kubricks Original-Kameranegativ gezogen wurde'. 'Und ich fragte also, was denn ein Kameranegativ sei', erinnert sich Lebowitz in einer gemeinsam Videochat-Session vergangenen Dienstag. 'Und mit einem Mal starrten mich die ganzen Filmverrückten an, als hätte ich zugegeben, Analphabetin zu sein.'"

Außerdem: Der britische Filmemacher Michael Apted ist gestorben, meldet der Guardian. Besprochen wird die Netflix-Serie "Lupin" mit Omar Sy (ZeitOnline).
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Kunst

William Tillyer, "Portrait, Head and Shoulders" (1978)


Auf Hyperallergic denkt John Yau darüber nach, warum die Briten so wenig mit abstrakter Kunst anfangen können. Außer Howard Hodgkins habe kein englischer Künstler den Status eines Freud der Hockney erreicht. Während die wichtigsten britischen Maler der Nachkriegszeit - die der amerikanische Künstler R.B. Kitaj die "School of London" taufte - Personen verewigten, explodierten in anderen Teilen der Welt Pop Art, Minimalismus und Konzeptkunst. Anlass, darüber nachzudenken, sind zwei Arbeiten aus dem Jahr 1978 von William Tillyer, der damals zum ersten Mal Maschendraht direkt auf die Leinwand collagierte und damit laut Yau zwei Dinge bewirkte: "Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Oberfläche des Gemäldes und setzt gleichzeitig eine Barriere. Er verhindert, dass die Farbe die Oberfläche glatt überzieht, so dass das Kunstwerk weder malerisch ist noch einen der dramatischen Effekte erzielt, die ein Pinsel erzeugen kann. Er hebt die Bedeutung des Rahmens hervor, was als ironischer Kommentar auf die Kunst des Porträts gesehen werden kann. Tillyers konzeptionelle Geste entlarvt den Trugschluss, dass der Pinsel die Leinwand überall dort berühren können sollte, wo der Künstler es wünscht, und dass diese Freiheit ein wesentlicher Bestandteil der Tradition des Meisterwerks und ein Zeichen des Genies des Künstlers ist. Indem er seine Fähigkeit, frei zu malen, untergräbt, spielt er auf Englands Beschäftigung mit Klasse und Abstammung an, sowie auf den Glauben, dass ein Porträt, um wichtig zu sein, in der Tradition des Meisterwerks ausgeführt werden muss. Ist es ein Wunder, dass diese beiden Gemälde vom englischen Kunstbetrieb weitgehend übersehen wurden? Sie können als eine direkte Kritik an dem Kult um Künstlerpersönlichkeiten und ihre charakteristischen Stile gesehen werden, die schließlich für den Konsum des Betrachters verpackt werden."

Ingo Arend unterhält sich für die SZ mit den Kuratorinnen der südkoreanischen Gwangju-Biennale, Defne Ayas und Natasha Ginwala, die so brav links für ihr Programm werben, dass ästhetische Fragen gar nicht erst aufkommen. Ihre "wichtigste Erfahrung", wie Ginwala sagt, bei den Vorbereitungen: "Wir kamen in einem Moment auf die Bühne, an dem das weiße, hetero-patriarchale Starkuratoren-System der Biennalen umgestürzt wurde und gemeinsames Wissen, kreativer Instinkt und Intuition wichtiger wurden." Über die Documenta 15, die vom indonesischen Künstlerkollektiv ruangrupa kuratiert wird, kann Ingeborg Ruthe in der FR vorläufig nur so viel sagen: Die Logos sind bunt. Konzept, Teilnehmer und Budget bleiben geheim.

Weiteres: In der NYT erzählt Blake Gopnik, wie in den 60er Jahren, als der Kunstmarkt bereits anfing abzuheben, die Idee von Multiples aufkam, als Kunstform, die auch für die Mittelklasse noch erschwinglich war. In der NZZ stellt Philipp Meier den 1877 geborenen, "schweizerischsten aller Schweizer Maler" Adolf Dietrich vor. Besprochen werden die Ausstellung "Picasso et la Bande Dessinée" im Pariser Picasso-Museum (taz), Nia Goulds Band "Eine Geschichte der Kunst in 21 Katzen" (Tsp) und ein Band mit Simon Annands Fotografien aus der Schauspielergarderobe (FAZ).
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Literatur

Der jähe Tempuswechsel im literarischen Erzählen war einmal eine hohe Kunst, dann kam die moderne Literatur und hielt das Präsens hoch, das in seiner inflationären Verwendung heute allerdings längst auf den Hund gekommen ist, meint Rainer Moritz in der Literarischen Welt. Doch gehe es heute "nicht mehr primär darum, Distanz aufzuheben und die Altmeisterinnen und Altmeister des gemächlichen Präteritums in ihre Schranken zu verweisen." Auch sorge das Präsens meist "nicht mehr für 'Lebendigkeit'. Im Gegenteil: Dieses allumfassende Präsens legt sich oft wie Mehltau über die Seiten und zieht, vor allem wenn alles in einer nebensatzarmen Syntax vorgetragen wird, beim Lesen Lähmungseffekte nach sich. Das Tempus des Präsens schafft plötzlich eine Distanz, weil wir nicht mehr daran glauben, durch dieses Stilmittel in emotionalen Aufruf versetzt zu werden."

Weitere Artikel: Eva Pfister beschäftigt sich in einer "Langen Nacht" für den Dlf Kultur mit Friedrich Dürrenmatt. Im Literaturfeature für Dlf Kultur widmet sich Maike Albath Leonardo Sciascia. In der FAZ berichtet Matthias Weichelt von seiner ersten Lektüre von Irmgard Keuns Roman "Das kunstseidene Mädchen". Für einen großen NZZ-Essay schlendert Angela Schader durch die Geisterhäuser der Literaturgeschichte.

Besprochen werden unter anderem Yitskhok Rudashevskis "Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna. Juni 1941 - April 1943" (taz), Rutu Modans Comic "Tunnel" (online nachgereicht von der FAZ), Semra Ertans Gedichtband "Mein Name ist Ausländer/Benim adim Yabanci" (SZ), Mona Horncastles Biografie über Josephine Baker (Literarische Welt) und Eva Romans "Pax" (FAZ).
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Bühne

Melisa Su Taşkıran als Influencerin und Dennis Schigiol als Hacker. © Presskit


Caspar Weimann von "onlinetheater.live" erzählt in der nachtkritik von Versuchen, das Internet als ganz eigenen Erfahrungsraum für Theater zu begreifen. Das Ziel: "Wie können wir auch im digitalen Kontext innovative Theaterformen entwickeln, die ein so vielfältiges Erlebnis schaffen, dass sie attraktiver sind als Netflixandchill? Das Diplomprojekt 'Der Kult der toten Kuh' von Laura Tontsch und Team gibt dafür bedeutende Impulse. 'Der Kult der toten Kuh' bezeichnet sich selbst als 'Instagame' und erschafft damit ein eigenes Genre: Zusammen mit zahlreichen anderen Spieler*innen (von denen man einige im Spielverlauf kennenlernt) begibt man sich zwanzig Tage lang auf Instagram in ein Spielnarrativ. Dabei stellt sich ein neues und befreiendes Gefühl ein: auf einer Social Media Plattform zu sein und nicht von Algorithmen gelenkt zu werden (die eine*n halt echt erschreckend gut kennen), sondern von Theatermacher*innen (denen ich persönlich deutlich mehr vertraue). Um im Spiel voran zu kommen, muss man den comfort space de:r passiven Zuschauer*in verlassen und aktiv - ja fast zu*r Aktivist*in - werden."
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Musik

Berthold Seliger erinnert im ND an den jüdischen Musiker, Dirigenten und Komponisten Walter Kaufmann, der vor der Nazizeit in sämtlichen kulturellen Hotspots anzutreffen war, überall gespielt wurde, zahlreiche Korrespondenzen unterhielt, aber von den Nazis nahezu komplett aus dem kulturellen Gedächtnis Deutschlands gestrichen wurde. Erst im vergangenen Jahr ist überhaupt erstmals ein Album mit Aufnahmen des ARC Ensembles seiner Kammermusikwerke erschienen: Sie "zeugen von einer atemberaubenden Mischung westlicher, indischer und orientalischer Musiktraditionen. Vor allem indische Einflüsse, was den Melodienreichtum angeht, ziehen sich durch die Werke, in denen aber auch Klezmereinsprengsel oder böhmische Lieder und Tänze zu hören sind. Kompositorisch mag man das zwischen Bartók, Debussy, Hartmann und Strawinsky verorten, wobei Walter Kaufmann einen ganz eigenen, unverwechselbaren Stil pflegt. Es ist eine sehnsuchtsvolle, moderne, grenzüberschreitende Musik voller Feinheiten und Überraschungen." Man "wünscht sich, dass in naher Zukunft, in der Nach-Corona-Zeit also, zum Beispiel die Streichquartette regelmäßig die Kammermusikreihen unserer Städte bereichern." Weitere Hintergründe lieferte Raul da Gama bereits im vergangenen September in World Music Report.



Fanatiker haben in der Westbank unweit der Stadt Jericho eine von DJ Sama Abdelhadi und ihrem Bruder geschmissene, von den palästinensischen Behörden genehmigte Techno-Party gestürmt, weil diese in Sichtweite zu einer Moschee stattfand, berichtet Shakked Auerbach in der taz. In der Region hat sich mittlerweile eine rege Underground-Szene entwickelt, die sehr darauf bedacht ist, sich mit den Behörden gut zu stellen, erfahren wir. Und es gibt grenzüberschreitende Austauschprozesse: Israelis und Palästinenser feiern jeweils auf der anderen Seite mit. "Manche Clubs wie das Anna Lulu und Partyreihen wie der Jazar Crew basierten auf gemischten Crowds. Solche Grenzüberschreitungen können für alle Beteiligten gefährlich werden. Wegen einer Party über die Grenze zu gehen kann aber ein starker Antrieb sein. Palästinenser ohne Passierschein, die erwischt werden, wenn sie über Zäune oder Mauern klettern, riskieren Verletzungen oder Gefängnisaufenthalt. Israelis wiederum ist es streng verboten, die palästinensischen Gebiete zu betreten. Wenn ich selbst auf die andere Seite wechselte, um zu einer Party zu gehen, habe ich versucht, meine Identität zu verschleiern, und sprach nur Englisch."

Joachim Hentschel wirft nach dem Bob-Dylan- und nun auch dem Neil-Young-Deal - beide Musiker haben bekanntlich beträchtliche Teile der Rechte an ihrem Werk an Konzerne abgegeben - für die SZ einen Blick auf die neue Goldrauschstimmung im Rechtehandel: Er sieht darin "eine Zäsur für die alte Entertainmentbranche. Denn im Prinzip haben die Investmentfirmen hier mit superkapitalistischem No-Bullshit-Blick exakt die Gold- und Sahne-Adern identifiziert, die in den oft sinnlos aufgeschwemmten Konzernen die echten, pulsierenden Werte darstellen." Etwas weniger vom Spektakel berauscht, dafür aber sehr detailliert und nüchtern hatte Berthold Seliger bereits im Dezember über den großen Rechtehandel berichtet - unser Resümee.

Weitere Artikel: In der New York Times lässt sich Joshua Barone von Igor Levit die Schönheit von Beethovens "Für Elise" erklären. Frederik Hanssen wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Jahr der Orgel, das 2021 werden soll. Rüdiger Schaper (Tagesspiegel) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Joan Baez zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Neuauflage des Deutschpunk-Klassikers "Perfektion ist Sache der Götter" von Beton Combo (taz) sowie neue Platten der Sleaford Mods und von Shame, die laut tazlerin Julia Lorenz darauf dem Brexit-Großbritannien eine "beinharte Realitätsklatsche" verpassen. Wir hören rein:

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