Efeu - Die Kulturrundschau

Postkarten vom Großen Kino

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05.09.2018. Hyperallergic feiert Jugoslawiens Architektur als in Beton gegossene Utopie. Mit Entsetzen quittiert die FAZ Florian Henckel von Donnersmarcks in Venedig gezeigtes Gerhard-Richter-Biopic "Werk ohne Autor", die SZ fand ihn dagegen schön. Die taz erlebte beim #WirSindMehr-Konzert die Versöhnung verfeindeter Punk-Lager. Der Welt hätte das Event noch besser gefallen, wenn auch ein paar Frauen und migrantische Musiker auf der Bühne gestanden hätten. Und in der Spex klagt Schorsch Kamerun über eine neue Eskalation der Gentrifizierung: Jetzt wird in der Dortmunder Nordstadt sogar das billige Saufen "Trend"!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.09.2018 finden Sie hier

Architektur

Wohnblock Split 3 von Dinko Kovačić und Mihajlo Zorić, 1970-79. Foto: Valentin Jeck / Museum of Modern Art

Auf Hyperallergic jubelt Roko Rumora über die Schau "Toward a Concrete Utopia" im New Yorker Moma, die ihr zeigt, wie in Jugoslawiens Architektur kollektive Ideale konkrete Gestalt annahmen. Vor allem die Wohnungsbauten beeindrucken sie: "Die Wohnungspolitik des jugoslawischen Sozialismus und seiner Arbeiterselbstverwaltung war gegen den Staat und für den Markt und gründete auf der Überzeugung, dass die Gesellschaft  - nicht der Staat - ihren Mitgliedern Wohnraum zur Verfügung stellen muss. Wohnen wurde zu einem Grundrecht, formell verankert in der jugoslawischen Verfassung und allen BürgerInnen garantiert. Der wachsende Bedarf an Wohnungen führte zu einem Boom an architektonischen Wettbewerben im ganzen Land. Von gigantischen Entwicklungsinitiativen in den fünfziger Jahren wie etwa Das Neue Belgrad (zu seiner Zeit die größte Baustelle Europas) bis zu späteren Projekten wie den geschmeidigen Hochhäusern von Split 3, die in den siebziger Jahren an der dalmatinischen Küste gebaut wurden, ersannen Architekten eine Vielzahl von Lösungen. Die Entwürfe garantierten soziale Standards und das Wohnrecht für alle und ging oft über das reine Wohnen hinaus".

In der NZZ unterhält sich Antje Stahl mit der Architektin An Fonteyne, die gerade das heftig diskutierte Musée Kanal in Brüssel plant, aber auch immer auf der Suche nach einem Ort ist, an dem Europa eine bauliche Substanz erhält. Gerade entwirft sie mit ihren StudentInnen ein Volkshaus für Brüssel: "Jede Staatsgründung manifestiert sich durch eine Hauptstadt und selbstverständlich in Gebäuden. In Brüssel wurde die Ankunft europäischer Einrichtungen bereits seit den fünfziger Jahren geplant, allerdings nicht von der EU, sondern von privaten Investoren. Die gesamte Infrastruktur wurde nicht in die Stadt integriert, aber selbst in diesem isolierten Europaviertel aus Bürogebäuden gibt es für Europäer keine Anlaufstelle, keine architektonische Manifestation der EU. Der Besuch des Parlaments etwa erfordert eine aberwitzig langfristige Planung, komplizierte Anmeldung mit Reisepässen, Wartezeiten und so weiter."

Und: Im Tagesspiegel rühmt Bernhard Schulz Norwegens Architekturszene, die Fjorde und Wasserfälle sanft für den Tourismus erschließt und sich nicht in dem berühmten Büro Snohetta erschöpft: "Wie in einem Lehrbuch lässt sich in Norwegen beobachten, wie sehr wohlbedachte Eingriffe zu einem reicheren Erleben der Natur führen, die zugleich besser vor den Kehrseiten auch des gut gemeinten Tourismus, dem unkontrollierten Parken und Picknicken, geschützt wird."
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Film

Filmstill aus "Werk ohne Autor"

Gerhard Richter heißt jetzt Kurt Barnert, sonst ändert sich nichts. So sehen das zumindest die Kritiker bei Florian Henckel von Donnersmarck Film "Werk ohne Autor" mit Tom Schilling, der in Venedig gezeigt wurde, bevor er für Deutschland zu den Oscars reist. Dass der dreistündige Film nicht langweilt, hält ihm tazler Tim Caspar Boehme zugute. Mehr noch als den Künstler, porträtiert Henckel von Donnersmarck hier "ein Land", erklärt Susan Vahabzadeh in der SZ. Und darin "ist es aber doch ein sehr schöner Film geworden, denn Kurt Barnert erlebt drei Versionen von Deutschland - den Nationalsozialismus, die DDR und die Bundesrepublik. Die Restriktionen, die ihn am Sehen hindern, sind immer die Restriktionen, die alle am Sehen hindern, nicht nur in der Kunst."

Dietmar Dath windet sich im Sessel derweil gerade des Liebreizes wegen vor Schmerz: Offenbar ist der Film versessen darauf, Postkarten vom Großen Kino zu verschicken. Jedenfalls spreche er "fließend Klischee", amüsiert sich der FAZ-Kritiker noch, bevor es ihm moralisch schlicht zu viel wird: "Das Produktionsdesign, die Lichtgeometrie, das Geschäftliche", sei ja schön und gut, "aber wer darf erwarten, in all diesen Demonstrationen patriotisch-moralischer Regiekompetenz Raum für Zweifel daran zu finden, ob eine Kamera und ein Soundtrack in einer Gaskammer etwas verloren haben? Dass sie da nicht hingehören, ist kein bloßes Gebot der Scham oder des Anstands. Es berührt den Bezirk der ästhetischen Wahrhaftigkeit. ... So etwas hält man kaum aus, und dass der Film es aushält, dass er danach weitermachen kann mit seiner Liebes- und Künstlerkarrieregeschichte, spricht gegen ihn."

Weitere Artikel: Filmhistoriker David Bordwell setzt sich in seinem Blog nach der Vorführung in Venedig von Orson Welles' nach über vierzig Jahren von Netflix fertiggestellter Filmruine "The Other Side of the Wind" mit ebendiesem Film sehr ausführlich auseinander. In einem großen Kinozeit-Feature dröselt Katrin Doerksen die Geschichte des deutschen Report- und Aufklärungsfilms von dessen Anfängen in der Stummfilmzeit bis zur großen Softsex-Welle der 70er auf. Die Standard-Filmkritiker geben Tipps zur großen Fassbinder-Retro im Österreichischen Filmmuseum.

Christiane Peitz (Tagesspiegel) und Milan Pavlovic (SZ) schreiben zum Tod des langjährigen WDR-Filmredakteurs und Filmkritikers Helmut Merker. Beim Online-Dossier "Kunst der Vermittlung" findet sich ein Text von Merker, in dem er seine Vorgehensweise beim legendären WDR-Filmtipp beschreibt. Als Redakteur betreute er unter anderem auch Romuald Karmakars Kurz-Porträt des Filmkritikers Michael Althen aus dem Jahr 1991:

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Bühne

Schorsch Kameruns "Nordstadt Phantasien / Club Kohleausstieg" bei der Ruhrtriennale
Im Interview mit der Spex spricht Regisseur, Autor, Musiker und Clubbetreiber Schorsch Kamerun über die Tücken der Gentrifizierung, der man als Künstler nicht entkommt, schon gar nicht mit einer musiktheatralen Gentrifizierungssimulation bei der Ruhrtriennale: "In der Dortmunder Nordstadt existiert noch eine, um mit Walter Benjamin zu sprechen, poröse Urbanität. Es gibt noch Lücken, wo sich eine kleine Sub- und Nachbarschaftskultur pflegt, die möglicherweise gar nicht 'entdeckt werden' will. Nur jetzt kommt unser Projekt und dann ist es natürlich vorbei." Und auch schlimm: Jetzt liegen sogar die Trinkhallen im Pott im Trend: "Was eigentlich immer normal war, also billiges Saufen auf der Straße, kippt gerade: Cornern wird zum nächsten kultigen Event und die Nutznießer bedienen das natürlich mit Freuden. So werden Leute aus eigentlich benachbarten Szenen zu erbitterten Business-Konkurrenten."

Gabriele Spiller berichtet in der FAZ von der Premiere der Flüchtlingsoper "Ahna Refugjati" in La Valetta, die bei den Maltesern jedoch wenig Anklang fand. Flüchtlinge treffen hier auf wenig Gegenliebe, erfährt Spiller: "Als beschämend wird ein Vorfall empfunden wie kürzlich, als man hundertzwanzig Afrikaner in einem verfallenen Bauernhof entdeckte. Sie waren in Italien registriert, per Flugzeug eingereist und hielten sich unter menschenunwürdigen Umständen in Malta auf. Dennoch bettelten einige von ihnen darum, in den Kuhställen bleiben zu dürfen. Dies ist ein Bild, welches das prosperierende Land keinesfalls in Europa abgeben möchte, zählte man doch vor wenigen Jahren selbst noch zu den wirtschaftlichen Entwicklungsländern."

Besprochen werden Milo Raus Dokustück "Wiederholung" an der Berliner Schaubühne (das Andreas Fanizadeh in der taz vehement gegen den Vorwurf verteidigt, den Mord an einem schwulen Araber zu drastisch darzustellen) und Nicole Oders Inszenierung von J.M. Barries "Peter Pan in Kensington Gardens" im Heimathafen Neukölln (Tagesspiegel).
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Kunst

Natürlich sieht SZ-Kritiker Gottfried Knapp in der großen Balthus-Ausstellung in der Fondation Beyeler viele Katzen und Kindmädchen, die durchaus aus zu Fantasien anregen. Aber wenn er das mit den Bildern von Francis Bacon vergleicht, in denen Fleisch und Blut krass aufeinander prallten, kommt ihm das eigentlich alles "ein wenig harmlos" vor: "Man fragt sich, ob der immer wieder aufflammende Ruhm dieses Malers nicht ausschließlich auf dem haarsträubenden Irrtum beruht, dass dieser Mann, der, wie vielfach bezeugt ist, nie eines seiner Modelle unsittlich berührt hat, ein Pornograf gewesen sei."

Weiteres: SZ-Kritikerin Catrin Lorch preist die schlichte, elegante Malerei der Künstlerin Tomma Abts, der die Londoner Serpentine Gallery eine Retrospektive widmet. Berührt blickt Allison Meier auf Hyperallergic auf die Zeichnungen, mit denen Harvey Dinnerstein und Burton Silverman 1956 den Busboykott von Montgomery festhielten. Das Delware Art Museum widmet ihnen gerade eine Ausstellung.

Besprochen werden die Pierre-Soulages-Retrospektive in der Fondation Pierre Gianadda in Martigny (NZZ), eine Ausstellung von Andy Warhols Plattencover im Kölner Museum für Angewandte Kunst (FR) und eine Schau des Jahrhundertwende-Fotografen Moriz Nähr im Leopold Museum in Wien (Standard).
Archiv: Kunst

Literatur

In der NZZ nimmt Felix Philipp Ingold die "avenidas"-Debatte um Eugen Gomringers Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin zum Anlass für einen rückblickenden Abschied von der Konkreten Poesie: Diese nämlich habe sich längst im Fundus der Archive abgesetzt und wird wohl schwerlich ein Comeback erleben, auch "weil sie inzwischen weitgehend von der Werbesprache vereinnahmt und umstandslos nutzbar gemacht worden ist. ... Die Leichtigkeit, ja Selbstverständlichkeit, mit der die Errungenschaften konkreter Dichtung sich für das Sprachdesign der Werbung haben vereinnahmen lassen, ist ein Indiz dafür, dass diese Art von Dichtung immer schon Designcharakter hatte; dass sie perfektes Arrangement des Sprachmaterials höher veranschlagte als lyrische Gestimmtheit. Die konsequente Privilegierung formaler Qualitäten und deren stetige Vervollkommnung haben der konkreten Poesie gleichsam den Atem genommen."

Weitere Artikel: Yello-Musiker Dieter Meier erinnert in der NZZ an das Zürcher Rotlichtmilieu vergangener Jahre. In der Welt schreibt Tilman Krause über den Romantiker François-René de Chateaubriand, der vor 250 Jahren geboren wurde. Die FAZ hat Daniel Kehlmanns Dankesrede zum Frank-Schirrmacher-Preis online nachgereicht. Julia Encke (FAZ) und Mara Delius (Welt) berichten von der Verleihung.

Besprochen werden María Cecilia Barbettas "Nachtleuchten" (online nachgereicht von der (Welt), Flix' Comic "Spirou in Berlin" (taz), Timur Vermes' "Die Hungrigen und die Satten" (online nachgereicht von der FAZ), Goran Vojnovics "Unter dem Feigenbaum" (FR), Michael Köhlmeiers "Bruder und Schwester Lenobel" (SZ) sowie Sibylle Lewitscharoffs und Najem Walis "Abraham trifft Ibrahim: Streifzüge durch Bibel und Koran" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Malene Gürgen und Juliane Streich berichten in der taz ausführlich vom Chemnitzer #WirSindMehr-Event, bei dem sich unter anderem in Deutschland bislang nicht für möglich gehaltene Szenen abgespielt haben, als Campino von den Toten Hosen gemeinsam mit Rod von den Ärzten den Ärzte-Anti-Nazi-Klassiker "Schrei nach Liebe" sangen, wo beide Bands doch seit den 80ern Wert auf ihre Feindschaft legen: In Chemnitz wurden demnach "selbst die Grenzen des deutschen Punk niedergerissen." Jan Kedves verdreht in der SZ derweil genervt die Augen darüber, dass in Welt-Redakteur Ulf Poschardt nun ausgerechnet anlässlich des Chemnitzer Konzerts der Verdacht gereift ist, dass Campino und Co. sehr wahrscheinlich gar nicht mehr so Punk sind wie einst. Dabei hätte es doch tatsächlich was zu kritisieren gegeben, "nämlich, dass in Chemnitz fast keine Frauen und kaum Menschen mit migrantischen Hintergründen auf der Bühne standen. Bei einem Konzert gegen Rassismus, bei dem die Vielfalt gefeiert werden sollte. #wirsindmehr? Ja, wunderbar. Aber es waren eben vor allem mehr weiße Männer, die da oben standen."

Weitere Artikel: Für Skug hat Xavier Plus einen großen "Erlebnisbericht" vom Jazzfestival Saalfelden verfasst. Karl Fluch schreibt im Standard einen Nachruf auf Nick Caves Pianisten Conway Savage. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch zudem an den Songwriter Jim Ford.



Besprochen werden Tush Sultanas "Flow State" (Zeit), Anna Calvis "Hunter" ("große Revue mit Samtvorhang", verspricht tazlerin Julia Lorenz), die Ausstellung "Andy Warhol: Pop goes Art" im Kölner MAK, die Andy Warhols Plattencover-Arbeiten zeigt (FR), ein Konzert des Rotterdamer Orchesters unter Yannick Nézet-Séguin (Tagesspiegel), Paul McCartneys "Egypt Station" (Welt) und die "Echt guten bösen Lieder" des Wiener Musikers Sir Tralala (Standard).
Archiv: Musik