Magazinrundschau

Eine Erfindung des modernen Lebens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
03.01.2017. Wer eine Wirtschaft ohne Markt ersehnt, lese Karl Polanyi, empfiehlt The Nation. Nichtwestliche Länder hatten ein tolles 2016, dank der Globalisierung, freut sich Novinky. Im Merkur erinnert sich Ahmet Cavuldak an seine Kindheit in deutschen Asylunterkünften. Die wirklich großen Soziologen sind auch große Schriftsteller, behauptet La vie des idees. Die NZZ würdigt Imre Kertesz. In der NYRB stellt J.M. Coetzee den argentinischen Autor Antonio Di Benedetto vor. In der New York Times freut sich Woody Allen über eine saftige Mary-Astor-Biografie.

The Nation (USA), 16.01.2017

Nikil Saval hält die Zeit für gekommen, wieder den Soziologen Karl Polanyi zu lesen, der zusammen mit John von Neumann, Béla Bartók, Karl Mannheim und György Lukács zu den großen Ungarn des frühen 20. Jahrhunderts gehörte. Politisch mag der Sozialist nicht immer richtig gelegen haben, räumt Saval ein, doch seine Wirtschaftsgeschichte sei unübertroffen: "Zwischen 1941 und 1943 geschrieben zeichnet 'Die große Transformation' den Aufstieg der Marktwirtschaft von ihren Anfängen in der frühen Moderne bis zur Einführung der Fabrik in der Konsumgesellschaft nach. Polanyi illustriert, wie die Marktwirtschaft den Planeten auf allen Ebenen veränderte oder gar verheerte, aber auch wie neu sie eigentlich ist. 'Im Gegensatz zu dem im 19. Jahrhundert intonierten Chorus akademischer Gesänge', schreibt er, 'spielten Vorteil und Profit durch Austausch zuvor keine wichtige Rolle in der Geschichte der Menschheit. Auch wenn die Institution des Marktes seit der späten Steinzeit üblich war, spielte sie im wirtschaftlichen Leben nur eine beiläufige Rolle'. Polanyi brachte zutage, dass die Marktwirtschaft eine Erfindung des modernen Lebens war und ermöglichte so Überlegungen, wie eine Gesellschaft anders als um diese Prinzipien herum organisiert werden kann."
Archiv: The Nation

Novinky.cz (Tschechien), 23.12.2016

Der tschechische Politologe Jiří Pehe versucht, das gefühlte "Krisenjahr 2016" ins rechte Licht zu rücken: "Der Großteil der nichtwestlichen Welt nimmt die gegenwärtige Situation nicht als Krise wahr." Die allgemeine Verunsicherung im Westen sei mehr eine Sache der Wahrnehmung als eine grundlegende (wirtschaftliche oder soziale) Krise. "Der Aufstieg der Populisten in Europa und USA, verbunden mit den Sorgen um die Zukunft der EU und der transatlantischen Kooperation, hat den Menschen im Westen ein wenig die Tatsache verschleiert, dass der raketenartige Aufstieg der Mittelklassen in ehemals sehr armen Ländern tatsächlich eher einen Beitrag zur globalen Stabilität darstellt und keine Bedrohung." Bei dem im Westen anschwellenden Zorn und Verdruss handele sich um eine kulturelle Reaktion auf viele schwer verständliche Phänomene und Veränderungen, die die Globalisierung mit sich mit bringe. "Bei einer immer größeren Aufteilung des globalen Reichtum-Kuchens zugunsten schnell wachsender nichtwestlicher Länder erscheint der Status des Westens als globalem Anführer bedroht, obwohl er dies noch lange nicht sein wird. (…) Die größte Herausforderung wird sein, die demokratische Politik so zu reformieren, dass sie besser auf die Komplexität der gegenwärtigen Welt reagieren kann."
Archiv: Novinky.cz

New York Review of Books (USA), 19.01.2017

In der New York Review of Books stellt J.M. Coetzee den argentinischen Autor und Borges-Zeitgenossen Antonio Di Benedetto vor, dessen Roman "Zama" er gerade gelesen hat: Ende des 18. Jahrhunderts träumt Don Diego de Zama auf einem untergeordneten Provinzposten von einem Aufstieg, der ihm als Kreole in der spanischen Verwaltung verwehrt bleibt. Seine andere Besessenheit sind weiße, spanische Frauen. "'Zama' nimmt als Thema unverblümt argentinische Tradition und den argentinischen Charakter auf: was sie sind, was sie sein sollten. Er beschreibt die Kluft zwischen Küste und Innerem, zwischen europäischen und amerikanischen Werten. Naiv und irgendwie traurig sehnt sich der Held nach einem unerreichbaren Europa. Und doch benutzt Di Benedetto die komische Hispanophilie seines Helden nicht, um regionale Werte zu propagieren oder das literarische Vehikel, das mit Regionalismus assoziiert wird, den altmodischen realistischen Roman. Der Flusshafen, an dem 'Zama' spielt, ist kaum beschrieben; wir haben kaum eine Vorstellung, wie die Menschen sich kleiden oder womit sie sich beschäftigen. Die Sprache des Buchs evoziert manchmal, bis an den Rand der Parodie, den Gefühlsroman des 18. Jahrhunderts, aber noch öfter erinnert er an das Theater des Absurden des 20. Jahrhunderts (Di Benedetto war ein Bewunderer von Ionesco und Pirandello). In dem Maße, in dem Zama kosmopolitische Hoffnungen satirisch beschreibt, tut er das auf eine durch und durch kosmopolitische modernistische Art."

Und: Nach dem jüngsten Wahlskandal in den USA - Hillary Clinton hat die Präsidentschaftswahl trotz einer Mehrheit von über 2,8 Millionen Stimmen verloren - fordern Eric Maskin und Amartya Sen ein neues Wahlsystem.

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz), 01.01.2017

In einem sehr schönen Essay schreibt Andreas Breitenstein über Imre Kertesz und dessen letztes Buch "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 bis 2001". In diesen Zeitraum fällt auch die Phase, in der Kertesz, der mit dem "Roman eines Schicksallosen" unvermutet berühmt geworden war, feststellte, dass Glück seine Sache nicht war - und damit seinen Landsleuten näher stand als man annimmt: "Bereits 1997, in 'Ich ein anderer', hatte er über diese Lebenswende eine erzählerische Chronik verfasst - in der bei aller Skepsis ein tiefes glückliches Durchatmen zum Ausdruck kam. Es offenbarte sich eine neue Zugewandtheit zum Lebendigen, hinter der mehr als andere seine zweite Frau Magda, eine ungarischstämmige US-Amerikanerin, stand, deren Vitalität nach Albinas Krebstod 1995 in ihm den Dandy und Lebemann wachküsste. Man muss den 'Betrachter', der nun in der profunden Übersetzung von Heike Flemming und Lacy Kornitzer die Lücke der Tagebücher zwischen 1991 und 2001 schließt, als düsteren Kontrapunkt zu dieser Leichtigkeit des Seins lesen, als paradoxale Litanei eines aus lebenslanger Haft entlassenen Sträflings, der sich nach dem Kerker zurückzusehnen beginnt, weil er erkennt, dass er der Ort war, der ihm fürs Leben bestimmt war. Dabei geht es Imre Kertész nicht anders als seinen vom Realsozialismus traumatisierten ungarischen Landsleuten, die sich - wie er es selber in ein starkes Bild fasst -, nachdem sie ins gleißende Licht der Sonne getreten sind, ins Dunkle des Waldes zurücksehnen, 'in dem sie ihr zeitweiliges Zuhause gefunden und gelernt haben, mit der Angst zu leben, sich von Wurzeln und Beeren zu nähren'."

168 ora (Ungarn), 28.12.2016

Die Entwicklungen in Ungarn nach 2010 werden von Publizisten oft mit mit der staatssozialistischen Kádár-Ära (1956-1989) verglichen. Der Historiker János M. Rainer hält diese Vergleiche im Gespräch mit Péter Cseri für wenig erkenntnisfördernd. Basierend auf internationale Studien rechnet er gleichzeitig mit dem gängigen Bild einer "herausragenden ungarischen Freiheitsliebe" ab: "Der Freiheitsdrang war in Wirklichkeit nie herausragend. Internationale vergleichende soziologische Studien zeigen, dass die Mehrheit der Ungarn Freiheit nie für wichtig hielt, so auch nicht um 1989 herum und auch nicht in den folgenden zwei Jahrzehnten. Der friedliche, konsensorientierte und elitäre ungarische Systemwechsel ermöglichte den Trugschluss, dass die ungarische Gesellschaft die Überzeugung der Eliten herzhaft unterstütze, wonach die Freiheit einen herausragenden Wert darstelle und wir im Rahmen der Demokratie eine funktionierende kapitalistische Wirtschaft erschaffen müssten. Doch das war nie so (...) Staatliche Fürsorge war den Ungarn stets näher als die Freiheit der Selbstverwirklichung. Jetzt sind wir soweit, dass die ungarische Gesellschaft nach noch mehr Sicherheit verlangt."
Archiv: 168 ora
Stichwörter: Ungarn, Freiheit, 1956, Systemwechsel

Die Zeit (Deutschland), 02.01.2017

Ziemlich flau werden kann einem bei der Lektüre von Stefan Willekes großer Reportage aus Polen, die die Zeit zum Neujahrstag online nachgereicht hat. Kenntlich wird das Nachbarland im Osten als ein Land, das von der, gelinde gesagt, nationalkonservativen Regierungspartei PiS stramm auf einen erzkatholisch unterfütterten Nationalismus gepolt wird: "Das gesamte Bildungssystem soll umgebaut werden, vordergründig wegen der Effizienz, aber natürlich wird es zur Folge haben, dass etwa 45.000 Lehrer im neuen System keinen Platz mehr finden. Schon heute werden Lehrer von Schulleitern bestraft, wenn sie sich weigern, ein Kreuz in die Klassenräume zu hängen. In einer Schule in Milanówek in der Nähe von Warschau setzt sich der Direktor bereits für eine 'patriotische Mathematikklasse' ein: Die Schüler sollen nicht nur rechnen, sondern auch schießen lernen. Auch das Demonstrationsrecht soll demnächst eingeschränkt werden. Es geht jetzt alles sehr schnell, so schnell, dass selbst hartgesottene Oppositionspolitiker, die das Wesen der Regierung zu kennen glaubten, vom Tempo des Wandels überrascht werden. Geschwindigkeit wird mit einem Mal zu einer politischen Kategorie. ... Wie in einem Ausnahmezustand soll dieses Land sich fühlen, atemlos und erregt vom Adrenalin des Systemwechsels, so als gelte es, das Leben im Rausch von Notstandsgesetzen zu feiern."
Archiv: Die Zeit

epd Film (Deutschland), 02.01.2017

In einem großen Essay umkreist Georg Seeßlen das politische Kino der letzten rund 20 Jahre, also etwa seit den ersten Verzeichnungen des neoliberalen Umbaus der globalen Gesellschaft bis zu heutigen Filmen über subalterne Lebensformen oder deren Perspektiven. Am Ende landet er bei einem dokumentarischen Kino, dessen Ingredienzien vom Kritiker gemessen und auf Reinheit geprüft werden können. Fiktion hat da keinen Platz mehr: "Was das politische Kino der zehner Jahre ausmacht, ist neben der Suche nach neuen Ausdrucksweisen und Produktionsformen auch eine Neubestimmung von dem, was man filmischen Realismus nennen mag. Denn es gilt, eine Verbindung zu schaffen zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen, eine Solidarisierung, die die Differenzen nicht leugnet. Jeder Film muss einen eigenen Weg finden, diesen Widerspruch zwischen dem Objekt und dem Objektiv zu überwinden. Jacques Audiards 'Dheepan' (2015) dreht sozusagen die Vermittlungsperspektive um, wenn er seine Geschichte aus dem Banlieue-Viertel Le Pré-Saint-Gervais mit den Augen von Flüchtlingen aus Sri Lanka sieht und in ihrer Logik zu entwickeln versucht. Das politische Kino der Zukunft wird nicht zuletzt daran arbeiten, die Zentralperspektive weißer, männlicher europäisch-amerikanischer Bildermacher zu überwinden."
Archiv: epd Film

Times Literary Supplement (UK), 30.12.2016

Ein neuer Illiberalismus in Frankreich kommt nicht nur von rechts, sondern auch von links, bemerkt Henri Astier, der dafür etliche hervorragende Beispiele in französischen Neuerscheinungen findet, etwa in Marcel Gauchets "Comprendre le malheur français" und Jean-Pierre Le Goffs "Malaise dans la démocratie" und vor allem bei Christophe Guilluys "Le Crépuscule de la France d'en haut" sieht. "Die neue Bourgeoisie wird hier noch brutaler gezeichnet als die alte. Im 19. Jahrhundert wurden die Arbeiter ausgebeutet, aber sie konnten wenigstens in den Wohlstand erzeugenden Städte leben. Heute würden sie aus ihren alten Vierteln von den Bourgeois-Bohemiens vertrieben. Guilluy vergleicht moderne Metropolen mit mittelalterlichen Zitadellen, die den Wohlhabenden vorbehalten waren. Die einzigen Armen, die heute in naher Umgebung wohnen, seien Migranten, die als billige Arbeitskräfte für die Gewinner der Globalisierung die Büros bauen und Essen kochen. In Frankreich wurde dieses importierte Lumpenproletariat in den alten Vierteln der Arbeiterklasse untergebracht, und das führe zu ethnischen Konflikten. 'In sehr kurzer Zeit haben wir uns von einem egalitären Modell zu einer inegalitären, kommunitaristisch gespaltenen Gesellschaft gewandelt', schreibt Guilluy. Die Besitzlosen seien jetzt aus den Augen, aus dem Sinn und aus der Arbeitswelt: Die moderne Ökonomie, von Gutausgebildeten und Glückspilzen begrüßt, laufe für die anderen auf ein enormes Entlassungsprogramm hinaus. Und um den Ganzen die Krone aufzusetzen, werde diese Massenvertreibung mit einem Lächeln im Gesicht betrieben."

Merkur (Deutschland), 02.01.2017

In einem sehr persönlichen Text erzählt der Politikwissenschaftler Ahmet Cavuldak eindrücklich, wie er mit seiner kurdisch-alevitischen Familie nach Deutschland kam, auf die Hauptschule verfrachtet wurde und erst als deutscher Meister im Kickboxen genügend Selbstbewusstsein fand, um die ganze angesammelte Hilflosigkeit zu überwinden. Zehn Jahre lang musste sich die Familie von einem hessischen Asylbewerberheimen zum nächsten schleppen, von Hattersheim nach Gersheim nach Fulda: "Dort ging die kulturelle Schocktherapie in eine neue Runde; wieder lebten Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern, ja Kontinenten auf engstem Raum zusammen und warteten gebannt auf eine erlösende Nachricht von den Behörden, die ihnen ein Leben in Sicherheit und Freiheit bescheren könnte. Eine Art stumme Gewalt wohnte den Verhältnissen inne. Die Menschen konnten sich anderen nicht mitteilen, auch kaum bewegen; das Leben war wie stillgelegt. Die Blicke und Bilder von Menschen, die voneinander nichts anderes wussten, als dass sie im Leben kein Glück hatten und vor ihrem Schicksal fliehen mussten, wie es in einer anatolischen Redewendung heißt, haben sich mir damals eingeprägt. Lediglich das Gefühl der Hilflosigkeit konnte unter den Flüchtlingen eine Art Solidarität stiften; nur vereinzelt gingen daraus Freundschaften hervor, Konflikte und Reibungsverluste waren hingegen öfter an der Tagesordnung."

Eva Behrendt schreibt über die Sehnsucht nach Authentizität im Theater.
Archiv: Merkur

American Interest (USA), 19.12.2016

The American Interest gehört in der Regel nicht zu den Quellen, die von Anne Applebaum oder Jay Rosen retweetet werden. Die Zeitschrift gilt als eines der Sprachrohre der Neocons. Aber James S. Henrys Recherche über Donald Trumps persönliche Geschäftsbeziehungen zur Sphäre der russischen Oligarchen und ihnen nahestehenden Mafiosi liest sich wie der feuchte Traum eines Thrillerautors - was nicht heißt, dass das Stück nicht ganz trocken recherchiert ist. Henry greift unter anderem auf die "Panama Papers" zurück. Eine der mehr als farbigen Figuren aus Trumps Freundeskreis ist Felix Sater, der auf seiner Visitenkarte als "Senior Adviser of Donald Trump" firmiert und ein wichtiger Partner in Trumps Immobiliendeals ist. Seine Karriere begann früh: "1991 stach er in einer Bar in Manhattan einen Börsenhändler mit der Scherbe eines Margaritaglases ins Gesicht und durchtrennte einen Nerv. Er kam wegen dieser schweren Straftat ins Gefängnis. Trump erzählt nur, dass Sater 'in eine Schlägerei in einer Bar geraten ist, das passiert doch vielen Leuten'. Aber seine Gefängnisstrafe scheint nicht sehr lang gewesen zu sein, denn schon 1993 taucht der damals 27-jährige Sater in einem Joint Venture von vier New Yorker Familien des organisierten Verbrechens und russischen Gangstern wieder auf und wird Händler in einer in Brooklyn basierten Firma namens 'White Rock Partners', die die hohe Kunst des Finanzbetrugs an die Wall Street bringt."

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.12.2016

Der Historiker Miklós Mitrovits geht der Frage nach, warum im Erinnerungsjahr 2016 die intellektuellen Wurzeln des Aufstands von 1956 beinahe vollständig ausgeblendet werden - und kommt zu dem Ergebnis, dass sie für die Regierung keine Rolle spielen: "Das liegt nicht nur daran, dass sie eher der Linke zuzuordnen wären, sondern auch daran, dass das heutige System seine Wurzeln eher in der Zeit vor 1944 fand." In den anderen Ländern Osteuropas sei dagegen 1989 der Wendepunkt, "der Anfang einer neuen, pluralistischen, demokratischen Ordnung".
Stichwörter: Ungarn, Ungarn-Aufstand, 1956

New Yorker (USA), 09.01.2017

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker vermisst Kelefa Sanneh den Graben zwischen Trump und den intellektuellen Ideologen, die ihm gern zur Seite stehen würden: "Trumps Präsidentschaft könnte katastrophal werden, in einem Sinn, den die Trumpisten durchaus überschauen: Er könnte sich durch Korruption ruinieren oder durch internationale Skandale. Er könnte seine Amtszeit damit zubringen, seine Feinde zu jagen oder seine Hilfsheriffs Amoklaufen zu lassen. Es ist schwierig so etwas zu prophezeien, aber bei Trump scheint all das nur plausibel, weil er so wenig interessiert ist an den Sicherheiten, die Derartiges verhindern. Dass Trump sich so auf seine Intuition verlässt, kommt bei seinen Leuten zwar gut an, da es ihn von der Tyrannei der Bürokratie befreit, allerdings macht es ihren Job auch problematischer. Zwischen Trump und seinen intellektuellen Anhängern herrscht eine zutiefst asymmetrische Beziehung. Sie müssen die Doktrin ohne ihren Namenspatron formulieren. Trumps politisches Markenzeichen ist das eines Typen, der sich niemals vor einem Haufen Gelehrter zu erklären braucht, gleich wie wichtig diese Leute für sein Fortkommen sind." 

Weiteres: Tad Friend porträtiert den Indie-Regisseur Mike Mills und dessen Familienfilme. Nicholas Schmidle überlegt, wie sich Football mit High-Tech sicherer machen lässt. Und Ian Frazier stellt uns den Getreideanbau der Zukunft vor: urban, vertikal, ohne Licht und Scholle. Joan Acocella vertieft sich in Gregor Hens' Roman "Nikotin". Alex Ross bewundert die "monströse Technik und den strahlenden Ton" des russischen Pianisten Daniil Trifonow. Lesen dürfen wir außerdem Yiyun Lis Short Story "On the Street Where You Live".
Archiv: New Yorker

La vie des idees (Frankreich), 30.12.2016

In einem Gespräch über "unsere sogenannten Leben" thematisiert der Sozialwissenschaftler und Journalist Sylvain Bourmeau zeitgenössische Vorstellungs- und Erkenntnisformen von gesellschaftlichem Leben und Lebenswelten. Dabei spannt er einen verknüpfenden Bogen von der Literatur über Fotografie und politischen Diskurs bis zur Soziologie. Nach einer veritablen Lobrede auf Michel Houellebecq, für ihn der einzige französische Literat, der sich der "großen Erzählungen der gesellschaftlichen Entwicklung" annimmt, sieht er das Problem bei Soziologen und Ethnologen darin, ihre doch aufschlussreichen Befunde in eine zugängliche, überzeugende Sprache zu übersetzen. Und kommt folgerichtig zu dem Schluss: "Nach meinem Empfinden sind die wirklich großen Soziologen auch große Schriftsteller ... Man hat gelegentlich den Eindruck, das einzig mögliche Modell der Literarisierung von Forschung seien Lévys 'Traurige Tropen'. Was ein Problem ist, denn es ist veraltet ... Wenn Autoren öfter die neueste Literatur läsen, würden sie anders schreiben, auf andere Mittel zurückgreifen … Bei den Historikern ist diese literarische Tradition schon älter, dort sieht man weiterhin, was die offene Stimme Michel Foucaults schaffen und bewirken konnte."

New York Times (USA), 01.01.2017

In der ersten Ausgabe des New York Times Magazines im neuen Jahr untersucht Jonathan Mahler das Phänomen der Informationsbeschaffung auf eigene Faust in der postfaktischen Ära und seine Ursachen: "Das große demokratische Versprechen des Internet lautete, dass es mehr Menschen Zugang zu Informationen verschaffen würde, unabhängig von irgendeiner Autorität. Neugierige Bürger würden sich ein differenzierteres Verständnis aneignen von allem, was vor sich geht, Wähler wären besser informiert, die Wahrheit käme ans Licht, und mehr Freiheit wäre das Resultat … Doch aus der Demokratisierung des Informationsflusses ist die Demokratisierung einer Flut an Desinformation geworden. Der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion wurde kassiert, ein Universum aus konkurrierenden Behauptungen trat an seine Stelle. Das Internet kann die Zensur nicht abschaffen, solange seine Nutzer in ihren eigenen geschlossenen Informationssystemen feststecken, eine Art selbstauferlegte Zensur. Das Universum konkurrierender Behauptungen ist die ideale Umgebung für den Aufstieg eines Politikers, dessen Karriere auf der Erschaffung eigener Wahrheiten und hausgemachter Realitäten basiert."

Außerdem: Jamie Lauren Keiles stellt uns die Firma Junkin Media vor, die das Netz nach lustigen Videos durchkämmt, die sie dann an YouTube und Co. verscherbelt. Und C. J. Chivers begleitet einen Ex-Afghanistan-Kämpfer, für den immer noch Krieg ist.

Und in der Book Review bekennt Woody Allen sich wundervoll amüsiert zu haben mit Edward Sorels Biografie der so vornehm aussehenden Schauspielerin Mary Astor, die sich zu seinem Vergnügen als "unflätige, trinkfeste, sexhungrige Zecherin" entpuppt. Hier kann man Astor im Pre-Code-Drama "Ladies Love Brutes" bewundern:



Archiv: New York Times