Efeu - Die Kulturrundschau

Irgendwie auf der Sonnenseite

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22.06.2015. Endlich mal wurde junger, experimenteller Film mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, freuen sich die Feuilletons. Nur der Tagesspiegel schießt quer: Ausgezeichnet wurden vor allem junge Wohlfühlfilme. In der Berliner Zeitung bekommt Ljudmila Ulitzkaja immer noch weiche Knie, wenn sie an ihren ersten Nabokov-Roman denkt. In der NZZ plädiert James Ellroy für Reichweite und Umfang in der Literatur. Außerdem rühmt die NZZ die neue Bescheidenheit der Künstler auf der Wien Biennale.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.06.2015 finden Sie hier

Film


Mit Strahlkraft über die Stränge schlagen: Szene aus Sebastian Schippers "Victoria".

Am Freitag wurde der Deutschen Filmpreis vergeben: Sebastian Schippers "Victoria" (unsere Kritik) hat erwartungsgemäß nach allen Regeln der Kunst abgeräumt (die Gewinner im Detail hier) - und die Filmkritik ist damit im wesentlichen sehr zufrieden. Zumal auch die Gala im Gegensatz zu früheren Ausgaben überzeugte, wie viele bemerken. In der Welt zieht Hanns-Georg Rodek den Hut vor der "kollektiven Intelligenz" der Akademie, die in diesem Jahr junge, experimentierfreudige Filme ausgezeichnet habe. Auch Anke Sterneborg sieht in der SZ die Entscheidung für Schippers Film als "Votum für die experimentelle Lust am Kino. Das spricht auch für die Strahlkraft des deutschen Films." Gerade auch vor dem Hintergrund der Debatten, ob der Deutsche Filmpreis nicht besser von einem unabhängigen Gremium statt von der Filmbranche selbst vergeben werden sollte, attestiert Andreas Kilb (FAZ) dem "Victoria"-Triumph Signalcharakter: "Indem [die Branche] "Victoria" feiert, ermuntert sie sich selbst, über die Stränge zu schlagen, die ihr die Filmförderer hinhalten. Das ist den Filmpreis wert."

Einzig Jan Schulz-Ojala hält im Tagesspiegel dagegen. Mit den Preisen - vor allem für "Viktoria" hat die Akademie vor allem Wohlfühlfilme ausgezeichnet, kritisiert er: "Man guckt, dass man sich in oberwackligen Zeiten wie diesen irgendwie auf der Sonnenseite hält, mehr ist sowieso nicht drin - so etwa ließe sich das zeitgemäß untheoretische Manifest des kollektiv privatistischen Vergnügens lesen. Wie eklatant, ja, unvermutet radikal es diesmal im filmindustriellen Akademielabor zutage tritt, zeigt die mathematische Probe. Alle Filme, die sich mit deutscher (Zeit-)Geschichte beschäftigen, sind mit Pauken und Trompeten, oder besser: mit Hagel und Granaten durchgefallen."

Besprochen werden die zweite Staffel der HBO-Serie "True Detective" (FAZ), die neue HBO-Serie "The Brink" mit Jack Black als Womanizer in Islamabad (ZeitOnline) und Andrew Niccols "Good Kill" (SZ).
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Literatur

Für die Berliner Zeitung hat sich Inna Hartwich mit der russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja unterhalten, die unter anderem dem gemeinschaftlichen Zusammenhalt unter den Intellektuellen in der Sowjetunion nachtrauert. Gemeinsam hatte man sich zu heimlichen Teerunden in Küchen getroffen, um über Literatur zu sprechen: "Wir hatten einiges dafür riskiert, drei bis fünf Jahre Gefängnis konnte man fürs Aufbewahren und Verbreiten verbotener Literatur bekommen, obwohl nie Listen existierten, was eigentlich verboten war. ... Für "Die Gabe" Nabokovs habe ich den Ring meiner Großmutter hergegeben. Ich wollte damals eigentlich einen Rock kaufen und sah im kleinen Lädchen an der Uni diese Frau mit dem Buch. Nabokov! Ich hatte erst weiche Knie, dann verspürte ich ein Feuer in mir, eine Art Jagdinstinkt."

Im Interview mit der NZZ erzählt der amerikanische Schriftsteller James Ellroy, dass er an einer neuen Tetralogie arbeitet, in der er auch auf Figuren aus seinen älteren L.A.-Romanen zurückgreift. Klingt nach einer epischen Herausforderung, aber das ist Ellroy gerade recht: "Ich bin Amerikaner, die Dinge müssen für mich schon allein deshalb ein gewisses Format haben, aber davon abgesehen habe ich einfach eine Vorliebe für überbordende Kunst. Ich liebe die Sinfonien von Bruckner und Beethoven, die erste Sinfonie von Brahms. Ich verstehe dieses Bedürfnis, neue Wege zu ebnen, neues Gebiet zu erobern. Ich verstehe die geistige Gestaltung von Reichweite und Umfang."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel stellt Oliver Ristau den Verlag Centaur Comic Mysteries vor, der sich in den 30er Jahren auf lustvoll schräge Trivialcomics spezialisiert hatte. In der FR erinnert Wilhelm von Sternburg an den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Erfolgsautor Bruno Frank, der vor 70 Jahren gestorben ist. Und alle trauern um James Salter, der im Alter von 90 Jahren gestorben ist: Nachrufe schreiben Gerrit Bartels (Tagesspiegel), Cornelia Geißler und Sabine Vogel (FR), Patrick Bahners (FAZ), Dirk Gieselmann (ZeitOnline) und Wieland Freund (Welt).

Besprochen werden Merle Krögers Thriller "Havarie" (Tagesspiegel, FAZ) und Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" (ZeitOnline, mehr).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Jan Volker Röhnert das Gedicht "Marie" von Paulus Böhmer vor:

"Lieg eine Kolter auf,
die riecht, die riecht nach Marie.
Ich war so nackt wie das Vieh. Mit Marie.
..."
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Kunst


Gilad Ratman, Four Works, Ausstellung im Trafo

Den des Hauptstadtangebots überdrüssigen Berliner Kunstfreunden empfiehlt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung eine Reise ins polnische, binnen zwei Stunden erreichbare Stettin, wo unter anderem der neue Ausstellungsort Trafo lockt: "Gefragt und daher vielfrequentiert ist das Ausstellungszentrum wohl auch deshalb, weil man einerseits zeigt, was in der Gegenwartskunst international im Gespräch ist, und zugleich wagt "Trafo" Experimentelles."

Ziemlich knackig fand Samuel Herzog die Wien Biennale. Das Konzept einer Mehr-Sparten-Schau mit Beiträgen aus Kunst, Design und Architektur erscheint ihm jedenfalls recht gelungen. In der NZZ schreibt er: "Vorbei scheinen die Zeiten, als Designer und Architekten der Welt alle möglichen Patentlösungen anboten, sich als Missionare des guten Geschmacks aufspielten oder den Leuten zeigten, wie sie richtig zu leben hätten. Im Rahmen dieser Biennale auf jeden Fall treten sie eher als Beobachter auf, die bestehende Lösungen untersuchen und sorgfältig überlegen, wo und wie sie mit ihrem Wissen Prozesse oder Werkzeuge verbessern können."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel berichtet Thomas W. Eller von Ai Weiweis ersten chinesischen Ausstellungen seit Jahren. Und Anne-Sophie Balzer porträtiert den Maler Emmanuel Bornstein. Luise Checchin begeistert sich in der SZ für die experimentelle, auf einem Print-On-Demand-Konzept beruhende Kunstbuchreihe "100for10", bei der Künstler 100 Seiten lang ganz nach gusto walten können. Diedrich Diederichsen, der an drei Abenden bei der Frankfurter Adornovorlesung über die Potenziale des Distanzverlusts, auf den "nachpopuläre Kunst" ziele, philosophiert hat, konnte weder FAZ noch taz vom Stuhl reißen: "analytisch unergiebiges ­name-dropping" wirft ihm Rudolf Walther in der taz vor. Und FAZlerin Lena Bopp rauschen immer noch die Ohren von Diederichsens Gesangseinlagen.

Besprochen werden die Ausstellung "Imagine Reality" in Frankfurt (FR), die "Apokalypse" überschriebene 21. Ausgabe der Ausstellungsreihe Rohkunstbau im Schloss Roskow (Tagesspiegel) und eine Ausstellung über den Berliner Hofkünstler Gérard Dagly im Museum für Lackkunst in Münster ("die reine Freude", tiriliert Andreas Platthaus in der FAZ).
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Bühne

In der taz resümiert Katrin Bettina Müller die Berliner Autorentheatertage.

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Béla Bartóks Oper "Herzog Blaubarts Burg" in Wien (Tagesspiegel, SZ), Philipp Stölzs Inszenierung von Charles Gounods "Faust" an der Deutschen Oper (Tagesspiegel) und Christopher Rüpings Stuttgarter "Peer Gynt"-Inszenierung (FAZ, SZ)

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Musik

Da trägt einer schwer an der Last der Welt: Nichts weniger als sämtliche politischen und gesellschaftlichen Schieflagen wünscht sich der DJ und Produzent Matthew Herbert mit seiner Musik aus der Welt zu schaffen, gesteht er im Interview mit Rabea Weihser für ZeitOnline. In der Jungle World porträtiert Jesper Petzke die einst stilbildende Hardcore-Band Refused, die gerade mit "Freedom" ihr erstes Album seit 1998 veröffentlicht hat. In der Welt feiert die 13-Jährige in Hannah Lühmann Taylor Swift.

Besprochen werden ein Konzert der Sleaford Mods (taz, Tagesspiegel) und ein Konzert von Rainald Grebe (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
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