Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 10. Tag

Von Thierry Chervel, Ekkehard Knörer
14.02.2004. Die Jury hat gesprochen: Der goldene Bär der 54. Berlinale geht an Fatih Akins Film "Gegen die Wand".
Die Bären sind vergeben:

Der Goldene Bär der 54. Berlinale geht an Fatih Akins Film "Gegen die Wand".
Mit dem Silbernen Bären wurde der Film "El abrazo partido" von Daniel Burman prämiert.
Mit dem Silbernen Bären für die beste Regie wurde der Regisseur Kim Ki-Duk ("Samaria") ausgezeichnet.
Als beste Darstellerinnen wurden Charlize Theron für ihre Leistung in dem Film "Monster" und Catalina Sandlino Moreno für ihre Rolle in dem Film "Maria voll der Gnaden" ausgezeichnet.
Bester männlicher Darsteller wurde Daniel Hendler in "Lost Embrace".
Ein Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung ging an das Schauspieler-Ensemble des Films "Om Jag Vänder Mig Om".
Ken Loachs Wettbewerbsbeitrag "Ae Fond Kiss" wurde mit dem Ökumenischen Preis ausgezeichnet.

Alle Bären auf einen Blick finden Sie hier.


Nicht Europapudding, sondern Creme Brulee: Stephane Vuillets Wettbewerbsfilm "25 degres en hiver"

Eine Frau ohne Mann, eine Tochter ohne Mutter, eine Mutter ohne Hemmungen, ein Vater ohne Plan, ein Bruder ohne Skrupel: macht einen Film ohne Makel. Regisseur Stephane Vuillet hat das mittlere Wunder fertig gebracht, mit Geldern aus Frankreich und Belgien, Darstellern aus Spanien, Belgien und der Ukraine und einem schrägen Konzert vier schön durcheinander gesprochener Sprachen nicht etwa einen Europudding anzurichten, sondern die bezauberndste Creme Brulee, die zum Abschluss der Berlinale in den letzten Jahren gereicht wurde.

Die Geschichte, der man den Charme der Ausführung keineswegs ablesen kann, geht dabei so: Sonia, Mathematiklehrerin aus der Ukraine, sucht in Brüssel ihren vor Jahren dorthin abhanden gekommenen Mann. Sie soll abgeschoben werden, wird aber von Aktivisten befreit. Sie läuft Miguel in die Arme, dessen Frau sich nach New York aufgemacht hat, jetzt steht er da mit seiner kleinen Tochter und seiner redseligen Mutter, als unzuverlässiger Angestellter seines Bruders, der ein Reisebüro betreibt. Am Ende sind sie alle vier unterwegs, auf der Suche, gestrandet in mehr als einer Hinsicht und raufen sich zusammen zu einem Happy End von der Sorte, die man nur den gewitztesten Filmen durchgehen lässt.

Filmen, bei denen es schon mal passieren kann, dass das Thermometer am 12. Januar auf sagenhafte 25 Grad steigt. Oder dass ein Mann, der rennt (Miguel), durch puren Zufall vor einem Werbeplakat zu stehen kommt, auf dem ein Mann zu sehen ist, der rennt. Das hat nicht die mindeste Funktion in der Erzählung, das platzt rein in diesen Film, aus heiterem Himmel und verschwindet wieder, wie eine Seifenblase, die in Nichts zergeht. Und es ist genau das, was am allermeisten einnimmt für "25 degres en hiver", was auch die vielleicht zweimal zu oft gezeigten Kulleraugen der Tochter auf der Stelle verzeihen lässt: diese unbändige Lust des Buchs am Detail. Wo Ken Loach seinen Besinnungsaufsatz "Ae Fond Kiss" streng, fast lustlos exekutiert, da fällt der Blick hier ein ums andere Mal da hin, wo er nicht hingehört. Auf eine ausgestopfte Katze etwa, auf einen Torero inmitten wenig interessierter Kühe, auf Carmen Maura pinkelnd im Gras. Der Film erlaubt sich Scherze wie den Auftritt von Altenheimbewohnern als Zombies - und demonstriert damit die der Komödie, die er sein will, gemäße Entschlossenheit, für einen gelungenen Gag noch seine Großmutter zu verkaufen.

Und anders als die ersten Bilder fürchten lassen - sie zeigen das Kommando der Anti-Deportations-Liga in Aktion - will Stephane Vuillet einem, im Gegensatz zu den unerträglicheren "Topicals" dieses Festivals, keineswegs eine Botschaft überbraten, ja, er will einem nicht mal das Herz brechen. Der Film ist stattdessen ganz Auge, ganz Ohr für Nebensächlichkeiten, in denen sich Hauptsachen spiegeln, gebrochen ins Alltägliche und Komische und dabei verblüffend Konkrete. Kein anderer Film des Wettbewerbs informiert so präzise über die Hungerlöhne, die heutzutage gezahlt werden, und nicht nur in Reisebüros. Kein anderer Film nimmt im Sprung die Distanzen von der Ukraine über Belgien nach Spanien und New York, nebenbei noch von Wallonien nach Flandern, von jung zu alt, von der Großstadt zum flachen Land, von genau hier nach überall. Kein Grund, seine Leichtfüßigkeit gegen die schwierigeren Meisterstücke im stärksten Wettbewerb seit Jahren auszuspielen. Aber das reine Vergnügen, das ist "25 degres en hiver" allemal.

Ekkehard Knörer

"25 degres en hiver". Regie: Stephane Vuillet. Mit Carmen Maura, Ingeborga Dapkunaite, Jacques Gamblin u.a., Belgien/Frankreich 2003, 90 Minuen (Wettbewerb)


Fiel dem Organisationschaos der Berlinale zum Opfer: Sylvia Changs Wettbewerbsfilm "20:30:40" (Wettbewerb)

Die Informationen zu Sylvia Changs Wettbewerbsbeitrag "20:30:40", liebe Leser, sind, anders als die zu den bisherigen Filmen, leider ohne Gewähr. Was daran liegt, dass der Film nach einem Drittel schon zu Ende war, um danach noch weiterzugehen. Was danach kam, war aber zuvor geschehen und der Film knäulte sich am vorletzten Tag des Wettbewerbs zum großen Durcheinander im Kritikerhirn. Der Grund dafür, falls das jetzt so verwirrend klingt, wie es war, ist einfach der, dass in der Kopie, die der Presse vorgeführt wurde, aus Versehen der letzte Akt an den ersten gestückelt worden war und folglich der Abspann lief, ohne dass man das Drama schon durchlitten hatte. Ein Viertel, schätzungsweise, der Kritiker verließen den Saal, nach fünfzig Minuten, ohne wiederzukehren: Bin sehr gespannt, was die schreiben.

Peinliche Sache das, für das Festival, aber kann ja mal passieren. Würde man sagen, wenn das Organisationschaos dieses Jahr nicht Methode gehabt hätte. Für gewöhnlich war es zum Beispiel schon eine Tortur der brutaleren Art, überhaupt ins zu kleine Cinemaxx 7 zu gelangen, in dem die Nachmittagsvorführungen des Wettbewerbs für die Presse stattfanden. Ein Drängen und Drücken, Schieben und Schubsen jedes Mal, das einen spanischen Kollegen zu heftigem Fluchen über deutsche Organisationskunst ("cretinos, cretinos") und zu Ausführungen über zwei Weltkriege veranlasste, bei denen ich lieber nicht spanisch verstanden hätte. Die andere Pressekampfzone war, wie in den Jahren zuvor, der Schreibraum, auf den naturgemäß die ausländischen Korrespondenten in besonderer Weise angewiesen sind. Der war dieses Jahr umgezogen, vom Keller des Berlinale-Palasts ins Hyatt-Hotel, aber man hatte ihn - unergründlich sind die Wege des Herrn - verkleinert statt vergrößert, also waren die Schlangen eben noch länger, die Wartezeiten noch unerträglicher. Zum Trost flog dann gelegentlich die Sicherung raus und es erhob sich ein babylonisches Wehklagen vor schwarzen Bildschirmen über auf immer dahingegangene Texte. Wenigstens bewahrten die Aufsichtspersonen stets die Contenance.

Zurück aber zum Film und leider ist - wenn auch ohne Gewähr - zu sagen, dass die vor der Zeit von dannen gezogenen Kollegen nichts Weltbewegendes verpasst haben. Einen Film nur, der die Schicksale dreier Frauen in Taipeh ineinander webt oder eher: nebeneinander her erzählt, das einer Zwanzigjährigen aus Malaysia, die gerne eine Karriere als Sängerin machen möchte, das einer Dreißigjährigen, die auf der Suche nach dem richtigen Mann ist und einer Vierzigjährigen, die gerade von ihrem Mann verlassen wurde. Das schwankt zwischen Komödie und Drama, ohne sich je zum Melodrama aufschwingen zu wollen, und es ist die Sorte Frauenfilm, die sich in auf Dauer doch enervierender Weise auf Männer konzentriert: denen nicht zu trauen ist, die leider eine andere lieben, die aus diesem oder jenem Grund nicht die richtigen sind, die die Frau umwerben, in die frau sich gerade verliebt hat.

Nichts davon wäre nicht schon dagewesen. Die Scherze kennt man, die Probleme sind alltäglich und noch in ihrer Alltäglichkeit nicht genau oder in verblüffender Weise beobachtet. Ob die Spannungsbögen in den einzelnen, einander immer wieder unterbrechenden Episoden tragen oder nicht, ob die Verknüpfungen elegant sind, das lässt sich angesichts des Vorführdurcheinanders leider wirklich nicht mehr sagen: Versuchen Sie mal, sich "Memento" in der richtigen Reihenfolge zu denken und zu überlegen, wie stringent der Film dann wäre. Eben. Eines übrigens steht nach "20:30:40" fest: Die Filme, in denen Klaviere durch die Luft schweben, wie in Chantal Akermans "Demain, on demenage" und hier, oder in denen Klaviere unter Mühen nach oben getragen werden, wie in Ken Loachs - wie ich finde - allzu bravem "Ae Fond Kiss", taugen alle nicht viel. Wieder was gelernt.

Ekkehard Knörer

"20:30:40". Regie: Sylvia Chang. Mit Sylvia Chang, Rene Liu, Lee Sinje u.a., Taiwan/China/Hongkong 2003, 107 Minuten (Wettbewerb)



Der Tod kam per SMS - "One Missed Call" von Miike Takashi

In "One Missed Call" entscheidet der Handyklingelton über Leben und Tod. Da die Technik in Japan schon etwas weiter ist, handelt es sich bei dem in diesem Film in Frage stehenden Zeichen nicht um das in Deutschland noch dominierende Gefiepse. Nein, es ist eine hübsche und heitere, harmlos-hämische Spieluhrenmelodie, die uns hier in Schrecken versetzt. Wer so angerufen wird - meist handelt es sich um hübsche Japanerinnen mit panisch geweiteten Katzenkinderaugen -, hat allen Grund zu erbleichen. Als Anrufer wird das eigene Handy verzeichnet, als Anrufzeitpunkt ein Termin in der Zukunft. Die Betroffenen können sich in der Regel darauf verlassen, dass sie zum angegebenen Zeitpunkt eines grauenhaften Todes sterben. Und da nützt es auch nichts, das Handy abzumelden!

Wir sehen den Film im wesentlichen aus der Perspektive Yumis, eines hübschen jungen Mädchens, das durch ein Kindheitstrauma - ihre Mutter folterte sie mit glühenden Zigaretten - eine besondere Sensibilität für sie umgebende böse Schwingungen zeigt. Freunde und Freundinnen werden reihenweise von dem hübschen Handyklingelton heimgesucht und pünktlich exterminiert. Aus Telekommunikation wird hier Tele-Amputation, Tele-Termination, Tele-Auto-Strangulation!

Aber Yumi hat Mut, und mit Hilfe ihres Freunds Yamashita, dessen eigene Schwester per Handy in Brand versetzt wurde, kommen sie auf die Spur einer vaterlosen Familie, von der das Böse irgendwie auszugehen scheint. Das Münchhausen-Syndrom spielt hier eine Rolle, eine seltene psychische Störung, die dazu führt, dass Mütter ihre Kinder mutwillig verletzen, um die soziale Achtung einzuheimsen, die sorgenden Müttern kranker Kinder zusteht. Aber auch asthmakranken großen Schwestern sollte man eher misstrauen und gegen ihren Rachedurst möglichst ein kräftiges Cortisonspray bereit halten.

Den Schrecken holt der Regisseur vor allem aus dem Tonteil. Bei Dolby-Surround weiß man halt nie, wo das verdammte Handy wieder klingelt. Auch traditionellere Versatzstücke des Horrorfilms wie wandelnde Leichen, denen das Fleisch bereits vom Skelett schlabbert, und abgehackte Arme, die mit letzter Kraft eine SMS tippen, verfehlen ihre Wirkung nicht.

Den Ausgang des Showdowns, der unter gewissenlosem Einsatz filmischer Mittel in einem aufgelassenen Krankenhaus spielt, wollen wir hier nicht kommentieren. Nur soviel: Er ist geeignet, die Handyrechnungen jugendlicher Kinozuschauer erheblich zu reduzieren.

Thierry Chervel

"One Missed Call" von Miike Takashi, mit Shibasaki Ko (Nakamura Yumi), Tsutsumi Shinichi (YamashitaHiroshi), Japan 2003, 112 Minuten (Forum).



Die Liebe scheitert, die Liebe siegt: Ken Loachs "Ae Fond Kiss"

Sie ist blond und bleich und Schottin. Er ist hübsch und dunkel und Pakistani. Sie heißt Roisin (offensichtlich ein schottischer Mädchenname), er Casim. Beide leben in Glasgow. Aber in unterschiedlichen Welten. Sie ist Musiklehrerin. Er träumt davon, eine Diskothek aufzumachen. Sie arbeitet an einer katholischen Schule. Er ist Moslem. Sie ist allein, er hat Familie. Und beides ist recht misslich.

Sie verlieben sich. Aber sollen sie sich auch kriegen?

Ken Loach traut sich in seinem neuen Film etwas, das keineswegs selbstverständlich ist: Er stellt seine Kamera in eine pakistanische Familie. Er zeigt, wie in deren liebevollen Traditionszusammenhang Ehen ausgehandelt werden zwischen ihren Kindern und Kindern anderer Familien - ohne dass sich diese Kinder kennen. Die Eltern meinen es nur gut mit ihren Kindern. Aber Loach zeigt auch, dass ein liebevoller Traditionszusammenhang Terror ist, an dem die ganze Familie zerbrechen kann: die Kinder, weil sie in westlicher Umgebung aufgewachsen sind und die westlichen Freiheiten auch für sich reklamieren, die Eltern, weil sie der Schande ihrer Gemeinschaft verfallen, wenn sie ihre Kinder nicht unter die Haube bringen, wie es sich gehört.

Loach traut sich, die Auseinandersetzungen einer pakistanischen Familie von innen heraus zu schildern - und meistens gelingt es ihm. Wie fast immer in seinen Filmen schafft er es, die Dinge in der Schwebe zu halten. Keiner seiner Charaktere wird denunziert. Es mag ihm als Trotzkist um so schwerer gefallen sein, als er für die Schuld- und Gewaltzusammenhänge, die er hier schildert, nicht den üblichen Verdächtigen - den Kapitalismus - ins Spiel bringen kann.

Immerhin zeigt er in einer Szene, deren Symmetrie der political correctness geschuldet sein mag, dass auch unsere Kultur intolerant ist: Roisin darf an ihrer katholischen Schule keine feste Stelle als Lehrerin bekommen, weil sie mit einem Moslem zusammen ist und der zuständige Pfarrer seine Zustimmung versagt - und das bei einer Schule, die trotz ihrer konfessionellen Gebundenheit mit staatlichen Mitteln finanziert wird!

Rosin ist für Casims Familie ein Verhängnis: Seine Schwester wird nicht heiraten können, weil die Familie ihres Auserwählten sich zurückzieht. Sie führt Roisin auch in einen sadistischen Showdown, der Loachs Lauterkeit am Ende doch ein wenig in Frage stellt: Casims Schwester lässt Roisin zusehen, wie seine Familie ihn der auserkorenen Braut gegenüberstellt - eine traumatische Szene für alle Beteiligten: für Roisin, die mit ansehen muss, wie über ihr Leben und das ihres Geliebten verfügt wird, für Casim, der das nicht mitmacht und sich von seinen Eltern lossagt, für Casims Eltern und für die verschmähte Braut sowieso. Es kommt zum Eklat. Aber Casims Eltern und seine Schwester weichen keinen Millimeter von ihrer Position ab. Sie können ihren Traditionszusammenhang nicht überschreiten, auch nicht aus Liebe zu ihrem Sohn. Loach lässt sie ein wenig als die Verbiesterten dastehen, die es nicht besser verdient haben. Man hätte gewünscht, dass er ihnen ein wenigstens ein bisschen Flexibilität zugestanden hätte.

Am Ende siegt die Liebe zwischen Roisin und Casim, und das ist gut so. Und vielleicht sollten auch die Schotten mal über die Trennung von Staat und Kirche nachdenken.

Thierry Chervel

"Ae Fond Kiss" von Ken Loach, mit Eva Birthistle (Roisin) und Atta Yakub (Casim), Großbritannien 2003, 103 Minuten (Wettbewerb).