Efeu - Die Kulturrundschau

Im Dienste des Dichternarziss

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2017. Der Standard feiert Keith Warners surreale Wiener Inszenierung von Henzes Oper "Elegie für junge Liebende". Die taz erkundet in einer Frankfurter Ausstellung die Entstehung von Struffsky. Die SZ porträtiert die Künstlerin Anne Imhof. Schlechte Literaturkritik liegt oft an schlechten Bücher, meint Tell. Die Filmkritiker haben immer noch weiche Knie von Jordan Peeles Horror-Satire "Get Out". Wir verlinken auf erste Nachrufe auf A.R. Penck.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2017 finden Sie hier

Bühne


Der Dichter ist immer präsent. Szene aus Henzes "Elegie für junge Liebende" im Theater an der Wien. Foto © Werner Kmetitsch

Keith Warner hat im Theater an der Wien Hans Werner Henzes Oper "Elegie für junge Liebende" als surrealistisches Märchen inszeniert. Die Hauptfigur, der Dichter Gregor Mittenhofer ist immer präsent auf der Bühne - als überdimensionaler Gegenstand auf seinem Schreibtisch. Standard-Kritiker Ljubiša Tošic ist hin und weg: "Regisseur Keith Warner gelingt in diesem surrealen Ambiente eine präzise Studie des subtil-gnadenlosen Kampfes um den Erhalt eines Systems von Abhängigkeiten im Dienste des Dichternarziss. In einem delikaten Kammerspiel der Gesten und zerrütteten Gefühle schildert Warner die Folgen künstlerischer Besessenheit, die dem ersehnten Werk zwei Existenzen opfert - der Dichter lässt Elisabeth und Toni (kultiviert: Paul Schweinester) nicht vor dem Schneesturm retten."


Szene aus "Tre Volti". Foto: Schwetzinger Festspiele.

Da hat sich jemand was getraut! Annette Schlünz hat - gemeinsam mit Ulrike Draesner (Text) und Jeremias Schwarzer (Konzept) - Monteverdis "Combattimento di Tancredi e Clorinda" von 1624 zerlegt, transformiert und mit eigener Musik angereichert. Das Ergebnis, die Oper "Tre Volti", wurde jetzt bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt. "Riskante Sache", lobt Matthias Roth in der Rhein-Neckar-Zeitung, sieht aber noch Potential. Ihm kam "der Kampf auf Leben und Tod, der bei Monteverdi noch ganz körperlich präsent ist, beim modernen Paar jedoch eher in schal gewordenen Worten und entkörperlichtem Sex abläuft, in dieser Inszenierung insgesamt zu kurz. Es blieb der Eindruck einer typischen Midlife-Crisis der Protagonisten."

Für Stephan Hoffmann (Südkurier) hat das ganze Konzept dagegen großen Reiz: "Es gibt viele Stellen, an denen sich die beiden Bereiche, neue und alte Musik überlappen. Sie tun das auf vielfältigste Art und Weise: durch einen harten Schnitt, durch einen kaum merklichen Übergang vom einen ins andere oder auch - besonders charmant - dadurch, dass zum Beispiel Monteverdis Noten auf einem Vibraphon erklingen." Und in der Zeit lobt Volker Hagedorn: "Obwohl die knapp 20 Minuten dieses Werks abschnittsweise auf etwa 90 Minuten 'Tre Volti' verteilt sind, erlebt man Monteverdis Werk als grundlegenden Impuls des Abends. Das spricht nicht gegen, sondern für die Arbeit von Annette Schlünz, die mit empfindlichen Strukturen und meisterlichem Handwerk an die Töne ihres Kollegen anknüpft, seine und ihre Musik mitunter ineinanderschiebt als zwei aktuelle Sprachen: So entsteht auch ein 'Combattimento di Annette e Claudio'. Eine selbstbewusste Liebeserklärung also, kein feministisches Tribunal, bei dem der Erfinder des Musiktheaters auf den Topf gesetzt würde."

Weiteres: Katharina Granzin (taz) hat erste Konzerte der Alfred-Brendel-Hommage im Berliner Konzerthaus gehört und auch den Meister selbst. Ulrich Seidler besucht für die Berliner Zeitung das Abschieds-Pressegespräch Claus Peymanns am BE.

Besprochen werden Robert Schumanns Oper "Genoveva" am Nationaltheater Mannheim (FR), Falk Richters Projekt "Verräter. Die letzten Tage" am Berliner Gorki Theater (FR), David Böschs Neuproduktion von Mozarts "Così fan tutte" am Grand Théâtre Genève (NZZ) und Romeo Castelluccis Performance "Democracy in America" bei den Wiener Festwochen (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Dass sich so viele Literaturkritiken auf Inhaltsangaben mit vagen ästhetischen Bemerkungen beschränken, liegt nicht allein an den Kritikern, meint Jürgen Kiel auf Tell. Oft liegt es an den Büchern: "Der Literaturbetrieb zwingt Kritiker dazu, permanent Romane zu rezensieren, die aus unterschiedlichen Gründen unterhaltsam, berührend, intellektuell ambitioniert, informativ, verstörend, provozierend etc. sind, jedoch künstlerisch wenig hergeben, weil sie mit der Sprache nichts anstellen. Diese Romane müssen nicht 'schlecht geschrieben' sein. ... Man liest dann gelegentlich, sie seien 'handwerklich' gut (Signal an den Leser: Erwarte nichts Künstlerisches/keine Kunst!). Das bedeutet natürlich nicht, dass sprachexperimentelle, selbstreferentielle etc. Texte dadurch, dass sie so sind, bereits gelungen wären."

Weiteres: Die deutschsprachige Comicszene wird vielfältiger und selbstbewusster, nimmt Tagesspiegel-Kritiker Lars von Törne im Vorfeld des Toronto Comic Arts Festivals, wo es einen Deutschen Pavillon geben wird, erfreut zur Kenntnis. Vor der Göteborger Buchmesse sorgt der angekündigte Stand eines rechtsextremen Verlags für Kontroversen, berichtet Reinhard Wolff in der taz. In der Welt gratuliert Michael Pilz dem Entenhausener Erfinder Daniel Düsentrieb zum 65. Geburtstag.

Besprochen werden Brigitte Kronauers "Der Scheik von Aachen" (Intellectures), Christoph Heins "Trutz" (FAZ) und ein Band mit Erzählungen des nordkoreanischen Dissidenten Bandi (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film


Amerikanische Malaise: Jordan Peeles "Get Out" (Bild: Universal)

Die Begeisterung für Jordan Peeles rassismuskritische Horror-Satire "Get Out" hält an (mehr dazu im Efeu von gestern) - in den USA ist der Film bereits der zweiterfolgreichste Horrorfilm mit einem R-Rating, gleich nach William Friedkins "Der Exorzist". Woran mag das liegen? "Peele balanciert das Unheimliche gern gegen das Groteske aus", schreibt etwa Tim Caspar Boehme in der taz. Und: Der Film "lässt einen durchgehend am Gefühl des Ausgeliefertseins teilhaben", nicht zuletzt ist "der Überraschungseffekt so haarsträubend wie komisch." Der Film vollzieht einen Brückenschlag zwischen den Publika, schreibt Tim Slagman in der NZZ. Dadurch rage der Film "heraus aus dem zeitgenössischen afroamerikanischen Kino mit seiner großen Ernsthaftigkeit und seinem Geschichtsbewusstsein". wobei Slagman nicht ganz zufrieden ist: "Thesenhaftigkeit macht einen Film auch dann nicht besser, wenn er die richtigen Thesen vertritt." Der Film "verwebt so viele Schichten der amerikanischen Malaise", dass es Hanns-Georg Rodek von der Welt "fast schwindlig wird." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte bekam "weiche Knie". Die FAZ hat Bert Rebhandls Kritik aus der gestrigen Ausgabe online nachgereicht. Im Freitag bespricht Thomas Groh den Film sehr begeistert.

Weiteres: In der taz empfiehlt Dominik Kamalzadeh eine Berliner Werkschau mit den Filmen des argentinischen Regisseurs Matias Piñeiro. Brad Pitt meldet sich in einem epischen, reich bebilderten GQ-Interview erstmals seit der Trennung von Angelina Jolie wieder zu Wort. In der Zeit empfiehlt Diedrich Diederichsen die Serie "4 Blocks" über libanesische Clanchefs in Neukölln (mehr dazu auf Zeit online).

Besprochen werden Taika Waititis auf DVD veröffentlichter "Wo die wilden Menschen jagen" (taz), Anna Zameckas "Kommunion" (taz), Argyris Papadimitropoulos' "Nacktbaden" (Filmgazette), Constantine Giannaris' "Spring Awakening" (Filmgazette), Erik Pausers und Dylan Williams' Dokumentarfilm "The Borneo Case" über den Umweltaktivisten The Borneo Case (NZZ), die Netflix/Tinder/WebPorn-Serie "Hot Girls Wanted: Turned On" (ZeitOnline) und David Borensteins Dokumentarfilm "Dream Empire", mit dem heute das DOK.fest in München eröffnet wird (SZ). Dazu geben die SZ-Filmkritiker weitere Tipps.
Archiv: Film

Musik

Für den Tagesspiegel porträtiert Nadine Lange die libanesische Rapperin Malikah, die gerade in Berlin für ihren Auftritt mit dem Stargaze Kammerensemble probt. Simon Rattle kündigt für seine letzte Spielzeit mit den Berliner Philharmonikern "lauter Lieblingsstücke" an, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Simon Reynolds schreibt in seinem Blog zum Tod des finnischen Avantgarde-Komponisten Erkki Kurenniemi. Karl Fluch würdigt im Standard ausführlich den Klassiker "Monarchie und Alltag" der Fehlfarben, den die Band auf ihrer aktuellen Tour in voller Länge spielt. Angesichts des Wetters an diesem Berliner Morgen ist es bis heute brandaktuell:



Besprochen werden das Comebackalbum der Shoegazer von Slowdive (Spex), ein Konzert des Vision String Quartet (Tagesspiegel), das Berliner Konzert von Laetitia Sadier (Berliner Zeitung), ein Konzert des Mandelring Quartett (Tagesspiegel), das Debüt von Sophie Kennedy (Spex) und das Album "Now What" von Sylvan Esso (Welt).
Archiv: Musik

Kunst


Andreas Gursky, Pförtner, Passkontrolle (1982/2007)

Das Fotografen plötzlich Kunstpreise nehmen konnten, ist vor allem den Bechers zu verdanken. Eine Ausstellung im Frankfurter Städel mit Werken ihrer Schüler beleuchtet das Phänomen, dem die Amerikaner den Namen Struffsky gegeben haben (was Thomas Ruff, Thomas Struth, Andreas Gursky bestimmt charmant finden). Katharina J. Cichosch beschreibt in der taz die Folgen: "Zur künstlerischen Haltung gesellte sich bei den erfolgreichen Becher-Schülern ein Sinn für den Markt - man funktionierte das Kernproblem der Fotografie als künstlerisches Medium, ihre Reproduzierbarkeit, zum eigenen Vorteil um. Wo früher möglichst viele Exemplare eines Motivs angefertigt wurden, verknappte man die Auflagen nun drastisch und pumpte die einzelnen Bilder auf Gemäldegröße auf." Und das funktioniert immer noch, versichert Cichosch: "Auch der Ausstellungsbesucher denkt bald in Ausrufungszeichen. Diese Landschaften! Diese Porträts! Diese Interieurs!"

Catrin Lorch trifft für die SZ in Venedig die Performance-Künstlerin Anne Imhof, die Deutschland bei der Biennale vertritt. Man könnte auch Bühnenkünstlerin zu ihr sagen. Das mag sie allerdings überhaupt nicht: "'Ich empfinde einen Ausdruck wie Theater fast als Beleidigung', sagt sie. 'Es geht um eine Neu-Kombination in Überlagerung der Bilder. Bilder, die ich ausgesucht habe. Und die hinterher Teil von etwas sind, das sicher kein Theaterstück ist.' Letztlich sei das Resultat auch keine Performance, sondern eine Komposition, was durchaus im Sinn von Malerei verstanden werden soll. Wer ausschließlich auf die Tiere oder die Tänzer oder die Technik fokussiere, der verliere das Ganze aus dem Blick. Lieber als einzelne Motive analysiert Imhof verbindende Blickachsen oder Bewegungen wie Sturz und Fall."

Hier Anne Imhofs Performance "Angst II", die Nathan Corbyn im Oktober 2016 für die Frieze aufgenommen hat



Weitere Artikel: Der Sammler und Mäzen Heiner Bastian hat sich entschieden, sein Chipperfield-Haus nun doch nicht den Staatlichen Museen zu Berlin schenken, berichtet Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. Martin Roth hat seinen Posten als Direktor des Londoner Victoria & Albert Museums aufgegeben, weil er im Brexit-England die Populisten auf dem Vormarsch sah. Jetzt kuratiert er in Venedig den Pavillon von Aserbaidschan und lobt ausgerechnet dieses Land als "Blueprint für Toleranz". Ernsthaft, fragt ein fassungsloser Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Auf der Rangliste zur Pressefreiheit steht das Land auf Platz 163 (von 180). Der Clan von Präsident Aliyev regiert brutal, das System lebt von Korruption."

Nachrufe auf den Maler A.R. Penck schreiben Michael Wurmitzer im Standard, Harry Nutt in der Berliner Zeitung, Nicola Kuhn im Tagesspiegel.

Besprochen werden Francisco de Goyas Grafikfolge "Los Caprichos" im Museum Oskar Reinhart in Winterthur (NZZ), eine Ausstellung mit Grotesken von Emil Nolde im Museum Wiesbaden (FAZ), eine Ausstellung des Frankfurter Liebieghauses mit den Ergebnissen seiner Provenienzforschung (FR) und die Ausstellung "Unleashed" des Fotografen Roger Ballen und Malers Hans Lemmen im Musée de la Chasse et de la Nature in Paris (Zeit).
Archiv: Kunst