Efeu - Die Kulturrundschau

Ins Morgen gerichtet

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2016. Die NZZ bewundert in einer Zürcher Ausstellung den "Albrecht Dürer der Städte", den Fotografen Peter Bialobrzeski. In der Berliner Zeitung macht Regisseur Sergei Loznitsa seine Spiegelneuronen verantwortlich für seine Observierungskunst, die er zuletzt an KZ-Touristen erprobt hat. Die SZ hört sich durch eine 36 CDs umfassende Bob-Dylan-Box.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Peter Bialobrzeski, Shenzhen, China, 2001, aus der Serie "Neontigers"

Daniele Muscionico sinkt in der NZZ auf die Knie vor dem "Albrecht Dürer der Städte", Peter Bialobrzeski, dessen Ausstellung "The City" in der Zürcher Photobastei aber auch einige Beklemmungen bei ihm auslöst: "In der Ausstellung träumen Androiden-Bewohner in Städten in scheinbar anderen Galaxien nachts von elektrischen Schafen. In Bialobrzeskis Bildern wartet Blade Runner auf feindliche Replikanten mit einer implantierten künstlichen Intelligenz. In der Ausstellung findet die Zukunft statt. Vor der Tür aber ist nicht einmal morgen, sondern erst gestern - denn wir sind ja in Zürich: Dörfliche Beschaulichkeit trifft weltstädtische Attitüden."

In der taz annonciert Florian Sturm das Addis Foto Fest, das heute in Addis Abeba beginnt. Initiiert wurde das Festival 2010 von der äthiopischen Künstlerin Aida Muluneh (Bild), die Afrika nicht immer nur als Kriegs- und Hungerschauplatz dargestellt sehen wollte. Diesmal findet das Festival jedoch unter erschwerten Bedingungen statt: "Nach der stetig steigenden Zahl an Antiregierungsprotesten, die bislang mehrere hundert Todesopfer forderten, rief die politische Führung Äthiopiens rund um Ministerpräsident Hailemariam Desalegn Anfang Oktober den nationalen Notstand aus. Konkret bedeutet das: mindestens sechs Monate lang eingeschränkte Nutzung von Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter und Demonstrationsverbot; der Zugang zu Fabriken und Regierungsgebäude zwischen 18 und 6 Uhr sowie die öffentliche Verbreitung politischer Gesten und Botschaften sind untersagt; außerdem dürfen die unabhängigen, im Ausland ansässigen Fernsehsender Esat und OMN ihr Programm nicht mehr in Äthiopien ausstrahlen."

Besprochen werden die Ausstellung "Franz West - Artistclub" im 21er-Haus in Wien (Standard) und die Ausstellung "L'esprit du Bauhaus" im Pariser Kunstgewerbemuseum (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

 
Menschenwelle verschluckt historischen Raum: "Austerlitz" von Sergei Loznitsa.

Sergei Loznitsas
Essayfilm "Austerlitz", der kommentarlos das Verhalten von KZ-Touristen mit Selfiesticks beobachtet, beschäftigt die Filmkritik auch weiterhin. Für die Berliner Zeitung hat Robert Weixlbaumer ein Gespräch mit dem Regisseur führen können, der darin unter anderem auch erklärt, warum er seine persönliche Position dem Film unterordnet: Dass seine Filme lediglich beobachten, statt zu sortieren, will er neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen verdanken: "Wir haben sogenannte Spiegelneuronen, die in uns auf vielfältige Weisen arbeiten. ... Wenn man verstehen will, was eine andere Person denkt, dann müssen Sie diese nur lange beobachten - in Ihrem Gehirn werden all diese Gedankenzonen durch das Verhalten dieser Person berührt. Ihr Verständnis der anderen Person wird viel tiefer sein, als wenn jemand nur zu Ihnen gesprochen hätte. Das ist die Methode. Wenn man die Geduld hat, zu observieren, dann wird sich aus der Beobachtung selbst Verstehen ergeben: aus Gesichtern, Verhalten, bestimmten Bewegungen, Gesten. Meinungen sind dagegen nichtssagend."

In der taz macht Lukas Stern demgegenüber die Position stark, dass dieser vermeintlich nur beobachtende, aber durchaus "großartige" Film selbst "manipulativ" sei: "Eine Menschenwelle schwappt durch diesen Film. In ihr wirkt eine Negativität, denn das Überfluten des Bildes durch Touristenmasse ist zugleich das Verschlucken des historischen Raums. Aber die Welle ist eben auch künstlich, einzig und allein das Produkt der Filmmontage. Loznitsas Dokumentarismus ist alles andere als neutral, der KZ-Tourismus, den er zeigt, ist ein Kunstprodukt." Philipp Schwarz von critic.de fühlt sich in "einer großen Hilflosigkeit" zurückgelassen. Am kommenden Sonntag diskutieren Ekkehard Knörer und Bert Rebhandl von Cargo in Berlin über den Film.



Mit "Das unbekannte Mädchen" läuft diese Woche auch ein neuer Film der Gebrüder Dardenne in den Kinos an. Der Film handelt von den Nachforschungen einer Ärztin, vor deren Praxis eine Leiche gefunden wurde. Für critic.de spricht Nino Klingler mit den Regisseuren über das Inszenieren von Distanz- und Näheverhältnissen. Für die SZ hat Martina Knoben die beiden Auteurs besucht, deren präziser Kino-Humanismus für sie "im Weltkino ziemlich einzigartig" dasteht. Nach Carolin Weidners Geschmack läuft die Dardenne'sche Kinomechanik in diesem Fall allerdings fast schon zu geschmiert: "Alles [greift] ein bisschen zu gut ineinander, ist zu sehr konstruiert - auch das Weiche", schreibt sie in der taz. Die Methode Dardenne findet auch Rüdiger Suchsland von Artechock mittlerweile "sehr über­ra­schungslos und lang­weilig", bei aller Anerkennung des handwerklichen Geschicks.

Weitere Artikel: Für Artechock hat Dunja Bialas ein großes Interview mit dem rumänischen Auteur Cristi Puiu geführt, dessen Film "Sieranevada" Rüdiger Suchsland mit insistierenden drei Ausrufezeichen als "besten Film des Jahres" empfiehlt (mehr dazu auch in unserer Cannes-Berichterstattung). In der NZZ berichtet Gabriele Tscharner Patao von ihrem Besuch in den Archiven von Walt Disney. Für die Welt trifft sich Iris Alanyali mit der Schauspielerin Mary-Louise Parker.

Besprochen werden Werner Herzogs Dokumentarfilm "Lo and Behold" über das Internet (taz), die Amazon-Serie "Good Girls Revolt" über die Emanzipation von Journalistinnen in den 60ern (Jungle World), Christian Schwochows Biopic "Paula" über die Künstlerin Paula Modersohn-Becker (taz, Tagesspiegel, Welt, FAZ), André Téchinés "Quand on a 17 ans" (NZZ), Gareth Edwards' "Rogue One" (taz, ZeitOnline) und Christopher Doyles "Hong Kong Trilogy" (taz). Und critic.de kürt schon mal die schlimmsten Kinomomente des Jahres.

Einen schönen Kinojahr-Rückblick für die Ohren hat Low Light Mixes zusammengestellt: "Cinematic Headspace" bringt die beeindruckendsten Filmsoundtracks des Jahres zusammen.

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Literatur

Für die FAS besucht Stefanie De Velasco die von der Bundesregierung vor kurzem per Ankauf vor dem drohenden Abriss bewahrte Thomas-Mann-Villa in Los Angeles.

Besprochen werden Alissa Ganijewas "Eine Liebe im Kaukasus" (nachgereicht von der Zeit), Ulrich Becks posthum veröffentliches Buch "Die Metamorphose der Welt" (Tagesspiegel), eine Sammlung von Briefen aus Christa Wolfs Nachlass (SZ) und Laurent Binets "Die siebte Sprachfunktion" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Wie entkommt man der heutigen Wohnungsnot in westlichen Städten? Bettina Maria Brosowsky (NZZ) schaut auf ein Vorbild in Wittenberg, wo die Salvisbergs Werkssiedlung Piesteritz zeigt, wie man schnell gute Wohnungen bauen kann, ohne das "Schlichtwohnen im Container-Look", wie es heute Mode sei: "Es geht nicht darum, sich an einer pittoresken Bodenständigkeit aus voluminösen, rot gedeckten Satteldächern, aus Fensterläden und Rankspalier ästhetisch zu laben - die Ära dieses Formenvokabulars ist vorbei -, sondern die elementare Raumkunst im Dienste einer humanen und robusten Baugestalt zu erkennen, die das würdevolle Behausen des menschlichen Individuums zu ihrer großen, ästhetisch nachvollziehbaren Aufgabe machte."

Weitere Artikel: In Neapel werden derzeit Sozialbauten abgerissen, die in den 60er und 70er Jahren als Inbegriff der Moderne galten, berichtet Gabriele Detterer in der NZZ: "Vermutlich hatte der Architekt keine Vorstellung davon, wie sehr das Wegnetz und die Freiflächen im Innern der Vele sowie der Außenraum den Drogendealern in die Hände spielen würden." Oren Eldar lobt in der Welt die Finnen, die kein teures neues Guggenheim-Museum in Helsinki bauen wollen. Zum Tod des Architekten Harry Glück schreiben Reinhard Seiss in der Presse und Maik Novotny im Standard.
Archiv: Architektur

Musik

Eine neue, 36 CDs umfassende Box dokumentiert jede noch existierende Aufnahme aus Bob Dylans Welttournee im Jahr 1966 - sinnloser Kommerz oder Schatztruhe für Pop-Philologen? Eindeutig letzteres, jubelt Max Dax in der SZ, diese Zusammenstellung ist die "Pop-Archiv-Sensation des Jahres", denn die meisten Aufnahmen waren bislang nicht greifbar oder galten gar als verschollen. Dem Kritiker gestatten diese Aufnahmen auch in ihrer Redundanz einen wertvollen Einblick in Dylans Wandel von der akustischen zur elektronisch verstärkten Musik: "Es ist Musik der Zukunft. Und wie ein Negativ materialisiert sich hier die Idee einer Moderne, nur dieses Mal ist sie ins Morgen gerichtet. Diese Inszenierung von Abgesang und Wiedergeburt liefert Dylan während seiner dreimonatigen Tournee insgesamt 48 Mal. Jedes Mal der gleiche Konzertablauf, niemals dieselbe Stimmung." Auch Jesse Jarnow von Pitchfork ist hellauf begeistert von diesem Archiv. Dazu passend: Im New Yorker berichtet Patti Smith von ihrem Auftritt bei der Nobelpreisverleihung für Dylan und Chris Ingalls liest sich für Popmatters durch eine neue Sammlung von Dylans Songtexten.

Weitere Artikel: Der Begriff "neue Musik" ist veraltet, schreibt Claus-Steffen Mahnkopf in einem großen Essay für die Neue Musikzeitung und plädiert stattdessen für den Bezeichnung "Gegenwartsmusik". Für die Jungle World versenkt sich Timo Posselt in die "eskapistischen Glitzertraumwelten" von Kero Kero Bonito. Jan Kedves (SZ) und Nadine Lange (Tagesspiegel) spekulieren amüsiert darüber, was es mit Kanye Wests Besuch bei Donald Trump auf sich haben könnte (siehe dazu auch Stephen Colbert).

Besprochen werden Rashad Beckers "Traditional Music of Notional Species Vol. II" (Jungle World), Ricardo Villalobos' neue EP "Melo de Melo" (Pitchfork), eine Aufführung von Bedbich Smetanas "Má vlast"-Zyklus der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim (Tagesspiegel), ein Frankfurter Liederabend von Johannes Martin Kränzle (FR) und ein Zürcher Bach-Konzert des Trios Zimmermann (NZZ).
Archiv: Musik