Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.06.2002. William Langewiesche hat für Atlantic Monthly die Aufräumarbeiten am ground zero beobachtet. Der Economist ist verstört von Maria Eichhorns Pervertierung des Kapitalismus auf der Documenta. In Literaturen seziert Sigrid Löffler Martin Walsers "Tod eines Kritikers". Der New Yorker porträtiert den Boxer Lennox Lewis. Outlook India stellt Indiens künftigen Premier Abdul Kalam vor. Im Spiegel klagt Autor Jonathan Franzen über seine unausgesprochene Rivalität mit Oprah Winfrey. Im Nouvel Obs stellt Autor Tim Parks den Fußballclub Verona vor. In der NYT bespricht Mark Mazower zwei Biografien eines "french cultural racist": Napoleon.

The Atlantic (USA), 01.07.2002

Der fabelhafte William Langewiesche ist zurück (Sie erinnern sich an seine Reportagen über die Schiffsabwracker in Indien und den Wein-Guru Robert Parker?). Sechs Monate lang hat er offenbar als einziger Journalist Zugang zu ground zero erhalten. Langewiesche hat sich durch die Trümmer des World Trade Centers gegraben, die Bergungs- und Aufräumarbeiten begleitet, mit Polizisten, Feuerwehr-Leuten, Forensikern und Ingenieuren gesprochen. Im Netz zu lesen sind leider nur Auszüge seines sagenhaften Reports "American Ground: Unbuilding the World Trade Center", unter anderem dieser: "Early on I found a piece of high ground from which to watch the changes. It was inside the severely damaged and deserted Bankers Trust building, a black steel structure forty floors high, which stood across Liberty Street from the ruins and was eventually draped in dark safety netting and hung with a large American flag. During the South Tower's collapse steel spears and column sections had plunged into Bankers Trust, tearing a huge gash in its north face, destroying a load-bearing column for ten floors, spilling tons of office innards, and leaving the partially demolished floor slabs to sag like hammocks over a deadly void. In a crater at the base a mound of rubble lay laced with the remains of people who had been killed in the South Tower or on the street. There was serious concern at first that the building would not stand, but it did. And apparently no one had died inside. Firemen checked the spaces quickly, leaving their fluorescent-orange graffiti - SEARCHED - on each floor. In the dust that coated one wood-paneled wall someone, maybe from the Boston Fire Department's team, drew a sad face and scrawled, "Kill All Muslims / 9-11-01 / B.F.D."

Dazu hat Atlantic ein Interview mit Langewiesche ins Netz gestellt, in dem er erklärt, warum das World Trade Center zum Schlechtesten zählt, was die USA hervorgebracht haben, die Beseitigung seiner Trümmer jedoch - sagen wir, abgesehen vom einen oder anderen Graffiti - zum Besten.

Weitere Artikel: Mit einem Doppelklick hat sich Michael Benson ins Weltall katapultiert und schwärmt über die beste Show der Welt, die auf den Seiten der NASA zu sehen sei (Videos von der Marsexpedition etwa sind hier zu sehen, von den Missionen zum Mond hier). Kenneth Brower befürchtet, dass Ansel Adams von der Retrospektive zu seinem 100. Geburtstag, die gerade durch die USA tourt, nicht begeistert wäre.

Literatur gibt es natürlich auch noch: Besprechungen widmen sich Robert A. Caros Lyndon-Johnson-Biografie "Master of the Senate", Derwent Mays Geschichte des Times Literary Supllement "Critical Times", Walter Mosleys neuem Easy-Rawlins-Krimi "Bad Boy Brawly Brown". Und Christopher Hitchens hat noch einmal Upton Sinclair gelesen.

Zu lesen ist außerdem die Kurzgeschichte "Report From Junction" von Brad Vice, zu hören sind Gedichte von Michael Collier, Robert Thomas, Cathy Smith und Sharon Olds.
Archiv: The Atlantic

New Yorker (USA), 24.06.2002

David Remnick, Autor einer vielgelobten Biografie Muhammed Alis, liefert ein großes Porträt des Boxers Lennox Lewis. Lewis ist 36 Jahre alt (nicht etwas alt für einen Boxer?), Brite und amtierender Weltmeister im Schwergewicht: "It is no fault of Lewis's, but the heavyweight championship, like the British throne, is an ever more marginal office. Just as Elizabeth II struggles to dampen the News of the World impression of her unruly clan, Lewis has, for years, been haunted by his own tabloid ghost, Mike Tyson. No matter that Tyson has not been himself as an athlete since his incarceration, in the early nineties, for raping a beauty queen in Indianapolis. Somehow the legacy of Tyson's youthful ferocity - his string of one- and two-round knockouts when he was barely out of his teens - coupled with his penchant for theatrically toxic behavior and interviews scripted by a hip-hop Jean Genet, grabbed whatever little cultural fascination was left to the fight game. Lewis was justly convinced that he would not be acknowledged a 'supreme sweet scientist' (he loves the Regency terminology) until he had defeated Tyson." Das hat er ja nun geschafft, am 8. Juni in Memphis.

Weitere Artikel: John Lahr porträtiert den Komponisten Richard Rodgers, Joan Acocella erzählt, "how young dancers grow up", Peter Schjeldahl schreibt über Kunst in Europa: die Documenta und die Baseler Kunstmesse. Anthony Lane bespricht Steven Spielbergs "Minority Report" ("The worst thing about the new Steven Spielberg picture is the title, "Minority Report." The best thing about it is pretty much everything else.") John Updike stellt zwei Bücher vor, die den Untergang der Lusitania (mehr hier) am 7. Mai 1915 schildern. Und schließlich dürfen wir noch die Geschichte "Airplane" von Haruki Murakami lesen.

Nur im Print: Peter J. Boyers Reportage über den Überlebenskampf der Armee in Washington und Isabel Hiltons Brief aus Frankreich, der sich mit dem Front National auseinandersetzt.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.07.2002

Hier kommt Sigrid Löfflers Kommentar zur Walser-Debatte. Nachdem der Sturm sich gelegt hat, kann sie "Tod eines Kritikers" in aller Ruhe sezieren und feststellen: "Walsers Buch ist kein Skandal. Es ist weder antisemitisch noch ein Dokument des Hasses. Es ist ein Dokument der gekränkten, aber umso besesseneren Hassliebe eines Autors zu seinem lebenslangen Leibkritiker und Intimfeind - und insofern unklug; es ist eine ins Dämonische verzerrte Bloßstellung aller wohlbekannten Charakterschwächen und menschlichen Defizite dieses Kritikers - und insofern degoutant ... es ist eine Entlarvung der Mechanismen des Literatur- und Medienbetriebs unter den Bedingungen des Fernsehens - und insofern gnadenlos klug und fast prophetisch." Prophetisch, weil Walser eben jene medialen Prozesse der Ausschließung und Diffamierung analysiere, deren Opfer er nun selbst geworden sei.

Löffler porträtiert auch Jonathan Franzen und kommt wie der Spiegel auf seinen Zusammenstoß mit der Oprah-Winfrey-Show zu sprechen: "Franzens Analyse der totalen Macht des Fernsehens auf Kosten der literarischen Kultur wird durch den empörten Wirbel, den sein Widerstand auslöste, auf paradoxe Weise bestätigt. In der öffentlichen Meinung hat das Fernsehen natürlich gesiegt. Aber gerade weil er als Verteidiger der Buchkultur allseits ins Unrecht gesetzt wurde, behielt Franzen Recht." In einer Beilage bringt das Magazin auch Franzens kulturkritischen Essay "Vielleicht auch träumen" von 1996 erstmals auf Deutsch.

125 Jahre Hesse - Robin Detje memoriert seine "Siddhartha"-Lektüre ("im Schatten von Helmut Schmidt") und stößt auf erschreckende Parallelen zum Zeitgeschehen: "Da weigert sich ein junger Mann immerhin beständig, seinen Lehrern zu trauen, und zeigt selbst Buddha persönlich eine Lücke in dessen Lehre auf, wenn auch demütig. Die Jugend von heute wüsste sich das allerdings zu übersetzen und würde sofort zur Pump Gun greifen. Wehret den Anfängen. Der junge Herr Siddhartha ist auf seine Weise ein Terrorist und Selbstfindungs-Terminator." Ist es nicht ganz erstaunlich, überlegt Detje, "wie viel spirituellen Ehrgeiz der Kollege S. zwecks Erlangung der reinen Ehrgeizlosigkeit aufwenden musste? War er nicht vielleicht doch bloß ein kleiner heiliger Schnösel, den eine Backpfeife von Helmut Schmidt und ein dicker Band Karl Popper wieder auf den richtigen Weg gebracht hätten?"

Ferner im Sommer-Doppelheft: Ein großes Dossier über Städte mit Texten von Georg Klein, Juan Goytisolo, Ulrike Draesner und vielen anderen. Franz Schuhs Besprechung eines launigen Krimis von Driss Chraïbi, Henning Klüvers Gedanken über die Zusammenhänge von Politik und Literatur in Italien, sowie Nicolas Pethes' Ausführungen zur Wirkungsweise des Medical Thrillers.
Archiv: Literaturen

Economist (UK), 22.06.2002

"Books and Arts" liefert einen Bericht von der weltweit größten Kunstschau in Kassel. Was gibt es zu sehen auf dieser ersten documenta im 21. Jahrhundert? Jede Menge zum Thema Bilderflut, zum Thema Grenzen auch, eher wenig Sex - und eine Arbeit von Maria Eichhorn "from Germany", die mit Hilfe der Documenta Foundation eine Firma gegründet hat, deren einziges Ziel darin besteht, um Himmels willen keinen Profit zu machen, "thus perverting one of the basic principles of capitalism". Eine surreale Arbeit, bestehend aus lauter Firmenunterlagen, erklärt der Economist und fügt sicherheitshalber hinzu: "Ms Eichhorn and her co-exhibitors are not crypto-communists. Rather they express a profound anxiety about a global capitalism that, they believe, all too easily homogenises human expression." Wie beruhigend.

Im einleitenden Artikel eines Technology Quarterly bekommen Investoren den Ratschlag, herkömmliche Informationstechnologien endlich abzuschreiben und sich stattdessen die wirklich innovativen Disziplinen vorzunehmen, als da wären: "genomics, neuro-silicates, nanotechnology and, above all, bio-informatics". Außerdem preist man die Investitionsmöglichkeiten mit "soft capital" und neue flexiblere Produktionsverfahren: "Specialised 'hard tooling' is giving way to reprogrammable 'soft assembly' lines. In short, companies do not have to spend anything like the sums they used to do to get comparable, or even greater, increases in output. In an increasingly competitive world, much of the extra profit released in the process then flows directly into innovation and new product development."

Anderes: Die Cover Story nimmt sich noch einmal der angeschlagenen US-Wirtschaft an: Auch die Aussichten sind trübe. Wir erfahren über die Herausforderungen an die neue französische Regierung, darüber, wie wir lernen, während wir schlafen, und über den 350. Geburtstag der Quäker, der naturgemäß in aller Stille begangen wird.
Archiv: Economist

Outlook India (Indien), 01.07.2002

Anita Pratap wird nicht müde, auf die Gefährdung der demokratische Grundordnung in ihrem Land aufmerksam zu machen. Wenn die beiden Prinzipien Demokratie und Multikulturalismus, die Indien vereint haben, beschädigt werden, warnt sie, wird Indien zerbrechen. "Gujarat ist ein klassisches Beispiel." Die Wahl des Moslems Abdul Kalam zum Staatspräsidenten hält sie für wenig hilfreich im Clinch zwischen den Ethnien: "Only BJP supporters can believe this 'masterstroke' will atone for their sins, appease the anguished Muslims and is guided by lofty ideals and not cynical, cold-blooded opportunism. This kind of tokenism will not impress the people it is meant to impress ... Only fearless intervention by influential, liberal Hindus can save India from the ruinous clutches of Hindutva."

Dabei ist Kalam ein ganz Sympathischer. Sheela Reddy stellt seine 1999 entstandene Autobiografie "Wings of Fire" vor, die weniger das äußere Leben von Indiens künftigem Premier als seine "spirituellen Erfahrungen" verhandelt, "oft banal, manchmal weise, aber stets aufrichtig". Schön auch, wenn das Buch Kalams Karriere als Raketen-Techniker als "seinen Weg zur spitrituellen Erleuchtung" nachzeichnet. Herausgekommen ist "a simple man, almost naive, but astute in his judgement of people and with tested leadership skills, at home with prime ministers and schoolchildren alike, but with no desire to please anyone but his God".

Besprochen wird auch ein Band, der 34 Interviews mit Salman Rushdie versammelt. "A Sourcebook of his Ideas" lautet der Untertitel des Buchs, und so stößt Malashri Lal auf jede Menge "gems", Juwelen, und kann sagen: "Rushdie is more than the sum of his novels and his imaginary homelands. This collection makes us privy to the man behind the words, his strengths and vulnerabilities uncovered as a chronicle of his life never told in this fashion."

Sanjay Suri schließlich überblickt die Kritiken zum Auftakt des Webber-Musicals "Bombay Dreams" in London und konstatiert etwas bitter: "The usual Indian indulgence of things Bollywoodish was seen little and shared less by the cool critics of British dailies."
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 27.06.2002

Jetzt isser heilig, Padre Pio. Giorgio Bocca lässt die Prozedur in Rom Revue passieren und erkennt einmal mehr die Insignien einer gigantischen "Kirchen Show" zu Ehren des volkstümlichen Katholizismus. Außer Veilchenduft nichts gewesen? Handfeste Gründe für das Fortbestehen einer Organisation wie der katholischen Kirche mit einem Oberhaupt, das sich nicht mehr rühren, nicht mehr sprechen und hören kann, fallen Bocca nicht ein. Der sich quälende Papst - eine Reminiszenz an den Schmerzensmann am Kreuz? Eine Mahnung an die krisengeschüttelte Welt, dass das Leid Teil unsres Schicksals ist und auch die Heiligkeit Padre Pios mehr auf seinem Leiden beruht als auf seinen Taten? Oder einfach eine Möglichkeit, die Qual der Wahl eines Nachfolgers aufzuschieben? Wie auch immer, meint Bocca, einzig die prächtige Renaissance-Kulisse Roms scheint noch imstande, die Existenz eines Gottes zu belegen. Wenigstens.

Den Glanz der Fußballnation Italien zu belegen, ist indessen allein noch Pierluigi Collina beschieden, der als Schiedsrichter womöglich das Finale pfeifen wird. Die Azzurri aber kennzeichnet Gianni Perrelli in einem wundenleckenden Artikel treffend in einem Satz: "Ein Mythos, und wenn's drauf ankommt ein Flop".
Archiv: Espresso
Stichwörter: ISS, Padre Pio, Katholizismus

Spiegel (Deutschland), 24.06.2002

Im Spiegel-Gespräch lamentiert der US-Schriftsteller Jonathan Franzen über den gesunkenen Stern des Romanciers und die Mühen beim Schreiben. Und er präsentiert eine überraschende Deutung seiner aufsehenerregenden Kollision mit der TV-Buchclub-Betreiberin Oprah Winfrey: "Ich wurde porträtiert als ein leidender elitärer Hochkultur-Schreiber, der die Massen verachtet. Dabei habe ich gerade deshalb so viele Jahre für dieses Buch ("Die Korrekturen") gebraucht, weil ich beides wollte: eine unbestreitbare literarische Leistung und eine Reihe von Charakteren, welche die Gefühle des Publikums ansprechen. Mit anderen Worten - ich tat etwas Ähnliches wie Oprah Winfrey: ernst sein und gleichzeitig zugänglich und aufregend. Psychologisch gesehen war mein Problem, dass ich eine unausgesprochene Rivalität mit Winfrey spürte. Nach dem Motto: Die populäre Herangehensweise ist ein Kennzeichen meiner Arbeit - wozu brauche ich da Oprah? Oprah und ich - wir waren zu nah beieinander."

In einem anderen Interview äußert sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann zum Abtreibungsgesetz als Schlag gegen die katholische Ethik. Das Urteil zeige, "dass die Selektion von Menschen auf Grund ihrer Behinderung in unserer Gesellschaft bereits Realität ist ... Unbegreiflicherweise definiert der Bundesgerichtshof die Geburt eines Kindes mit körperlichen Fehlbildungen als Schadensfall. Diese Entscheidung widerspricht sowohl dem christlichen Menschenbild als auch dem Wertkonsens des Grundgesetzes." Ganz im Geiste dieses Ethos erklärt der Kardinal zur Gebrechlichkeit des Papstes, dass dieser darin "vielen Menschen, die krank und gebrechlich sind, durchaus ein Beispiel gibt, dass man nicht einfach davonläuft, sondern an seiner Stelle bleibt, solange man irgendwie kann".

Nur im Print: der Titel untersucht Bundeskanzler Schröders Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Im Kulturteil wird die "erstaunliche Karriere des Architekten-Duos Herzog und de Meuron" beschrieben.
Archiv: Spiegel

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.06.2002

Ziemlich leidenschaftliche Themen heute. Los geht es mit Fußball: Tim Parks, Schriftsteller und Literaturprofessor in Verona, hat ein Jahr lang den dort ansässigen (reichlich erfolglosen) Fußballclub und dessen Fans zu sämtlichen Spielen begleitet. Resultat ist das Buch "A Season With Verona", ein sportethnologischer Essai. Didier Jacob ließ sich Parks Beobachtungen und Erfahrungen bei laufendem WM-Spiel Frankreich-Urugay in einer Pariser Bar erläutern. Am Anfang, erzählt Parks, hätten die Veroneser Fans, mit denen er im Bus auch schon mal bis nach Bari fuhr, "für einen Polizisten gehalten und mich argwöhnisch beobachtet. Später wussten sie dann, was ich mache, und einige sind richtige Freunde geworden. Weil ich eben nicht nur da war um zu beobachten oder zu kritisieren, sondern um die Spiele zu sehen - sehr in Sorge, dass wir gewinnen und stark befürchtend zu verlieren. " Ja, das verbindet.

Dominique Fernandez stellt anlässlich einer Neuauflage seiner Bücher den Lieblingsschriftsteller seiner Kinderzeit vor: Gustave Aimard (1818-1883), Autor von über 50 Abenteuerromanen, die in Südamerika und im Wilden Westen spielen, und zu seiner Zeit in der Lesergunst "gleich nach Dumas und Jules Vernes rangierten". Im Gegensatz zu Karl May hatte dessen französische Version die Gegenden, die er beschrieb, tatsächlich auch bereist, und sollte in "Patagonien sogar einmal als Sklave verkauft werden". In den USA gelten seine Werke "als grundlegende Zeugnisse über den amerikanischen Südwesten". Und obwohl "Aimard zweifellos ein schlechter Schriftssteller" war, vermochten seine Stoffe und Beschreibungen Fernandez' Kinderseele nachhaltig "aufzwühlen": "Dass der Paria zugleich auch ein Erwählter ist, das hat mir Gustave Aimard als erster beigebracht."

Ebenfalls lesenswert und sehr leidenschaftlich: Frederic Mitterands Porträt der "Stimme des Orients", der libanesischen Sängerin Fairuz. Der Regisseur und TV-Autor hatte Fairuz bereits 1998 in einer ARTE-Produktion gehuldigt. (Mehr über Fairuz finden Sie auf dieser Website, mit ausführlicher Biografie, Hörproben und vielen weiterführenden Links.)

Express (Frankreich), 20.06.2002

In den Waschsalons von Paris kann man derzeit nicht nur das monotone Schleudern der Maschinen, sondern ab und an auch moderne Lyrik hören, berichtet Pascal Dupont, der anlässlich des 20. Marche de la Poesie Paris durchstreift hat. Es deklamieren die Künstler der Gruppe Oniropolis. "Einige aus unserem Publikum haben zugegebenermaßen den Kopf in der Trommel stecken oder konzentrieren sich auf die Gebrauchsanweisung auf der Waschpulverpackung, andere folgen aber unserem Beispiel und heben wie wir zum Dichten an", sagt Catherine dem Express. Im Netz hat Dupont außerdem elektronische Lyrik unter der Adresse Manuscrit.com entdeckt. Zum Lesen empfiehlt er eine Anthologie moderner Lyrik herausgegeben von Matthias Vincenot und Jean-Luc Favre: "Les nouveaux poetes francaises".

Mit dem Sommer beginnen auch die Festivals in Frankreich: Die Höhepunkte auf dem Festival in Aix-en-Provence, das sich in diesem Jahr der Wechselwirkung von Oper und Theater verschrieben hat, sind Mozarts Don Giovanni in einer Inszenierung von Peter Brook und die Oper Le Balcon von Peter Eötvös nach Jean Genets gleichnamigem Drama. Peter Eötvös' Oper "Die drei Schwestern" nach Tschechow war zuletzt auf den Wiener Festwochen zu sehen. ARTE zeigt diese Inszenierung am 24. Juli. Ein Porträt des ungarischen Komponisten mit dem vielversprechenden Titel "Die siebente Tür" sendet ARTE am 17. Juli.

Weitere Artikel: Daniel Rondeau bespricht einen Band mit Interviews mit dem französischen Widerstandskämpfer Pierre de Benouville. Alain Louyot lobt die Analyse der Folgen des 11. September von Alexandre Adler, erschienen unter dem Titel "J'ai vu finir le monde". Cecile Pivot erzählt die Geschichte des Buches "Le rage et l'orgueil" der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, das in Frankreich verboten werden soll. Silvio Berlusconi hat Oriana Fallaci vorgeschlagen, sich als Kandidatin bei den Kommunalwahlen 2004 in Florenz aufstellen zu lassen.

Außerdem: Martine Lachaud hat die Sängerin Fayruz in Beirut besucht. Zu sehen ist sie auf Tournee mit ihrem neuen Album "Wala Kif" am 27. Und 28. Juni im Salle Pleyel in Paris.
Archiv: Express

New York Times (USA), 23.06.2002

Zwei neue Napoleon-Biografien sind anzuzeigen, die eine verfasst von Paul Johnson (Auszug "Napoleon"), die andere von Frank McLynn (Auszug "Napoleon: A Biography"). Der Historiker Mark Mazower wägt die beiden gegeneinander ab: Deute der wenig moderate Johnson den kleinen Franzosen als Präfiguration Hitlers und Stalins, als Inkarnation des Bösen, der dem 20. Jahrhundert das Erbe des Totalitarismus überließ, und als "French cultural racist", operiere McLynn jenseits polemischer Absichten und biete dem Leser eine gerechte und gut geschriebene Synthese vorliegender Forschungsergebnisse. "More relaxed than Johnson, McLynn sketches in context and milieu and, after a slow start, brings his subject to life. Napoleon's paradoxes, his extraordinary energy, his mercurial temperament all form part of a rounded and persuasive portrait." Doch nicht vollends überzeugend offenbar, denn wo Johnson Stalin und den Totalitarismus ins Spiel bringt, lässt uns Mazower wissen, bemüht McLynn psychoanalytische Deutungsmuster und riskiert so einen ähnlichen Anachronismus wie jener.

Besprochen wird auch Joseph E. Stiglitz' Studie "Globalization and Its Discontents" - "more of an economic treatise than a narrative critique", wie Rezensent Joseph Kahn einräumt, der die von Stiglitz kritisierten Praktiken von IWF und Weltbank unter der Clinton-Regierung zwar zu Genüge kennt, Stiglitz aber für seine treffsichere Argumentation und für sein Insiderwissen (Stiglitz war selbst Wirtschaftsberater bei Clinton) schätzt. Nachteil des letzteren Vorteils: Das Buch erscheint "tendenziös und mitunter sogar rachsüchtig".

Ferner stellt die Times noch vor: Ward Justs neuen Roman (Probe "The Weather in Berlin") über einen ausgebrannten Hollywood-Regisseur unterwegs in Neu-Berlin, zwischen "Wessi triumphalism and Ossi discontent". Hier die Besprechung und eine Audiolesung mit Just. Sowie eine Biographie über Herman Melville.
Archiv: New York Times