Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.11.2006. Der Merkur beschwört die Exzentrik der Europäer. Im Espresso liest Umberto Eco den Koran und Tertullian. Die Weltwoche interviewt Ahmed Scheikh von Al Dschasira. Im Figaro verteidigt Alain Finkielkraut Robert Redeker gegen seine "Ja, aber..."-Verteidiger. Das TLS hat die Nase voll von politischen Moralaposteln. Literaturen vom neuen Wertepatriotismus. Die Briten kaufen Bulgarien, stellt Przekroj fest. Nepszabadsag sehnt sich nach einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Der Economist feiert eine Tocqueville-Biografie. Die New York Times liebt den neuen Pynchon.

Merkur (Deutschland), 01.12.2006

Wolf Dieter Enkelmann, Direktor des Instituts für Wirtschaftsgestaltung, denkt darüber nach, was Europa ausmacht, und kommt dabei auf folgenden Gedanken: "Europäer sind exzentrisch. Das lässt sich eindringlich nahezu aus der gesamten Weltgeschichte ablesen. Dennoch merken sie es sich persönlich meist gar nicht an. So sehr ist das selbst jenen unter ihnen, die vor allem auf ihre Seriosität bedacht sind, zur zweiten Natur geworden. In ihren Zielen suchen sie ihre Identität, in ihrer Entfremdung ihre Mitte. Knallharte Bestandswahrer sehen anders aus. Europäer witterten Chancen, wo andere nur Abgründe und das Ende von allem, was Recht war, zu sehen vermochten. Was wäre aus Europa geworden ohne Völkerwanderungen, ohne seine Abenteurer und Glücksritter, seine Flüchtlinge und die Vertriebenen, seine Vaterlandsverräter und Heimatverlorenen, ohne all jene, denen Europa unerträglich geworden war? Fernweh: Man möchte es für eine europäische Erfindung halten. Es hat Europa zu einem transkontinentalen Kontinent gemacht. Exzentrik bestimmt das Christentum, ist aber auch bereits im Ursprungsmythos eingeschrieben, auf den sich die Völker dieses Kontinents durch ihren gemeinsamen Namen berufen."

Weiteres: Michael Stolleis ergründet das "Reich als Mythos und Metapher". Ottfried Höffe sucht nach politischer Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung. Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink konstatiert, dass das Bundesverfassungsgericht immer stärker von einer dogmatischen zu einer kasuistischen Rechtsprechung tendiert. Ulrike Ackermann glaubt, dass der Islam in Europa noch immer verhätschelt wird: "Die Strategien der Verharmlosung und Beschönigung des radikalen Islam und seines Terrors sind vielfältig - auch wenn die Kritik an ihm wächst." Und Helge Rossen-Stadtfeld fragt, ob der Islam verfassungsrechtlich betrachtet verspottet werden darf.
Archiv: Merkur

Espresso (Italien), 30.11.2006

Bewaffnet mit drei verschiedenen Übersetzungen weist Umberto Eco nach, dass das Tragen eines Kopftuchs gar nicht im Koran empfohlen wird. In der in diesem Zusammenhang zitierten Sure 24 (wahrscheinlich Vers 31) gehe es um die Verhüllung der Brust. Die Sache mit der Kopfbedeckung sei vielmehr eine christliche Idee. "Der Generalvikar der italienischen Sufi-Bewegung Jerrahi Halveti, Gabriele Mandel Khan, weist (in seinem Islamkommentar) mit einer gewissen Genugtuung darauf hin, dass es der Apostel Paulus war (im ersten Brief an die Korinther), aber Paulus beschränkte dieses Gebot auf Frauen, die predigen und weissagen. Lange Zeit vor dem Koran aber stellte Tertullian (der zwar mit den andersgläubigen Montanisten sympathisierte, aber ganz sicher ein Christ war) in seiner Schrift 'Über den weiblichen Putz' fest: "Gott will, dass Ihr verschleiert sein sollt. Vermutlich, damit man die Köpfe mancher Damen nicht sehe." Tertullian wird es nicht zum Schutzpatron der Friseure bringen, wie es bei weiterer Lektüre des Traktats scheint. "Verbannt von dem freien Haupte den ganzen knechtischen Putz! Es ist zwecklos, dass Ihr Euch bemüht, geputzt zu erscheinen und die erfahrensten Haarkünstler herbeizieht."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto, Kopftuchdebatte

Weltwoche (Schweiz), 23.11.2006

"Wenn Ihnen jemand ein Band oder ein Interview mit Bin Laden anbietet, zögert man nicht, die Offerte anzunehmen, sogar wenn es Sie nach Guantanamo führen würde." Ahmed Sheikh, Chefredaktor des TV-Senders Al-Dschasira, erscheint im Interview mit einem etwas zahnlosen Pierre Heumann als Paradox aus einem allein der Nachricht verpflichteten Journalisten, der von festem ideologischen Grund aus operiert. "Der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer der wichtigsten Gründe für das Weiterköcheln all dieser Krisen und Probleme. Der Tag, an dem Israel gegründet wurde, legte das Fundament für unsere Probleme. Der Westen sollte das endlich verstehen. Es wäre viel ruhiger, wenn die Palästinenser zu ihrem Recht kämen."

Mit aller Vorsicht berichtet Alex Baur über ein delikates Thema: Immigranten aus dem Balkan scheinen in der Schweiz für einen überproportional hohen Anteil an Vergewaltigungen bzw. sexuellen Belästigungen verantwortlich zu sein. Die fehlgeleitete Integrationspolitik gehe aber munter weiter, klagt Alex Baur. "Statt dass Kindern von Immigranten möglichst im Vorschulalter zu einer soliden Sprachbasis verholfen wird, sollen die Kleinen nun bereits im Kindergarten Schriftdeutsch lernen - eine Fremdsprache, die außer Lehrern hierzulande im Alltag nur Ausländer sprechen."
Archiv: Weltwoche

Figaro (Frankreich), 27.11.2006

Auf der Meinungsseite nimmt der Philosoph Alain Finkielkraut noch einmal Stellung zur Affäre um den Philosophielehrer Robert Redeker, der wegen eines islamkritischen Artikels Morddrohungen erhielt. Redeker lebt zur Zeit im Versteck. Finkielkraut kritisiert das "Ja, aber..." mit dem Intellektuelle und Politiker Redekers Recht auf Meinungsfreiheit verteidigten und fordert Klarheit: "Selbst falls er unrecht hat - Redeker ist kein Rassist, wie Olivier Roy und andere behaupten. Redeker greift nicht eine Gemeinschaft an, sondern er verurteilt, was er für die Intoleranz und den Bellizismus einer religiösen Lehre hält. Den Gerechtigkeitsaposteln, die sich an Redekers Vehemenz stören, weil diese Lehre angeblich die Religion der Armen ist, bringen wir in Erinnerung, dass Sartre mitten in der stalinistischen Eiszeit aus der gleichen Mitleidslogik heraus jeden Antikommunisten als Hund bezeichnete. Wer den Sieg des Infamen verhindern will, muss Schluss machen mit der Idee, dass die Erniedrigten, Beleidigten, Verdammten dieser Erde stets unschuldig sind, auch wenn sie Schuld tragen, und dass die 'Herrschenden' stets schuldig sind, auch wenn sie unschuldig sind."
Archiv: Figaro

Times Literary Supplement (UK), 22.11.2006

Bill Clinton entschuldigte sich für die Sklaverei, der Papst für die Kreuzzüge: Entschuldigungen, Schuldeingeständnisse, Reparationsforderungen und -zahlungen sind seit den Neunzigern en vogue, stellt David Lowenthal angesichts von zwei neuen Büchern zum Thema fest. Dabei dienen offizielle Zerknirschungsadressen seiner Ansicht nach oft lediglich dazu, sich narzisstisch in Szene zu setzen und den Problemen der Gegenwart auszuweichen. "Die wenigsten erinnern sich, dass in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts, als das aufgeklärte Großbritannien die Sklaverei in seinen westindischen Kolonien abschaffte, nicht den Ex-Sklaven eine Entschädigung wegen Freiheitsberabung bezahlt wurde, sondern den Sklavenhaltern als Ausgleich für finanzielle Nachteile. Wir können zwar Verfehlungen der Vergangenheit beklagen, aber unsere heutige Moral kann nicht dazu herhalten, deren Täter anachronistisch zu diffamieren, haben sie doch der Moral ihrer eigenen Zeit gemäß gehandelt."

Die Dichterin Lavinia Greenlaw, blättert ganz hingerissen in einer neuen, von James Fenton herausgegebenen Liebesgedicht-Anthologie ("The New Faber Book of Love Poems") und erkennt dabei: "Das Liebesgedicht hat den Vorzug, dass es sich selten mit Beschreibung um der Beschreibung Willen zufrieden gibt. Das Liebesgedicht hat eine Mission." Und diese Mission erfülle es am besten, wenn die beschreibende Kraft der Sprache hinter ihre rhytmischen und melodischen Aspekte zurückfällt: "Wenn es um Liebe geht, tun sich klaffende Lücken auf, wo Sprache und Erfahrung versuchen zur Deckung zu kommen. James Fenton scheint zu suggerieren, dass diese Lücke am ehesten vom Nicht-Lexikalischen oder, wie er ... sagt, vom Lied überbrückt werden kann:

Down in the valley, walking between,
Telling our story, here?s what it sings.
Here?s what it sings, dear, here?s what it
sings,
Telling our story, here?s what it sings."

New York Review of Books (USA), 21.12.2006

Alison Lurie erklärt sich die späte Entdeckung der großartigen Erzählerin Alice Munro in den USA mit den Vorurteilen der Amerikaner gegenüber den Kanadiern: "Die Vorstellung der meisten Amerikaner von Kanada ist ziemlich unscharf. Es gibt dort eine Menge Kiefern, Elche und Mounties; seine Bevölkerung ist relativ klein, seine Politik freundlich. Kanadier sind ehrlich, ernst und ein bisschen langweilig. Einige von uns bemitleiden sie oder verübeln ihnen, dass sie sich nicht der Revolution von 1776 angeschlossen haben. In dieser Sicht sind sie die artigen Geschwister, die sich niemals gegen ihre Eltern auflehnten."

Mark Danner versucht, das große Rätsel das Irakkriegs zu lösen, die unerklärliche Tatsache, dass "so viele verdienstvolle, erfahrene und intelligente Offizielle zusammen solch monumentale, folgenreiche und vor allem offensichtliche Fehler machen konnten". Seiner Ansicht nach führen die USA keinen realen Krieg, sondern einen "Krieg der Einbildung". Als ein Beispiel führt er einen Diplomaten an, der ihm am Vorabend des Verfassungsreferendums von 2005 im sunnitischen Falludschah noch erklärt hatte: "'Morgen werden Sie eine große Überraschung erleben. Die Leute hier werden nicht nur alle wählen gehen. Die Leute - und zwar sehr, sehr viele - werden mit Ja stimmen.'" Mit Nein gestimmt haben 97 Prozent.

Weiteres: Neal Ascherson schwärmt in höchsten Tönen von David Remnicks New-Yorker-Reportagen, die nun in dem Band "Reporting" zusammengefasst erscheinen: "In einer Welt, deren Politik sich schneller aufheizt als ihr Klima, bleibt Remnick ein erstaunlich kühler Reporter. Richard Dorment besucht die große Brice-Marden-Retrospektive im Museum of Modern Art. Außerdem bespricht Margaret Atwood den neuen Roman von Richard Powers "The Echo Maker". Und William H. McNeill stellt Max Boots Studie "War Made New" über den Krieg als Vater der Dinge vor.

Literaturen (Deutschland), 04.12.2006

Angesäuert beobachtet Manfred Schneider, wie sich am Horizont der Moralphilosophie und der Pädagogik eine Rückkehr zum Wertepatriotismus abzeichnet. So zum Beispiel in Wolfram Weimers Plädoyer für Werteerstarkung und moralische Festigung durch Religion ("Credo") und in Bernhard Buebs pädagogischer Summa "Lob der Disziplin", in der der ehemalige Leiter des Internats Schloss Salem für eine Rückkehr zu mehr Autorität und Disziplin eintritt. Schneider sieht dies als starre, aufgestülpte Wegweiser-Pädagogik, die eigenständige Erfahrung ersetzen soll: "Warum will der Erzieher den anderen diese Erfahrung nicht gönnen? Warum sollen nicht auch Jugendliche über die krummen Wege der Irrtümer und Fehlschläge laufen, statt sich an den Wegweisern der Disziplin und Autorität entlangzutasten? Die moderne Welt hat ja eben die Autorität der Kirchenreligion gebrochen, weil sie nicht Glauben, sondern Erfahrung und Experiment prämieren wollte."

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe geht Literaturen der Frage nach, was gute Unterhaltungsliteratur ausmacht (und was vielleicht aus einem Bestseller von heute einen Klassiker von morgen macht). Sigrid Löffler porträtiert John Le Carre, den Großmeister des politischen Thrillers, und entdeckt dessen globalisierungskritische Ader. Tim Parks unterteilt die leseglückspendenden Romane in drei Typen. Und Heinrich Detering widmet sich Stefan Zweig und der Frage, wie wir ihn heute lesen.

Weitere Artikel: Den (von Heinz Bude und Andreas Willisch herausgegebenen) Sammelband "Das Problem der Exklusion" über die Ausdrucksformen sozialer Ungleichheit, begrüßt Jens König als sachverständiges und empirisch fundiertes Pendant zur unsäglich geführten "Unteschichtendebatte". Doch findet er dieses analytisch starke "Buch von Experten für Experten" einen Tick zu emotionslos. In der Netzkarte stellt Aram Lintzel die Webseite "Club der Hässlichen" vor und findet Anzeichen dafür, dass die selbsterklärten Hässlichen den im Club-Manifest gegeißelten Selbstoptimierungswahn lediglich unter die Oberfläche (sprich: zu den inneren Werten) verschoben haben.
Archiv: Literaturen

Przekroj (Polen), 23.11.2006

Sonne, Strand und niedrige Grundstückpreise - Europa entdeckt die Vorteile des "vielversprechenden Neumitglieds der EU", Bulgarien, schreibt Wawrzyniec Smoczynski. "Immobilienfirmen schießen aus dem Boden, und Investoren aus Westeuropa findet man überall. Selbst an Orten, die wie ein Albtraum aus Stasiuks Büchern aussehen, findet man ein Auto mit britischem Kennzeichen." Viele Bulgaren sehen mit Enthusiasmus der EU-Mitgliedschaft entgegen, doch das allgegenwärtige Profitstreben verzerrt die Wahrnehmung auf beiden Seiten. Ein bulgarischer Journalist warnt: "Ihr Polen baut ständig an eurer moralischen Utopie und wollt Europa zu eurer katholischen Alternative bekehren. Bulgaren wollen sich in der EU eher bequem einnisten und zuschauen, wie man ein paar Euro mehr herauskitzeln kann."
Archiv: Przekroj
Stichwörter: Bulgarien

New Yorker (USA), 04.12.2006

"Vollkommen übergeschnappt" überschreibt Ken Auletta sein Porträt des Moderators einer News-Show bei CNN, Lou Dobbs und seines "populistischen Kreuzzugs". In seiner täglichen Sendung "Lou Dobbs tonight" attackiert der 61-Jährige Moderator George W. Bush regelmäßig und gründlich von rechts. Sein Credo formulierte er Auletta gegenüber so: "Unsere Sendung unterscheidet sich absichtlich von allem, was man im Fernsehen so sehen kann. 'Fairen und ausgewogenen' Journalismus wird man darin nicht zu sehen kriegen. Auch keinen 'objektiven Journalismus'. Die Wahrheit ist eben nicht 'fair und ausgewogen'. Es gibt eine unparteiische, unabhängige Wahrheit, der es verdammt egal ist, was zwei Demokraten und zwei Republikaner über irgendwas denken oder dazu zu sagen haben."

Judith Thurman schreibt über die Ausstellung "Skin + Bones: Parallel Practices in Fashion and Architecture" im Los Angeles Museum of Contemporary Art, die Gemeinsamkeiten von Architektur und Mode untersucht. Sasha Frere-Jones porträtiert die Harfenistin Joanna Newsom. Alex Ross hörte neue Kompositionen von John Adams und György Kurtag. Und Anthony Lane sah im Kino "The Fountain" von Darren Aronofsky und "For Your Consideration" von Christopher Guest. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "A River in Egypt" von David Means.
Archiv: New Yorker

Nepszabadsag (Ungarn), 25.11.2006

Fünfzehn Jahre nach der Wende zieht der Politologe Laszlo Lengyel Bilanz und analysiert die Gründe der Krise in den ostmitteleuropäischen Demokratien: Man habe sich am Transformationsprozess der westlichen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg orientiert und erwartet, nach der "Hölle" des Sozialismus und dem "Purgatorium" der Übergangszeit, der von einem "wilden" Kapitalismus gekennzeichnet war, das "Paradies" eines gerechteren, sicheren, sozialen Kapitalismus entstehen zu sehen. "Auf der sozialen und politischen Landkarte der neuen Verbürgerlichung erwiesen sich Warschau, Prag, Bratislava und Budapest nicht als ebenbürtige Konkurrenten von Wien, Mailand, München und Berlin. Dies zu akzeptieren, fällt besonders denen schwer, die erst vom alten und nun auch vom neuen System dauerhaft an die Peripherie gedrängt wurden und die in tiefer Armut, ohne Solidarität leben müssen... Gibt es denn wirklich keinen 'Kapitalismus mit menschlichem Antlitz', kein sinnvolles Ziel, oder sind nur wir unfähig, es zu erreichen?"
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Wien, Transformationsprozesse

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.11.2006

"Nicht nur in Ungarn, auch in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten ist die innenpolitische Lage instabiler geworden - zur gleichen Zeit nehmen im Westen, in Deutschland oder Dänemark, aufgrund der Einsparungen die gesellschaftlichen Spannungen ebenfalls zu." Diese scheinbar ähnlichen sozialen Probleme haben jedoch unterschiedliche Gründe, meint der in Ungarn lebende japanische Ökonom, Morita Tsuneo, die auch die Eigenart des ungarischen Systemwechsels ausmachen. Tsuneo verweist dabei unter anderem den auf einer schwachen Marktwirtschaft ruhenden Wohlfahrtsstaat und den Populismus: "Bei letzterem lautet die Frage: Parlament, oder Straße? Im Parlament können die beiden großen Parteien keine Kompromisse erzielen, weshalb die oppositionelle Fidesz die Möglichkeit zu außerparlamentarischen Aktionen maximal ausnutzt, um das Parlament unter Druck setzen will. Diese Strategie erinnert an die Methoden der Bolschewiken. Nur ist es mehr als eine Ironie, dass sich ausgerechnet eine Partei, die sich dem ideologischen Kampf gegen den Antikommunismus verschrieben hat, die kommunistische Strategie zu eigen macht."

Outlook India (Indien), 04.12.2006

Angesichts des Bestrebens der indischen Regierung, das 150. Jubiläum des Sepoy-Aufstands von 1857 als indischen Independence Day zu feiern, erinnert Tarlochan Singh an "gleichwertige Unabhängigkeitskämpfe": "Sollten wir uns nicht an den ersten Krieg zwischen Sikhs und Briten 1846 erinnern, als der britische Generalgouverneur um ein Haar von Sikhs gefangengenommen worden wäre? Wenn es den Sikhs gelungen wäre, nach Delhi zu marschieren, wer weiß, vielleicht hätten die Briten schon damals abziehen müssen." Grund genug, vor kleinlichem Geschichtsrevisionismus zu warnen: "Geschichte als evolutionäre Abfolge von Ereignissen zu begreifen, ist Sache des Westens. Unsere Zeit ist zyklisch, weil die indische Weltordnung zeitgleich mit der Zeit selbst entstand; sie ist ohne Anfang und Ende. 1857 hatte seine Folgen, aber indem wir es als ersten Schritt in unsere Unabhängigkeit bezeichnen, trivialisieren wir die Geschichte."

Passt die indische Literaturkritik auf einen Waschzettel? Sheela Reddy entlarvt das Verfassen von Klappentexten als so lukratives wie inzestuöses Geschäft, das den Leser täuscht: "'Die meisten namhaften Verfasser solcher Texte', verrät mir Khushwant Singh, 'lesen das betreffende Buch gar nicht. Sie loben es, weil sie den Autor mögen oder ihn persönlich kennen.' In Indien sind Beziehungen alles. Autoren verlassen sich mehr und mehr auf entsprechende Netzwerke und nehmen das Geschäft mit den Waschzetteln selbst in die Hand."

Weiteres: In der Titelstory bringt Namrata Joshi das neue Bollywood auf die simple Formel: Bessere Filme, mehr Besucher. Anita Roy stellt einen bahnbrechenden Sammelband zum Thema Mutterschaft vor (Rinki Bhattacharyas "Janani. Mothers, Daughters, Motherhood"). Und John Elliott bereist die im Nordwesten Kaschmirs liegende Gilgit-Region, wo die Verachtung für die USA mit Händen zu greifen ist.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 24.11.2006

Begeistert erzählt der Economist, wie sich bei der Lektüre von Hugh Brogans Tocqueville-Biografie "Alexis de Tocqueville: Prophet of Democracy in the Age of Revolution" das Zimmer auf wundersame Weise mit Menschen gefüllt hat: "Hugh Brogan führt nicht nur sicheren Schrittes durch das Werk dieses brillanten, wenn auch schwer fassbaren Theoretikers. Er begreift jene Zeit so gut wie ein Historiker und besitzt das Talent eines Schriftstellers, wenn es darum geht, Menschen zu beschreiben. Als Porträt eines komplizierten Mannes, eines bewegten Milieus und einer Welt in Aufruhr bietet 'Alexis de Tocqueville' die befriedigende Fülle eines Romans aus dem 19. Jahrhundert."
Archiv: Economist
Stichwörter: Tocqueville, Alexis de

Spectator (UK), 27.11.2006

Neil Barnett rekapituliert seine Treffen mit dem vergifteten russischen Ex-Spion Alexander Litwinenko und erfährt interessante Neuigkeiten von dessen Freund Wladimir Bukowski. "Im Juli hat die Duma zwei sehr interessante Gesetze verabschiedet. Eines erlaubt den Sicherheitskräften, Extremisten auch im Ausland zu töten. Das zweite weitet die Definition von 'Extremist' auch auf jene aus, die das Regime in ehrenrühriger Weise kritisieren. Es läuft so: In Abwesenheit wird das Todesurteil gefällt, dann der FSB oder GRU angewiesen, es auszuführen. Als ich Sascha vor ein paar Wochen traf, sprach er nicht von Überwachung oder Drohungen, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil sie zu einem permanenten Teil seines Leben geworden waren."

Außerdem: Küchentisch-Magnaten nennt Judi Bevan die immer zahlreicher werdenden Frauen, die dank des Internets Firmen gründen, von zu Hause leiten und gleichzeitig Kinder großziehen können.
Archiv: Spectator

London Review of Books (UK), 30.11.2006

Der indische Autor Pankaj Mishra hat Schanghai besucht, dessen Aufstieg zur kapitalistischen Megametropole ihm genauso unheimlich ist wie der Bombays: "Als Inder in einer chinesischen Stadt sind einem nicht nur die überfüllten, lebendigen Straßen vertraut, die Läden mit offener Front und die Imbisse, sondern auch die Malls mit ihren luxuriösen Markennamen... Man fragt sich unweigerlich, welche politischen Vorstellungen die neuen reichen Chinesen haben. Dass sie sie nicht bei Wahlen zum Ausdruck bringen können, macht die Frage nicht weniger dringend, welche Rolle sie in China und in der Welt spielen möchten. Die Inder, die das Glück haben, wählen zu dürfen, haben leider nicht die These bewiesen, dass ein freier Markt und regelmäßige Wahlen zu einer aufgeklärten und harmonischen Gesellschaft führen. Indien neue Mittelklasse neigt dazu - konservativ, wenn nicht reaktionär wie sie ist - mit großer Mehrheit Hindu-Nationalisten zu wählen, trotz deren wiederholten Angriffe auf Muslime und ihrer gleichsam mörderischen Indifferenz gegenüber den Armen auf dem Land".

Zum Völkermord in Darfur schreibt Alex de Waal, Direktor des Social Science Research Council: "Eine Militärinvention wird das Töten nicht aufhalten. Diejenigen, die nach Truppen rufen, um sich ihren Weg nach Darfur zu erkämpfen, leiden an einem Erlösungswahn. Es ist eine einfache Wahrheit, dass UN-Truppen keinen Krieg stoppen können, und ihre bisherigen Leistungen beim Schutz von Zivilisten sind alles andere als überragend. Die Idee von Bush und Blair, als Friedensstifter zu agieren, wird nicht weit führen. Die Krise in Darfur ist politisch. Es ist ein Bürgerkrieg, und wie alle Kriege braucht er eine politische Lösung."

New York Times (USA), 26.11.2006

Liesl Schillinger hat sich für die Book Review durch den neuen Pynchon gegraben. "Against the Day" - 1085 Seiten, losgelöst von Raum und Zeit und so witzig wie nie, findet Schillinger: "Pynchon scheinen seine Figuren große Freude zu bereiten. Manchmal ist es allerdings ein grausames Spiel. Er schleift sie durch zwielichtige Vergnügungsparks, von der Weltausstellung 1893 in Chicago (wo Franz Ferdinand auftritt und verzweifelt versucht, die Jagdrechte für den Schlachthof von Chicago zu bekommen) ... zum Wiener Prater, wo zwei seiner Figuren, Cyprian Latewood (ein 'bläßlicher Sodomit' und Geheimagent) und Yashmeen (ein bisexueller Mathematiker, der durch Wände geht) eine Gondelfahrt durch ein venezianisches Wien unternehmen, so wie ein Liebespaar in einem Ophüls-Film."

Eher gravitätisch dagegen erscheint der zweite Teil von Gore Vidals Autobiografie ("Point to Point Navigation", Leseprobe). Ein Abschiedsbuch vermutet Christopher Hitchens: "Diese beinahe schlicht zu nennenden Erinnerungen befassen sich hauptsächlich mit anderer Leute Angelegenheiten (Beerdigungen vor allem) und wecken das Bild eines silberhaarigen alten Löwen im Winter."

Weiteres: Robert F. Worth bespricht Denys Johnson-Davies' umfassende Anthologie arabischer Erzählliteratur ("The Anchor Book of Modern Arabic Fiction", Leseprobe). Und in einem Quiz untersucht Henry Alford die Willkür bei der Wahl von Buchtiteln. Außerdem stellt die New York Times die ultimative Lektüreliste für 2006 ins Netz.
Archiv: New York Times