9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn schon bestrafen, dann richtig

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2014. Aktuell: Der Europäische Gerichtshof hat die Vorratsdatenspeicherung gekippt, meldet Zeit Online. Der Datenschützer Peter Schaar stellt klar, dass Strafverfolgung auch ohne prima funktioniert. In der FAZ erklärt Victor Jerofejew, dass Russland vom Westen nicht gemocht, sondern verehrt und gefürchtet werden will. Und Peter Galison beschreibt, wie uns die Überwachung zu gehemmten Menschen macht. Die Welt beschreibt die schwierigen Rettung der Manuskripte von Timbuktu. Und der Kompromiss im Fall Gurlitt stößt auf nur wenig Skepsis, aber viel Zustimmung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2014 finden Sie hier

Europa

Als Barack Obama Russland zur Regionalmacht degradierte, hat er die Eitelkeit der Russen schwer verletzt, deren Empfindlichkeiten uns Victor Jerofejew in der FAZ so erklärt: "Russland hat intuitiv immer gewusst, dass es von der westlichen Zivilisation nicht geliebt wird. Und das nicht etwa, weil es schlechter ist als sie, sondern weil es besser ist, spiritueller und reicher an Perspektiven. Russland erinnert sich vor allem dann an seine Qualitäten, wenn man es erniedrigt und beleidigt." Und Halbherzigkeiten mögen Russen gleich gar nicht: "Wenn schon bestrafen, dann richtig! Wenn schon verzeihen, dann richtig! Wer anders handelt, muss mit russischer Verachtung rechnen."

Der Strafrechtler Reinhard Merkel erklärt weiter hinten in der FAZ, warum seiner Ansicht nicht von einer Annexion der Krim gesprochen werden kann, und bittet um "mehr Disziplin" im Umgang mit völkerrechtlichen Begriffen.

Die Beliebtheit Viktor Orbáns bei der ungarischen Bevölkerung beruht maßgeblich auf dem von ihm vermittelten "Gefühl des Davids Ungarn, der sich gegen den übermächtigen Goliath Europa wehrt", meint Paul Flückiger im Tagesspiegel: "Von der EU will man durchaus profitieren, doch wehe, Brüssel kritisiert ungarische Entscheidungen wie die Einschränkung der Pressefreiheit oder der Kompetenz des Verfassungsgerichts!"

Die Nationalismusforscherin Magdalena Marsovszky erklärt im Interview mit Ralf Leonhard (taz) die ethno-nationalistischen Strukturen in Ungarn. Auch der von Ministerpräsident Viktor Orbán eingesetzte Roma-Beauftragte arbeitet nicht gegen diese Strukturen an, sondern affirmiert sie, meint Marsovszky: "Das Problem ist, dass der Romabeauftragte Flórián Farkas ein Parteimann ist, der nur umsetzt, was von der Regierungspartei Fidesz bewilligt wird. Er unterstützt keine Bürgerrechtsarbeit. Alle Programme, auch solche, die mit EU-Geldern finanziert werden, arbeiten gegen die universalen Menschenrechte und fördern ein Denken in ethnischen Kategorien. Der Roma-Bürgerrechtler Aladár Horváth sagt, da würden Multiplikatoren ausgebildet, die die rassistische Politik weitertragen. Es werde eine Art Kapo-Mentalität gefördert."
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Überwachung

Heute wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erwartet. Johannes Wendt fasst auf Zeit Online die Argumente von Gegnern und Befürwortern zusammen. Den Beweis der Erforderlichkeit und Wirksamkeit der VDS sind die Befürworter bis heute schuldig geblieben, schreibt der ehemalige Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationssicherheit Peter Schaar in einem Blog-Eintrag: "Dabei müsste es ihnen doch ein leichtes sein, nach acht Jahren den Nachweis zu führen - wenn denn ihre Argumente wirklich stimmen sollten. So müsste sich eigentlich nachweisen lassen, dass die Strafverfolgung Schaden genommen hat, weil das Bundesverfassungsgericht 2010 das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt hat. Sind bei uns die Aufklärungsquoten gesunken? Steht Deutschland schlechter da als seine Nachbarstaaten, in denen die VDS praktiziert wird? Davon kann keine Rede sein."

Aktalisiert: Zeit online meldet, dass der EuGH die Vorratsdatenspeicherung gekippt hat. Ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat sei die Speicherung nicht mit EU-Recht vereinbar.

Dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker Peter Galison graut es in der FAZ vor den Konseuqenzen der Massenüberwachung für unser Seelenleben. In seiner "Traumdeutung" hatte Freud - schöne Ironie - die Selbstzensur mit den Praktiken des russischen Geheimdiensts verglichen: "Die heutigen Verhältnisse üben eine Zensur aus, die viel weiter reicht als die Schwärzungen und Streichungen in Briefen und Zeitungen im Jahr 1915. Am Anfang ist es vielleicht nur ein kleines Zögern. Im Oktober 2013 gab es auf dem Flughafen von Los Angeles eine wirkungslose Explosion - eine Kohlendioxidbombe, wie es im Radio hieß. Das ergab für mich keinen Sinn - Kohlendioxid ist doch nicht explosiv. Ich fing also an, 'Kohlendioxidbombe' in mein Handy zu tippen, und dachte dann: 'Vielleicht keine gute Idee.' Am Ende schaute ich natürlich doch nach und fand heraus, dass es bedeutete, Trockeneis in eine Flasche zu stopfen. Aber die Lektion saß."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel bringt Nicola Kuhn Details zum neuen Gurlitt-Deal, der besagt, dass Gurlitt seine Sammlung zwar zurückerhält, sie der Provenienzforschung aber zugänglich macht: "Damit hat sich die Ausgangslage endgültig zugunsten von Cornelius Gurlitt gewandelt, der den von seinem Vater, dem NS-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, übernommenen Bilderschatz seit jeher als sein eigen ansah."

Heribert Prantl findet in der SZ die Einigung dagegen salomonisch: "Der Gurlitt'sche Knoten war nämlich, je länger die Beschlagnahme der Bilder währte, immer noch größer und noch komplizierter geworden, weil Recht und Moral sich stritten und die Staatsanwaltschaft mit Strafrechtsparagrafen nicht mehr weiter kam."

Lucas Wiegelmann traut in der Welt der Wandlung von Cornelius Gurlitt nicht, der seine Bilder jetzt freiwillig auf Raubkunstverdacht prüfen lassen will. In der FAZ begrüßt Rose-Maria Gropp den Kompromiss.

Die Mittel des Deutschen Filmförderfonds (DFFF), der Deutschland als Filmproduktionsstandort stärken soll, wird - entgegen anderslautender Ankündigungen von Kulturstaatsministerin Monika Grütters - von 70 auf 60 Millionen Euro gekürzt, berichtet Anke Westphal einigermaßen alarmiert in der Berliner Zeitung: "Wenn der DFFF aber nun noch schneller ausgeschöpft ist, werden Regisseure wie George Clooney oder Wes Anderson zum Dreh in andere europäische Staaten ausweichen, die als Standort erbittert konkurrieren mit Deutschland. Hierzulande werden dann Däumchen gedreht. Und mit den Stars werben - das ist auch vorbei."
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Gesellschaft

Anna Nemtsova wirft in The Daily Beast ein Schlaglicht auf Russlands kreative Klasse, die Putins Herrschaft nichts mehr entgegenzusetzen hat: "Angriffe gegen populäre Moskauer Theater wie das Taganka und das Gogol-Zentrum, denen vorgeworfen wurde, mit ihren Produktionen 'Gewalt, Homosexualiätät, Pädophilie und Selbstmorde' zu befördern, schockierten die Theaterwelt. Und wie um nordkoreanische und chinesische Experimente zu kopieren, erließ die regierende Partei Einiges Russland ein Gesetz, um die Zahl der in Russland gezeigten ausländischen Filme auf 50 Prozent zu reduzieren, damit Russen russische Filme zu sehen bekommen anstatt 'amerikanische Werte' und 'amerikanische Propaganda'. Und doch stand kein Hipster auf, um seine bevorzugten Kulturinstitutionen zu verteidigen."

In der Welt geißelt Ulf Poschardt die neue Freude des "grünen Justemilieu" am Denunziantentum, dem derzeit mit Apps gefrönt wird, mit denen man Raser, Drängler und Falschparker an den Netzpranger stellen kann: "Die Denunzianten haben, in West-Berlin, so hübsche Namen wie 'Schelm' oder 'Fahrradfreak' und wer sich deren virtuelle Strafzettel im Netz so ansieht, ahnt, wie aufregend deren Leben sein muss, um als Krönung einer gelingenden Biografie auch noch Gehwegparker an der Kantstraße zu melden."

Außerdem: Für die taz berichtet Tim Caspar Boehme von einer Diskussion im Rahmen der Deutsch-Israelischen Literaturtage in Berlin, bei der Sibylle Lewitscharoff und der Historiker Aviad Kleinberg aufeinander trafen, um über Gott und Religion zu sprechen.
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Medien

(Via Markus Beckedahl) Im Upload Magazin weist Jan Tißler darauf hin, dass sich immer mehr Online-Magazine von der Devise verabschieden, dass im Internet alles schnell, kurz und umsonst sein muss. Er sieht Projekte wie The Intercept, The Information und De Correspondent als Beispiele eines Wandels zu einem selbstbewussteren digitalen Journalismus: "Dabei sind es aber nicht unbedingt die etablierten Medienhäuser und Verlage, sondern oftmals engagierte Blogger und Journalisten, die den Vorstoß hin zu mehr Qualität wagen."

Turi2 berichtet von den immer höher schlagenden Wellen beim Deutschlandradio, wo sich Intendant Willi Steul gegen massive Kritik zur Wehr setzen muss.
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Geschichte

Jonathan Fischer berichtet in der Welt von den verwickelten Versuchen, uralte Manuskripte aus Timbuktu zu retten und zu restaurieren. Dabei stellen sich mitunter nicht nur Islamisten quer, sondern auch einige der Eigentümer dieser Manuskripte, erklärt ihm die Restauratorin Eva Brozowsky: "Wir wünschen uns natürlich einen offenen Zugang für die Wissenschaft, wie das in Europa üblich ist. Doch die Digitalisierung und Öffentlichmachung der Schriften ist umstritten. Viele der Besitzer, auch Haidara, sind hier noch äußerst skeptisch. Sie sehen die Manuskripte als persönlichen Besitz an. Wir wirken in dieser Hinsicht nicht nur als technische Ausbilder - sondern auch als Vermittler neuer Denkweisen, wie einem demokratischen Zugang zu Wissen, der in Europa ja auch erst seit relativ kurzer Zeit akzeptiert wird."
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