Bücherbrief

Bücherbrief April 06

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
28.03.2006. In Leipzig triumphierten die deutschen Romane - ob sie nun in Mekka, Anatolien oder Leipzig spielen. Und es geht um verlorene Söhne, geglückte Demokratien und ätherische Lasuren.
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Zur Leipziger Buchmesse haben wir die besten Bücher des Frühlings bestimmt. Sie finden sie in der brandneuen Ausgabe unserer Bücher der Saison. Diese Ausgabe des Bücherbriefs speist sich zum großen Teil aus den Frühlings-Literaturbeilagen, die in den vergangenen Wochen erschienen sind. Hier können Sie noch einmal alle darin erschienenen Rezensionen einsehen, säuberlich geordnet nach Zeitungen und Themen.

Noch mehr Anregungen gibt es
- in Arno Widmanns Nachttisch
- in Vorgeblättert
- in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag"
- in unserer Auswahl der besten Bücher 2005
- im vergangenen Bücherbrief



Britischer Pionier

Dieses Frühjahr zeigt jede Menge Rumtreiber in der deutschen Literatur. Der kosmopolitischste unter ihnen ist sicher Ilija Trojanows "Der Weltensammler" der britische Kolonialoffizier Richard F. Burton, der im 19. Jahrhundert Asien und Afrika bereiste und ausspionierte. Ein aufregendes Leben, dass die Kritiker prächtig erzählt fanden. Begeistert hat sie vor allem, dass Trojanow die Gedanken des Briten immer wieder durch andere Stimmen ergänzt. Erst diese Polyphonie macht aus der Geschichte weit mehr als einen exotischen Roman, so die Zeit, nämlich einen "höchst aktuellen Dialog über Fremdheit und Fremde". Und die SZ findet den mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "so spannend und intelligent", dass er seinesgleichen sucht.


Unreligiös im Totenreich

Sibylle Lewitscharoffs Held in "Consummatus" ein Schullehrer, landet noch weiter draußen - im Totenreich, aus dem er seine Geliebte zurückholen möchte. Er trifft dort außerdem Bob Dylan, Jesus, Nico, Andy Warhol und Jim Morrison. Die Zeit steht ehrfürchtig vor so viel "Gotteswahrnehmung, die sich so unreligiös wie nur möglich gibt" und nichts mit Esoterik zu tun hat. Witz und Beschwingtheit attestiert die FR dem Roman, für die SZ wird das Sakrale fassbar, die FAZ bewundert die "glänzende Sprachkraft" der Autorin.


Belgrad - Kuba - New York

Viel rumgekommen ist auch die Heldin in Natasha Radojcics Debütroman "Du musst hier nicht leben" Mit 15 Jahren läuft Sascha, Tochter eines serbischen Diplomaten und einer muslimischen Mutter, fort aus ihrem Elternhaus in Belgrad. Die Polizei greift sie auf, die Familie schickt sie nach Kuba zu einem Onkel, der reicht sie weiter zu ihrem Vater nach Athen und schließlich landet sie in New York. Die NZZ ist entzückt von dieser "balkanischen Lolita", aber auch vom Erzähltalent der 1966 geborenen Autorin, die subtil die Gegensätze zwischen alter und neuer Welt, kommunistischer Nomenklatura und New Yorker Punkszene beschreibt. Eineaus Natasha Radojcics Roman haben wir in unserem Vorgeblättert veröffentlicht.


Schick und hohl

Katharina Hackers "Habenichtse" kommen immerhin bis nach London. Schickes Berliner Paar mit schicken Berufen in schicker Stadt, die Habenichtse wohnen nebenan. Sollte man meinen. Doch die Kritik ist sich einig, dass der Titel besser auf die wohlsituierten Deutschen passt. Sie sind leer und hohl, geprägt durch ideelle Armut. Ihrer Gedankenlosigkeit fällt am Ende ein Kind zum Opfer. Die taz bewundert, wie lakonisch und gelassen Hacker eine grausame Geschichte erzählt. Und die Zeit findet das Paar in einer klugen, zeitkritischen Analyse beschrieben.


Raffiniertes Anatolien

Um es gleich vorweg zu sagen, Feridun Zaimoglus Heldin "Leyla" geht erst ganz am Ende - nach Deutschland. Der allergrößte Teil dieses viel gepriesenen Romans spielt in Leylas anatolischem Dorf, wo sie in den fünfziger Jahren aufwächst. Die Rezensenten nahmen die Möglichkeit, etwas über die erste Generation türkischer Einwanderer zu lernen, begierig auf. Die Zeit lernte, dass Gehorsam gegenüber dem Vater wichtiger ist als der Glaube. Die FR stellt erstaunt fest, dass die Frauen in diesem Roman "die interessanteren, psychologisch raffinierteren Protagonisten" sind. Die FAZ, die "Leyla" den Aufmacher ihrer Buchbeilage widmete, bewundert Zaimoglus "Kunst der Einfühlung in seine Figuren".


Die Gangs von Leipzig

Clemens Meyers Helden halten sich dagegen an ihrem Apfelkorn fest und bewegen sich keinen Millimeter aus ihrem Leipziger Vorort hinaus - außer in den Knast. Das 524 Seiten dicke Debüt "Als wir träumten" wurde von der Kritik sehr gut besprochen. Für die FAZ ist es ein "großer Roman" über die ostdeutsche Jugend im Deutschland der Nachwendezeit. Die Zeit findet den "kleinen gemeinen Lebenskampf" größer dargestellt als alle historischen Umbrüche. Und die FR denkt gar an Jean Genet. Nur Sigrid Löffler konnte in Literaturen gar nichts mit diesem Roman anfangen: "Alles läuft auf den einen dumpfen Kernsatz hinaus: 'Mann, das ist echt so scheiße.' Stimmt leider."


Intrige als Fortschritt

In helle Begeisterung hat Peter von Matt die Kritiker mit seinem Buch "Die Intrige" versetzt, das den großen Intriganten der Literaturgeschichte ein Denkmal setzt: von den biblischen Schurken, über die Bösewichte von Homer, Dante und Shakespeare, bis hin zu Thomas Mann und Patricia Highsmith. Wie die NZZ schreibt, geht es um nicht weniger als ein "zivilisationsgeschichtliches Schlüsselereignis": Mit den Intriganten kam die Vernunft in die Literatur, der Verstand begann, sich über das blinde Schicksal hinwegzusetzen. Die Zeit jauchzt über eine "Achterbahn des intellektuellen Vergnügens", und auch die FAZ frohlockt über ein "Glanz- und Schelmenstück ersten Ranges".


Erhellend einleuchtend

Dass Edgar Wolfrum sich in seiner modernen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ganz unverhohlen mit dieser "Geglückten Demokratie" identifiziert, stört die FR nur wenig. Dafür sei Wolfrums Darstellung einfach zu gelungen. Die Zeit findet die Einteilung in die drei Großphasen Stabilisierung, Pluralisierung und Internationalisierung überaus plausibel, das erzählerische wie theroetische Niveau angenehm hoch und die Einbeziehung auch gesellschaftlicher Umstände sehr lohnend.


Überall verlorene Söhne

Man kann über Necla Kelek sagen, was man will: Über ihre Bücher diskutieren sich die Feuilletons zuverlässig die Köpfe heiß. Diesmal beschäftigt sich Kelek mit jungen türkischen Männern, die im Gefängnis sitzen, weil sie zwischen patriarchalischer Tradition und eigenverantwortlicher Moderne jeden Halt verloren haben. Die FAZ hält "Die verlorenen Söhne" für längst überfällig, die Zeit stößt sich an den rasanten Pauschalbehauptungen, die Kelek ungeprüft fallen lasse wie andere Leute Kassenbons. Die taz gesteht Kelek immerhin zu, dass sie mit ihrer "Worst of Islam"-Auswahl den nötigen Einstellungswandel vorantreibt.


Schlaffe Körper, straffer Marmor

So feinsinnig wie der Restaurator Antonio Forcellino mit seinen Skultpturen umgeht, behandelt er "Michelangelo" auch in seinem Buch. "So klar hat schon lange niemand mehr erklärt, worin Genie besteht", versichert die Zeit, die es besonders freut, dass endlich nicht Michelangelos vermutete Homosexualität, sondern seine Werke im Mittelpunkt stehen. Jedes wird einige Seiten lang vorgestellt, die bahnbrechenden Methoden Michelangelos wie die ätherischen Lasuren erklärt, um dann auf die einzigartige Komposition zu sprechen zu kommen, die schlaffe menschliche Körper in etwas Wunderbares verwandelt, in "Chiffren des Schmerzes, der Liebe, des Willens".