9punkt - Die Debattenrundschau

Vergleichsweise schwerelos

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2019. Christen sind heute die am stärksten verfolgte religiöse Gruppe, sagt der Priester Giles Fraser im Guardian nach den Attentaten von Sri Lanka. Bei den "Ted Talks" hielt die Observer-Journalistin Carole Cadwalladr, die über Machenschaften im Brexit-Wahlkampf recherchiert hat, eine Aufsehen erregende Rede: Facebook zerstöre die Demokratie. Die NZZ verteidigt mit John Stuart Mill den Wert der Lüge. Die FAS bringt einen Nachruf auf den Fußgänger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2019 finden Sie hier

Politik

Der Islamwissenschaftler Torsten Tschacher, Spezialist für Südostasien, hat im Spiegel-online-Gespräch mit Hasnain Kazim Zweifel, dass das Massaker von Sri Lanka von Islamisten angerichtet worden sei: "Geht man nach dem alten Grundsatz 'cui bono?' und fragt sich, wer der Nutznießer einer solchen Anschlagserie ist, würde ich sagen, dass es das Dümmste war, das eine islamistische Gruppe hätte tun können. Von der jetzigen Situation profitieren die radikalen Buddhisten und der frühere Präsident Mahinda Rajapaksa, der politisch wieder in den Startlöchern steht, und nicht in irgendeiner Weise die muslimische Gemeinschaft." Ausschließen will Tschacher einen islamistischen Hintergrund aber auch nicht.

Sven Hansen meint dagegen in der taz: "Lokale Motive sind eher unwahrscheinlich, denn das Anheizen des Konfliktes zwischen muslimischer und christlicher Minderheit in Sri Lanka hat wenig Sinn. Aber es entspräche der Agenda des internationalen Dschihad."

Wer für die Attentate in Sri Lanka verantwortlich ist, wissen wir noch nicht genau. Wer die Opfer sind, ist aber klar: Christen. Und Christen gehören heute zu der am meisten verfolgten religiösen Gruppe weltweit, erklärt - mit Verweis auf den Pew Report - der Priester Giles Fraser im Guardian: "Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurde das Christentum fast gänzlich aus dem Nahen Osten, seinem Geburtsort, vertrieben. Letztes Jahr um diese Zeit war ich in Damaskus und besuchte dort die christliche Gemeinschaft. Auf der Vorderseite der Kirche, die ich am Sonntagmorgen besuchte, befand sich ein riesiges Wandbild, das die Schrecken des Völkermords an den Armeniern darstellt. Diese Christen waren ursprünglich Flüchtlinge aus der Türkei und waren dort vor der nachhaltigsten und schrecklichsten Verfolgung angekommen. Wie viel von dieser Geschichte wissen wir? Diese Woche werden die israelischen Historiker Benny Morris und Dror Ze'evi einen mit Spannung erwarteten Bericht über diese Zeit veröffentlichen. 'Der dreißigjährige Völkermord: Die Zerstörung ihrer christlichen Minderheiten durch die Türkei' argumentiert, dass die türkischen Behörden von 1894 bis 1924 rund 2,5 Millionen Christen systematisch ermordet haben. Zu Beginn dieser Zeit, in Orten wie Anatolien, machten die Christen 20 Prozent der Bevölkerung aus. Am Ende waren nur noch 2 Prozent übrig. Im Laufe des 20. Jahrhunderts und bis ins 21. Jahrhundert wurden die Christen mit Bomben und Kugeln aus dem Nahen Osten vertrieben, und zwar mit kaum einem Fledermausquietschen des Protestes aus dem weltlichen Westen."
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Internet


Facebook zerstört die Demokratie, sagt die Oberserver-Journalistin Carole Cadwalladr, die zum Brexit und russischen Geldern und Einflusskampagnen auf Facebook recherchiert hat, in einem aufsehenerregenden Ted-Talk sozusagen in der Höhe des Löwen. Wie stark die von Instituten wie Cambridge Analytica betriebenen Kampagnen wirkten, lässt sich nicht ermitteln: "Dieses gesamte Referendum fand in der Dunkelheit statt, weil es auf Facebook stattfand. Und was auf Facebook passiert, bleibt auf Facebook, denn nur du siehst deinen Newsfeed, und dann verschwindet er, also ist es unmöglich, etwas zu recherchieren. Wir haben also keine Ahnung, wer welche Anzeigen gesehen hat oder welche Auswirkungen sie hatten, oder welche Daten verwendet wurden, um diese Personen anzusprechen. Oder sogar, wer die Anzeigen geschaltet hat, wie viel Geld ausgegeben wurde oder welcher Nationalität sie waren. Aber Facebook schon. Facebook hat diese Antworten, und es hat sich geweigert, sie uns zu geben."

In einem Artikel im Observer erzählt Cadwalladr Näheres zu den Umständen ihrer ungewöhnlichen Rede und dass Facebook sich offenbar mächtig geärgert und bei den Veranstaltern beschwert hat. Hierzu passt auch ein Economist-Artikel über die chinesische Facebook-Politik, den Facebook allerdings umgehend dementierte.

Meike Laaff und Lisa Hegemann von Zeit online unterhalten sich mit Mitchell Baker von der gemeinnützigen (aber stark von Google finanzierten) Mozilla-Stiftung über ähnliche Probleme. Sie versucht zu nuancieren: "Die Lösungen oder, besser, die Abschwächungen der Probleme, die wir mit neuen Technologien haben, werden ebenfalls technischer Natur sein. Natürlich wissen wir noch nicht, wie diese Lösungen aussehen könnten, das ist der schwierige Teil. Derzeit agieren wir noch eher defensiv."

Die österreichische Bundesregierung will ein "digitales Vermummungsverbot" einführen oder anders gesagt, die Anonymität im Netz aufheben, berichtet Adelheid Wölfel in der FR. "Nicht alle Forenbetreiber sind betroffen, sondern nur jene, die einen Jahresumsatz von mindestens 500.000 Euro, über 100.000 registrierte Nutzer haben oder Presseförderung von 50 000 Euro oder mehr beziehen. Die Ausweispflicht im Netz könnte ab Herbst 2020 gelten. Anmelden soll man sich künftig über eine Handy-Identifikation. Die Daten, die die Forenbetreiber bekommen - Adresse und Namen -, werden dann mit jenen der Mobilfunktbetreiber verglichen. Dann erfolgt die Bestätigung vom Plattformbetreiber, der Nutzer bekommt einen Link zugeschickt und erst dann kann man in den Foren schreiben. Seit Januar 2019 gibt es in Österreich eine SIM-Kartenregistrierungspflicht. Auch bei Erwerb von Prepaidkarten muss seither ein Ausweis vorgelegt werden."
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Medien

Jens Schröder präsentiert bei Meedia die jüngsten IVW-Zahlen der Zeitungen (also die tatsächliche gemessene verkaufte Auflage). Für die meisten Titel ging es bergab: "Dramatischer Verlierer des Quartals ist hingegen die Welt. Ihre Abos und Einzelverkäufe brachen gleichermaßen ein, insgesamt um heftige 17,0 Prozent. Nur noch 70.101 Kunden verzeichnet das Springer-Blatt. Zwar verkündete Springer im März, dass sich 'die Vertriebsstrategie des gedruckten Kernprodukts Die Welt künftig noch konsequenter ausschließlich am zahlenden Leser' orientiert, also 'mit einer klaren Konzentration auf den Einzelverkauf (EV) und die Abo-Auflage', doch gerade hier rauschte die Auflage um diese extremen 17,0 Prozent nach unten."
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Stichwörter: Ivw-Zahlen, Zeitungskrise

Ideen

Über Fake News muss man sich nicht aufregen, die sind "so alt wie die Menschheit", versichert Manuel Müller in der NZZ. Er empfiehlt heutige Medienprobleme durch die Brille von John Stuart Mill zu betrachten, der Meinungsfreiheit nur in den seltensten Fällen beschneiden wollte: "Noch heute besticht sein Argument in dieser Sache - und spätestens hier zeigt sich Mills Genie. Er verteidigt die Lüge, indem er ihre Nützlichkeit beweist. Die Wahrheit wächst an der Lüge. Sie gewinnt Kraft und Sicherheit aus der Verteidigung gegen inkorrekte, halbwahre oder grundfalsche Meinungen. Und mehr noch: Wenn sich die Wahrheit nicht länger an der Lüge bewähren muss, wenn sie stattdessen mit einem Tabu belegt wird, das nicht länger kritisiert oder angegriffen werden darf, dann wird sie träge, stolpert, fällt hin - und stirbt eines langsamen Todes. Niemand kann noch die Gründe und Erfahrungen nennen, die ihr zu allgemeiner Akzeptanz verhalfen."
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Religion

In der Ostersonntags-FAZ kam Volker Zastrow nochmal recht deutlich auf die Äußerungen des Nebenpapstes Benedikt zurück, der die 68er für den sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche verantwortlich machte: "Wer könnte von der Hand weisen, dass es zu den bleibenden Verdiensten der Achtundsechziger gehört, Gewalt gegenüber Kindern und Frauen zurückgedrängt zu haben wie nie zuvor in der Geschichte? Die Kirche hat diese Chance leider verpasst. Sie sollte den Achtundsechzigern von Herzen für segensreiche neue Einsichten danken - auch Josef Ratzinger hätte dazu Anlass, denn sein Bruder war als Chorleiter der Regensburger Domspatzen mitverantwortlich für Bedingungen, unter denen zahllose Kinder Opfer sexueller Gewalt, seelischer und körperlicher Misshandlungen wurden."
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Europa

Auf einen erfreulichen Aspekt der ukrainischen Präsidentschaftswahlen macht David Stern in politico.eu in einer ersten Analyse aufmerksam: "Moskau hat die Ukraine immer wieder beschuldigt, von einer Juden hassenden 'faschistischen Junta' regiert zu werden. Aber im Moment sind die beiden mächtigsten Leute in der Ukraine, der gewählte Kandidat Wolodimir Selenski und der Premierminister Wolodimir Groysman, jüdischer Herkunft. Eine derartige Konstellation wäre bei den meisten Nachbarn der Ukraine, inklusive Russland, undenkbar."
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Gesellschaft

Die Kluft zwischen Arbeiterkindern und besser Gestellten ist im deutschen Bildungssystem immer noch besonders groß, schreibt Deana Mrkaja bei den Salonkolumnisten in einem persönlichen Essay. Und sie wird durch Habitus verschärft: "Für Kinder aus bildungsfernen Haushalten ist der Sprech, der an Unis gebräuchlich ist, alles andere als verständlich. Wir können nicht folgen, fühlen uns fehl am Platz und fragen uns, ob eben die Krankenschwesterausbildung, die Mutter doch so gut fand, nicht die bessere Entscheidung gewesen wäre. Doch es ist nicht nur die Sprache, sondern auch die Themen, Diskussionen, der Verhaltenskodex, die uns alle völlig fremd sind, auf die wir uns erst einmal einstellen müssen. Lange Zeit fühlen wir uns wie Aliens, die auf einem neuen Planeten gelandet sind und bis zu Schluss haben wir das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören."

In der Welt hat Cigdem Toprak die Nase voll von dem Gerede über "alte weiße Männer". Dass das Quatsch ist, hat sie schon an der Uni gelernt: "Während meiner Arbeit an einem wissenschaftlichen Institut, das sich mit Gender- und Rassismusfragen beschäftigt, wurde ich von jenen, die ständig von antimuslimischem Rassismus schrien, die alles und jeden gendern wollten, die white supremacy kritisierten, genauso schlecht behandelt wie früher von unseren rassistischen Nachbarn, die meine Eltern dafür hassten, dass sie zu ihren Nachbarn geworden waren. Die Menschen an diesem Institut begannen, mich schlecht zu behandeln, als sie merkten, dass ich selbstständig denke, mich nicht an Ideologien hänge. Dass ich selbst bestimmen möchte, wann ich von Diskriminierung betroffen bin und wann nicht. Als ich nicht mehr Opfer sein wollte, wurde ich zum Opfer gemacht - woraufhin ich kündigte."

Mark Siemons schreibt in der FAS eine Art Nachruf auf den Fußgänger, der inzwischen auch auf den Bürgersteigen seine Freiheit verloren hat und sich vorsichtig bewegen muss, um jenen auszuweichen, die stets Recht haben: "Die Schonungslosigkeit und Härte, mit der manche und nicht so wenige Fahrradfahrer sich nicht nur ihren Weg bahnen, sondern diesen auch mit Ausbrüchen von Wut und Aggression begleiten, wäre kaum denkbar ohne das zutiefst gute Gewissen, das sich im Einklang mit den Hauptströmungen der Zeit weiß. Da Fahrradfahren umweltschonend, gesund und vergleichsweise schwerelos ist, gehört ihm die Zukunft, und jeder einzelne Radfahrer kann sich nicht nur als Durchsetzer seiner eigenen Interessen im Straßengetümmel fühlen, sondern als Vertreter eines höheren Rechts, das Rechtsverstöße im Einzelnen als verschmerzbar erscheinen lässt."
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