Efeu - Die Kulturrundschau

Die einzige Kampfzone, die wirklich zählt

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05.01.2015. Pardon für die Verspätung!!! Im Freitag fragt Joachim Lottmann, warum die Frauenbewegung (außer Alice Schwarzer) kein Wort zur Unterdrückung muslimischer Frauen verliert. Die begeisterte FAZ liest Michel Houellebecqs neuen Roman "Soumission" als brillante Satire auf die verdrängte französische Kollaboration mit den Nazis. Pompöse Inszenierungen mit einer kleinen Irritation des Gemüts sieht die Welt in der Londoner Ausstellung des Renaissance-Malers Giovanni Battista Moroni.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2015 finden Sie hier

Literatur

Feministinnen, wo ist die Solidarität mit den muslimischen Schwestern? Im Freitag mokiert sich der Schriftsteller Joachim Lottmann über den "Gratismut" im Literaturbetrieb, etwa wenn Marlene Streeruwitz sich öffentlichkeitswirksam von der Nominierung für den Deutschen Buchpreis nicht angesprochen sieht, da diese nur an "Autoren" vergeben werde. "Den realen Gegner des weiblichen Geschlechts, nämlich die an Dynamik dramatisch zunehmende, frauenfeindliche Weltbewegung des Islam, hat sie aber nicht im Blick. Wo Frauenfeindlichkeit kein akademischer Genderdisput ist, sondern auf die Wirklichkeit von Millionen muslimischen Frauen allein in Deutschland trifft, schweigt sie. Das tun außer Alice Schwarzer und wenigen anderen Ausnahmen fast alle FrauenrechtlerInnen. Warum kommen sie ihren zunehmend eingeschüchterten Schwestern nicht zu Hilfe?"

Freitag-Kulturchef Michael Angele stimmt Lottmann zwar tendenziell zu, findet aber seinen Ton "verdächtig": "Formulierungen wie "je schlimmer, je mehr, je allumfassender", "zunehmend" scheinen herbeizusehnen, was es doch fürchtet. Die Psychoanalyse spricht hier von Angstlust. Sie verstellt den klaren Blick. Denn stimmt die behauptete Dramatik überhaupt?"

Jürg Altwegg verfolgt für die FAZ die französische Debatte um Michel Houellebecqs neuen Roman "Soumission", die eigentlich gar keine ist: Denn ob Houellebecq ein Rechter ist oder nicht, sei eine reine Frage der Ideologie geworden. Altwegg liest das Buch dagegen als Satire auf die verdrängte französische Kollaboration mit den Nazis. So konvertiert die Hauptfigur François allein aus Karrieregründen zum Islam: "Als Professor suchte er sich seine Gespielinnen unter den Zweitsemestern aus, er liebte ihre kurzen Röcke. Jetzt müssen sie Schleier tragen. An der von den Saudis kontrollierten Sorbonne bekommt François ein viel höheres Gehalt. Und drei Frauen, die er gar nicht erst verführen und erobern muss. Die jüngste ist 15 Jahre alt - im Jargon Houellebecqs: Frischfleisch. Mit dem Islam teilt er das Ideal von der unemanzipierten und verfügbaren Frau. Die einzige Kampfzone, die wirklich zählt, ist die Sexualität." Außerdem hat die FAZ Sandra Kegels ersten Lektüreeindruck online nachgereicht.

Im Interview mit der Welt am Sonntag beschreibt Michel Houellebecq seinen Roman als "politische Fiktion". Und er erklärt, warum Joris-Karl Huysmans gewissermaßen Auslöser von "Soumission" war: "Huysmans war der typische Fall eines Menschen, der aus rein ästhetischen Gründen zum Katholizismus konvertierte. Die religiösen Fragen, mit denen etwa Pascal sich quälte, lassen ihn vollkommen kalt, er spricht nie davon. Ich habe beinahe Mühe, mir jemanden vorzustellen, der in diesem Ausmaß Ästhet ist. Aber für ihn liefert die Schönheit den Beweis."

Alain Finkielkraut versteht in seiner begeisterten Lektüre von "Soumission" im JDD, warum sich der Erzähler vom Décadent Huysmans faszinieren lässt: "Huysmans "verlässt den Tunnel", indem er sich dem Katholizismus zuwendet, aber nicht weil er Gott gefunden hat, sondern weil er sich "an der Atmosphäre aus Wachs und Weihrauch" berauscht. Genauso wendet sich der Westler laut Houellebecq am Beginn des neuen Jahrtausends aus Enttäuschung über die Liebesheirat und das Treiben in den Single-Clubs dem Islam zu - wegen der erotischen Anziehungskraft der Polygamie." Und Pierre Assouline (ein Kritiker, den Houellebecq nicht ausstehen kann) nennt den Roman in seinem Blog "provokant und unverantwortlich wie eh und je". Lesen kann man auch Christine Binis Besprechung in BHLs Blog La Règle du Jeu.

Weitere Artikel: Gerrit Bartels wirft für den Tagesspiegel einen Blick aufs literarische Programm des neuen Jahrs. In der Welt erklärt Nick Hornby im Interview, warum er gern die Romane von Kollegen für den Film umschreibt.

Besprochen werden u.a. Pierre Lemaitres 2013 mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneter Weltkriegsroman "Wir sehen uns dort oben" (Zeit, SZ), eine von Hans Dieter Schäfer herausgegebene Sammlung von Sigismund von Radeckis Feuilletons (Tagesspiegel), Meg Wollitzers "Die Interessanten" (Tagesspiegel) und eine Neuübersetzung von Jaroslav Hašeks "Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg" (Tagesspiegel).

Außerdem jetzt online bei der FAZ: Die aktuelle Lieferung der Frankfurter Anthologie, in der Dirk von Petersdorf sein Gedicht "Raucherecke" vorstellt:

"Ihr Langen, wo seid ihr? Ich hab
nicht mal mehr eure Nummern.
Gibt es denn Besseres als am Morgen
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Manuel Brug besucht für die Welt in Londons Royal Academy eine Ausstellung des Renaissance-Malers Giovanni Battista Moroni, "ein Maler der zweiten Reihe, aber ein entdeckenswerter", versichert er, dessen Porträts mehr sind als "ein genaues Abbild der provinziellen Gesellschaft wie der jeweiligen Mode. Doch Moroni gelang mehr, was vor allem im fortlaufenden, dabei klug gegliederten Reigen dieser Bilder vor dunklen Wänden leuchtend zutage tritt: Er schlüpfte in die jeweilige Persönlichkeit, zeigte trotz pompöser Inszenierung nicht selten eine Irritation des Gemüts und entlarvte, zumindest unterwanderte die Pose des Dargestellten." (Bild: Giovanni Battista Moroni, Isotta Brembati, ca.1555)

Die Ausstellung "Queensize" versammelt im Me Collectoors Room in Berlin zahlreiche, aus der Sammlung Thomas Olbricht stammende Werke von Künstlerinnen, ohne sich insgesamt explizit als feministische Ausstellung zu positonieren, erklärt Sabine Weier im Tagesspiegel. Dafür kann man hier " in die Abgründe der menschlichen Psyche blicken. Mit Werken, die sich mit Sadismus, Gewalt oder Pornografie auseinandersetzen. Mal kommen sie unheimlich daher, mal makaber. ... Um ihre Wirkung muss sich die Schau also nicht sorgen. Wohl aber um den Zusammenhalt des Konzepts, das einen "spezifischen Blick" verspricht, ohne ihn zu erläutern, zu deuten."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung zum Kinderbuch-Duo Mira Lobe und Susi Weigel im Wien-Museum (NZZ), die Schau "Finden und Fügen" mit Arbeiten von Claudia Busching und Pomona Zipser in der Kommunalen Galerie Berlin (taz), eine Ausstellung von Danja Akulin und Lucas Arruda in der Berliner Galerie Poll (Tagesspiegel), eine Ausstellung von Julius Weilands Glaskunst in der Berliner Dat Galerie (Tagesspiegel), Michael Weseleys im Mies van der Rohe Haus in Berlin gezeigte Langzeitfotografie "The Epic View" (FAZ) und eine Ausstellung mit Arbeiten der feministischen Medienkünstlerin Lynn Hershman Leeson im ZKM Karlsruhe (FAZ, mehr hier und hier).
Archiv: Kunst

Film

Zum Beginn der Oscar-Saison empfieht David Steinitz (SZ) die Roundtable-Videos des Hollywood Reporters, bei denen sich die Spitzenreiter zum Gespräch einfinden, wobei er besonders die Gespräche mit den Strippenziehern hinter der Kamera hervorhebt. Besprochen wird Rosa von Praunheims neuer Film "Praunheim Memories", der gestern in Berlin Premiere feierte (Berliner Zeitung).
Archiv: Film
Stichwörter: Praunheim, Rosa von

Bühne

Nachdem sich das neue, experimentellere Konzept von Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler für das Zürcher Theater Neumarkt negativ auf die Besucherzahlen ausgewirkt hat, steht das Spielhaus seitens der Politik und der Schweizer Feuilletons in der geballten Kritik, berichten Charlotte Theile und Egbert Tholl in der SZ. Patrick Wildermann porträtiert im Tagesspiegel die Regisseurin Reihaneh Youzbashi Dizaji.

Archiv: Bühne
Stichwörter: Kastenmüller, Peter

Musik

Schon die Jungle World lag ihr zu Füßen. Nun erliegt auch Andreas Hartmann (taz) dem mit Underground- und Punkethos grundierten Charme der niederländischen DJane Marcelle, die regelmäßig in Berlin-Neukölln auflegt. Die Amsterdamerin steht ziemlich quer zu dem, was angesagte DJs in Berlin sonst aufzulegen gezwungen sind: Sie "mixt gern Platten mit afrikanischer Musik, Dub und elektronischer Querschlägermusik. Dazu serviert sie sonderbare Geräusche, Froschquaken und Ähnliches oder Ausschnitte aus Hörspielplatten. Am liebsten spielt sie ihre Platten auch nicht nacheinander ab, sondern zeitgleich, nicht ein Track löst den anderen ab, sondern die verschiedenen Soundquellen legen sich Schicht auf Schicht übereinander." In dieser Mini-Doku kann man sie bei der Arbeit beobachten:



Einst belächelt, heute allseits beliebt: In der FAZ lobt Peter Kemper die Ukulele, die seiner Ansicht nach "sogar als das Musikinstrument des herrschaftsfreien Diskurses, als der Wegbereiter zwangloser Kommunikation verstanden werden" kann. Hier ein paar Hörproben.

Besprochen werden eine Brahms-Aufnahme unter Daniel Reuss (Zeit), ein Bildband über die Rolling Stones (Berliner Zeitung), das Neujahrskonzert der Berliner Volksbühne mit Britta und Gästen (Tagesspiegel) und das neue Album von Olli Schulz (FAZ).
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Architektur

Für "erstaunlich frisch" hält Christiane Meixner (Tagesspiegel) die über 40 Jahre alten Ideen der Architekturgruppe Haus-Rucker-Co, die derzeit im Berliner Haus am Waldsee ausgestellt werden: "Ihre viralen Interventionen wirkten wie eine Droge. Die Farben im Raum wurden plötzlich intensiver, aus dem Boden erhoben sich riesige Finger als Wegweiser, und in den pneumatischen Luftarchitekturen der späten sechziger Jahre schwebten Menschen in transparenten Kugeln wie auf unsichtbaren Balkonen."

Das neue Designmuseum in Barcelona, Disseny HUB, lässt sich auch als Intervention im öffentlichen Raum verstehen, meint Klaus Englert in der taz: Es handelt sich dabei um "ein Gebäude, das sich wohltuend von den Gespreiztheiten und Farborgien der [benachbarten] Torre Agbar abhebt. ... [Es lässt] sich bauästhetisch nicht erschöpfend beurteilen (...), da es Bohigas vornehmlich darum ging, durch den Museumsbau ein Höchstmaß an öffentlichem Stadtraum zurückzugewinnen." Für die SZ war Thomas Urban vor Ort.
Archiv: Architektur