Heute in den Feuilletons

Nicht einfach nur natürlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2013. Nun ist es offiziell: Aus Datenschutz wird Datenpflicht. Der Anbieter Lavabit, mit dem Edward Snowden seine E-Mails sandte, musste schließen - die amerikanische Regierung akzeptiert keine verschlüsselten E-Mail-Dienste. Andere Anbieter haben schon nachgezogen, berichten Wired.com, viele Blogs und Spiegel Online. Auch das Anonymisierungsnetzwerk Tor wird vom FBI bedrängt, empört sich Constanze Kurz in der FAZ. Die NZZ tröstet uns mit alternativer House-Musik. Die Welt mit einer nachdunkelnden Anna Netrebko. In der taz mahnt die Ökologin Ulrike Gonder: Wer sich vegetarisch ernährt, sollte nicht Bio essen. Und Suhrkamp siegt.

Aus den Blogs, 09.08.2013

Lavabit, der verschlüsselte E-Mail-Dienst, mit dem Edward Snowden kommunizierte, ist von einem Tag auf den anderen geschlossen worden. Gregory Ferenstein zitiert in wired.com aus der Abschiedsmail des Gründer des Dienstes, Ladar Levison: "I have been forced to make a difficult decision: to become complicit in crimes against the American people or walk away from nearly ten years of hard work by shutting down Lavabit. After significant soul searching, I have decided to suspend operations. I wish that I could legally share with you the events that led to my decision. I cannot." Wenig später kam die Meldung, dass auch ein anderer Anbieter verschlüsselter E-Mail-Dienste, Silent Circle, von sich aus geschlossen hat. Josh Constine schreibt, ebenfalls in wired.com: "It hadn't been told to provide data to the government, but after Lavabit shut down today rather than be 'complicit' with NSA spying, Silent Circle told customers it has killed off Silent Mail rather than risk their privacy." So schnell geht das: Aus Datenschutz wird Datenpflicht.

Bei Spiegel Online ist diese Geschichte inzwischen Aufmacher. "Es handele sich um einen seltenen und vielleicht sogar einzigartigen Fall, dass ein US-Unternehmen lieber seine Tätigkeit einstelle, als einer Bitte von US-Behörden zur Herausgabe von Informationen nachzugeben, sagte Kurt Opsahl, ein Anwalt der Bürgerrechtsgruppe Electronic Frontier Foundation in San Francisco."

Gizmodo bringt eine Reihe von Tweets enttäuschter Lavabit-Nutzer.

Bereits gestern hatte die New York Times gemeldet, dass die NSA auch in den USA die Inhalte von Mails in weitaus stärkerem Maß als bisher bekannt auswertet.


TAZ, 09.08.2013

Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der sich und seine Behörde für den "offensiven Umgang mit dem Parlament und der Presse" lobt, erklärt im Interview, keine Hinweise darauf zu haben, ob NSA und GCHQ den Internetknoten in Frankfurt am Main angezapft haben, und was die Überwachung von Facebookeinträgen oder Emails angeht, behauptet er: "Jeder muss sich im Klaren sein: Eine E-Mail zu verschicken, ist so wie eine Postkarte zu verschicken." (Wo steht das? In der Verfassung, die er angeblich schützt?)

Ulrich Gutmair hat sich mit Regisseur Gideon Raff über "Hatufim" unterhalten, die supererfolgreiche und vieldiskutierte israelische Fernsehproduktion und Vorlage für die amerikanische Serie "Homeland", deren erste Staffel es jetzt auf DVD gibt. In der Serie erzählt Raff von den Traumata zweier israelischer Soldaten, die nach siebzehn Jahren aus arabischer Kriegsgefangenschaft heimkehren: "Nicht nur in den Gesellschaften, in denen Folter zielgerichtet eingesetzt oder auch 'nur' geduldet wird, stellt sie den sozialen Zusammenhalt und die Menschlichkeit als solche infrage. Wenn israelische Soldaten ihr Opfer werden, wird das im Land als Wiederkehr des uralten Traumas der Verfolgung erfahren, aber kaum thematisiert. 'Das Land möchte ein Happy End sehen, wenn die Gefangenen zurückkommen. In Wahrheit aber gibt es für die Betroffenen kein Happy End', sagt Gideon Raff."

Besprochen werden das Album "Between the walls" der britischen Formation About Group und der Film "Gloria" des chilenischen Regisseurs Sebastian Lelio über eine Frau in der Mitte ihres Lebens.

Nur online zu lesen ist ein Artikel der Ökologin und Autorin Ulrike Gonder, die den Veganismus (und nebenbei den Vergetarismus) als Ideologie zeichnet. Einer der Aspekte an der Sache: Wer sich vegetarisch ernährt, darf eigentlich nicht Bio essen, weil Biolandwirtschaft auf Kunstdünger verzichtet und darum Tiere braucht: "Geschlossene Kreislaufwirtschaft heißt ihr Grundprinzip: Tiere, Menschen und Pflanzen leben in einer sich gegenseitig stützenden und nährenden 'Mischkultur'. Nur so ist Nachhaltigkeit überhaupt möglich. Würden die Biokunden auf Fleisch, Milch und Eier verzichten, wäre dies das Ende der ökologischen Landwirtschaft."

Und Tom.

FAZ, 09.08.2013

Constanze Kurz empört sich über den FBI-Angriff auf das Anonymisierungsnetzwerk Tor (hier dessen Stellungnahme), der anlasslos Klardaten von zehntausenden Nutzern zutage brachte: "Eine anwendbare Rechtsgrundlage gibt es dafür nicht, der Zweck heiligte die Mittel: Ein Vorgehen jenseits des Rechtsrahmens scheint im Netz langsam Usus zu werden. Offensichtlich spielte die psychologische Einschüchterung dabei eine entscheidende Rolle, denn die wenig subtile Botschaft des Angriffs lautete: 'Ihr könnt euch nicht verstecken, wir kriegen euch alle.'" Möglich machte den Angriff im übrigen aktiviertes Javascript. Der IT-Journalist Burkhard Schröder dazu in seinem Blog: "Wer über Tor surft und Javascript aktiviert hat, kann auch gleich das Schloss vor die Tür nageln. Diese 'Sicherheitslücke' betrifft nur Leute, die sich um Sicherheit wenig kümmern."

Auch Sandra Kegel mutmaßt, dass Hans Barlach nach den jüngsten Entwicklungen in den Auseinandersetzungen um Suhrkamp seinen Anteil bald verkaufen oder dass sich der frühere Gesellschafter Andreas Reinhart seinen Anteil mangels Bezahlung zurückholen könnte. "Mit Andreas Reinhart hatte Suhrkamp einst einen stillen Teilhaber, der sein Vermögen mit Kaffee gemacht hat. Mit den Ströhers käme das Geld aus dem Shampoo-Geschäft. Wer auch immer demnächst bei Suhrkamp mit im Boot sitzt - es scheint, als könnte der Verlag der alten Kultur im neuen Look in die Zukunft gehen."

Weitere Artikel: Die Aktivistin Raegan MacDonald fordert die Europäer auf, sich im Zuge von Prism für besseren Datenschutz einzusetzen. Ulla Berkéwicz erinnert sich an ihren Großonkel aus Tel Aviv und einige Takte aus Wagners "Parsifal". FAZ-Korrespondent Martin Kämpchen blickt auf einer ganzen Seite auf 40 Jahre Leben in Indien zurück. Gerhard R. Koch berichtet vom Arcana Festival in Admont. Jürgen Dollase speist im Essener "Hugenpöttchen", wo ihm vom Strammen Max und Broten mit Grützwurst und Mett "ein Hauch von Pop-Art" entgegen weht. Patrick Bahners schreibt den Nachruf auf den Soziologen Robert Bellah.

Besprochen werden die Ausstellung "Mit Stift und Feder" im Augustinermuseum in Freiburg (Bild: Friedrich Eibner: Blick vom Fischbrunnen auf das Freiburger Münster, 1868), Vincent Dieutres Essayfilm "Jaurès", eine Ausstellung über "Edvard Munch in Stuttgart" in der Staatsgalerie Stuttgart, die Ausstellung "Kunst in der Epoche von Altamira" in Spanien, neue Schallplatten, darunter ausführlicher das neue Album von Helge Schneider, und Bücher, darunter Markus Feldenkirchens Roman "Keine Experimente" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 09.08.2013

"Außenseitertum ist im Gespräch", ruft Bjørn Schaeffner und stellt experimentelle Produktionen kleiner House-Labels vor wie L.I.E.S. (kurz für Long Island Electrical Systems), Future Times oder Trilogy Tapes: "Es geht um House-Musik, die anders klingen will: kratzbürstig statt glattpoliert; vielseitig statt gleichförmig; überraschend statt abgedroschen. Das ist dann House, der plötzlich nicht mehr nur die obligate Ladung Soul getankt hat, sondern auch einmal mit grimmiger Industrial-Miene über eine Waldlichtung funkt - und zulässt, dass zwitschernder Acid plötzlich zu arabischen oder afrikanischen Rhythmen ertönt." Oh, und antidigital ist man auch!

Hier Steve Summers "New Surroundings":



Weitere Artikel: Marion Löhndorf berichtet von den ungeschickten Versuchen David Camerons, sich bei Popkünstlern einzuschmeicheln. Alfred Zimmerlin verabschiedet Graziella Contratto, die in diesem Jahr zum letzten Mal das Davos-Festival leitete.

Besprochen werden eine Ausstellung zum 150. Geburtstag des Kinderbuch- und Tierzeichners Ernst Kreidolf im Kunstmuseum Bern (Bild: "Bei den Gnomen und Elfen: Geburtstag, 1929" von Ernst Kreidolf), die Ausstellung "Landschaft" im Schmuckmuseum Pforzheim im Reuchlinhaus und eine Ausstellung über grünen Schulhausbau im National Building Museum in Washington.

Welt, 09.08.2013

Auf der Forumsseite setzt die Welt die Verharmlosung der NSA-Affäre, die fast zum Markenzeichen der Zeitung geworden ist, fort. Für den Publizisten Wolf Lotter stellt sich die Empörung als Marotte eines wohlmeinenden linksliberalen Bildungsbürgertums dar: "Das Neue ist Bedrohung. Man versteht es nicht und will es auch nicht verstehen. Man empört sich schnell, bleibt im Übrigen aber handlungsunfähig."

Manuel Brug beobachtete Anna Netrebko in Salzburg (etwa in Verdis früher Oper nach "Jeanne d'Arc") und sieht sie auf dem Weg zur "hässlichen", das heißt charaktervollen Stimme: "Zugleich aber signalisierten ihre überströmenden, doch disziplinierten Kantilenen, die nicht einfach nur natürlich fließen, sondern hörbar das Ergebnis sorgfältig eingesetzter und bestens beherrschter Stimmtechnik sind: Hier ist eine Sängerin bereit für Größeres, vielleicht sogar Kontroverses."

Weitere Artikel: Heinz Verfürth annonciert eine Flut von Veröffentlichungen und Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag Willy Brandts, darunter eine Neuauflage der Memoiren Egon Bahrs, der Herbert Wehner als Verräter an seinem Idol darstellt. Tim Ackermann wirft einen kritischen Blick auf die kommende Berlin Art Week. Alan Posener berichtet, dass der Schauspieler und Autor Gerhard Haase-Hindenberg die sexuellen Vorlieben der Deutschen erforschen will. Elmar Krekeler empfiehlt in seienr Krimikolumne Matthew Stokoes "Empty Mile". Und Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Danny Boyle über seinen neuen Film "Trance".

Tagesspiegel, 09.08.2013

In Berlin schwirrt ein Gerücht durch die Luft, meldet Bernhard Schulz. Laut einer von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beauftragten, aber noch zurückgehaltenen Machbarkeitsstudie "wird die Verlagerung der Gemäldegalerie vom Kulturforum in einen künftigen Neubau gegenüber der Museumsinsel abgelehnt, der Neubau eines Museums für die Bestände des 20. Jahrhunders auf der Freifläche an der Potsdamer Straße hingegen befürwortet. Die Gemäldegalerie, eigens für die Alten Meister errichtet, bliebe demnach, was sie ist; die Neue Nationalgalerie hingegen, deren Sammlung des 20. Jahrhunderts jeweils nur häppchenweise gezeigt werden kann, würde ein Nachbargebäude für diese Bestände erhalten. Der - demnächst zur Sanierung für drei Jahre geschlossene - Kunsttempel Mies van der Rohes aus dem Jahr 1969 würde künftig allein für Ausstellungen genutzt werden."

SZ, 09.08.2013

Keine guten Zeiten für Hans Barlach. Nun hat ihm auch das Landgericht Berlin eine Schlappe im Suhrkamp-Prozess eingebracht. Beeindruckt von Barlachs Vehemenz vor Gerichte zu ziehen, mutmaßt Andreas Zielcke schon, ob sich der Minderheitengesellschafter womöglich in einer finanziellen Notsituation befindet. Schließlich wurde er kürzlich dazu verteilt, die von Andreas Reinhart übernommenen Suhrkamp-Anteile zu bezahlen. "Ein noch düstereres Licht fällt auf seine Finanzlage, wenn man einbezieht, dass Reinhart seinen Anspruch zwangsvollstrecken kann: Angeblich besitzt er bereits ein Pfandrecht an Barlachs Anteilen an der Medienholding AG. Sollte er diese Anteile zwangsversteigern müssen (was jetzt offenbar der Fall ist), säße unversehens ein völlig neues Gesicht am Tisch der Verlagsgesellschafter. Das Barlach-Suhrkamp-Drama könnte in ein tragikkomisches Finale münden."

Weitere Artikel: Catrin Lorch erinnert an die Blütezeit der Aktfotografie um 1900, die man sich gerade in einer Ausstellung in Berlin und diversen Bildbänden vergegenwärtigen kann. Tim Neshitov berichtet von einer Posse in der Türkei, wo die Regulierungsbehörde fürs Fernsehen juristisch gegen eine populäre Serie mit historischem Setting vorgeht, die in der Darstellung der Haremskultur zu stark an tradierten Vorstellungen rüttelt. Willi Winkler meldet freudig den Fund von Orson Welles' bislang verschollen geglaubtem, ersten Film "Too Much Johnson" in einem italienischen Lagerhaus. Michael Struck-Schoen verabschiedet den Dirigent und Intendant Stefan Soltesz, der das Essener Aalto-Theater nach 16 Jahren verlässt.

Besprochen werden die Salzburger Aufführung von Verdis "Giovanna d'Arco", Danny Boyles neuer Film "Trance", Buddy Guys neues Album "Rhythm & Blues" und Bücher, darunter Norbert Gstreins Roman "Eine Ahnung vom Anfang" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).