9punkt - Die Debattenrundschau

Trüber Eigensinn

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2018. Die Medien haben fast nur ein Thema: Chemnitz und die Folgen. Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer schildert in der taz das explosive Zusammenspiel von Selbstviktimisierung  und Instrumentalisierung eines Verbrechens. Die Salonkolumnisten beschreiben, wie die AfD in Sachsen eine Art Strategie der Sezession betreibt. Die Deutschlandfunk-Kommentatorin vermisst den Antifaschismus der DDR.  Außerdem: In der taz fragt der  Herero-Aktivist Israel Kaunatjike, warum Gebeine von ermordeten Herero nun ausgerechnet in einer kirchlichen Zeremonie zurückgegeben werden sollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.08.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Chemnitz und die Folgen beschäftigen die Medien. Ambros Waibel interviewt in der taz den Sozialpsychologen Klaus Ottomeyer zur hämisch-brutalen Selbstinszenierung der Rechtsextremisten in Chemnitz, die sich typischerweise durch erlogene Gerüchte erst einmal einen Opferstatus zugedichtet haben: "Denken Sie an die Novemberpogrome 1938, die sogenannte Kristallnacht. Da hat man auch einen Mord, den ein verzweifelter jüdischer junger Mann an einem deutschen Diplomaten in Paris begangen hat, zum Anlass genommen. Solche Taten werden instrumentalisiert, ob sie nun tatsächlich stattgefunden haben oder nicht. Auch die Behauptung, dass das Opfer einer solchen Gewalttat eine Frau beschützen wollte, ist sehr typisch. Darauf folgt dann eine rauschhafte Inszenierung, wo die Männer behaupten, sie wollten ihre Frauen und Kinder schützen."

Schon längst haben Journalisten in Sachsen angefangen, sich selbst zu schützen, weil sie auf die Polizei des Landes lieber nicht zählen, sagt der Zeit-Online-Reporter Johannes Grunert im Gespräch mit Thomas Borgböhmer von Meedia: "Natürlich sind die Vorkommnisse in Chemnitz ein Novum, aber sie sind letztlich zum großen Teil mit Pegida in Dresden vergleichbar, wo über 25.000 auf der Straße waren. Auch dort war die Polizei nicht in der Lage, den ganzen Aufzug abzusichern, der ja meistens solange friedlich ablief, solange nichts Feindliches am Rand war. Es ist in Sachsen schon länger so, dass es den Videoteams auf Demos nicht mehr möglich ist, frei zu berichten, weil die Polizei nicht an jeder Stelle sein kann und die Aufmärsche so groß sind, dass die offenbar zahlenmäßig dermaßen unterlegen ist." Hier Grunerts Zeit-online-Reportage aus Chemnitz.

Auf Twitter wurde ein Kommentar Matthias Thiemes aus der Frankfurter Neuen Presse besonders häufig geteilt - vor allem wohl, weil er aus einer Pressemitteilung der AfD-Fraktion des Kreistags im Hochtaunus zitiert: "'Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt', schreibt die Partei. 'Darüber sollten die Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken, denn wenn die Stimmung endgültig kippt, ist es zu spät!' Später löschte die Fraktion diese Sätze wieder."

Oft wird bei Pegida- und anderen rechten Demos in Sachsen die sogenannte Wirmer-Flagge, die aus der Widerstandsgruppe des 20. Juli stammt, geschwungen. Sie zeigt, dass man den Osten inzwischen als so etwas ähnliches wie die Südstaaten in den USA betrachten kann, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten, denn die Fahne erinnere an die Konföderierten-Flagge: "Es ist eine Trotzreaktion, die eine vor 150 Jahren erlittene militärische Niederlage in einen ideologischen Sieg ummünzen soll und die misslungene Sezession mittlerweile in einen kulturellen und politischen Erfolg umwandelte: Demokraten bringen in den Südstaaten kaum noch einen Fuß auf die Erde. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, und ähnliches schwebt der AfD in Ostdeutschland vor: die Schaffung einer regionalen, rückwärtsgewandten Identität, ein Beharren auf einem trüben Eigensinn voll Ressentiment und Hass. Hinzu kommt eine Selbstviktimisierung, die allerdings mit den Erfolgen, die Ostdeutschland, bei allen Rückschlägen, vorzuweisen hat, nicht in Einklang zu bringen ist."

Die Dlf-Kommentatorin Ulrike Winkelmann macht die Beobachtung, dass es sich bei den Rechtsextremen in Chemnitz vorwiegend um 40- bis 50-Jährige handelt und stellt ernstlich die Frage: "Wäre es dann eine Überlegung, bei den Älteren, der Rentnergeneration, an ein Erbe anzuknüpfen, das in den Neunzigern von Helmut Kohl ganz unnötig plattgetrampelt wurde - nämlich die antifaschistische Tradition der DDR?" Unter Honecker wär das nicht passiert!

Inzwischen versagt die Polizei in Sachsen fleißig weiter: "Rechtsradikale veröffentlichen Haftbefehl im Internet", meldet etwa das faz.net. Darin werden unter anderem der Name und die Adresse eines der Täter, die mutmaßlich das Opfer Daniel Hillig erstochen haben,  genannt und der Tathergang wiedergegeben. Offenbar wurde das Dokument an Rechtsextremisten "durchgestochen".

Weiteres: Ferdos Forudastan fordert in der SZ, dass noch mehr nach Ursachen des Rechtsextremismus in Sachsen geforscht wird.
Archiv: Gesellschaft

Europa

In der NZZ denken Bruno S. Frey und Margit Osterloh darüber nach, wie eine vernünftige, von einer Mehrheit akzeptierte Einwanderungspolitik aussehen könnte: Sie schlagen eine Genossenschaft vor. "Um Teil einer Genossenschaft zu werden und an ihren Gemeingütern zu partizipieren, muss man einen Beitrag einzahlen. Ähnlich sollten solche Migranten einen Beitrag erbringen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Gedacht ist, dass zunächst alle Flüchtlinge vor der Einreise ein 'Eintrittsticket' erwerben. Dieses ermöglicht ihnen, ohne Gefahr für Leib und Leben zu uns zu kommen. Anders als heute müssen Menschen, die der Armut entkommen wollen, nicht Asylgründe vorschieben, weil sie sonst gar keine Bleibechancen haben. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt wäre direkt nach Ankunft möglich; bekanntlich erfolgt ein Großteil der Integration über die Arbeit."
Archiv: Europa

Politik

Anlässlich von Angela Merkels Reise nach Nigeria, Senegal und Ghana stellt Valentin Feneberg im Tagesspiegel, die senegalesische Bewegung Y'en a marre vor, deren Aktivisten ihr Land nicht mehr von ausländischen Investoren und Helfern dominiert sehen möchten: "Fragt man auf den Straßen danach, was die Leute von Y'en a marre halten, ist das Bild etwas ambivalenter, als es das begeistert mitsingende Konzertpublikum vermuten lässt. Zwar beginnt so gut wie jede Antwort verlässlich mit der Feststellung, dass ausnahmslos alle Politiker Diebe seien. Viele sagen allerdings, dass ihnen der Aktivismus von Y'en a marre zu aggressiv, zu provokativ ist. Andere finden, dass das mit der Demokratiebewegung ja schön und gut sei. Letztlich ginge es aber darum, eine Arbeit zu finden und seine Familie durchzubringen. Die Probleme, gegen die Y'en a marre ankämpft, sind vielen zu abstrakt. Politiker bleiben Verbrecher. In dieser Weltsicht hat man sich eingerichtet. Basta. Auf den Straßen Dakars ist der selbstverantwortliche Bürger, der 'Nouveau Type de Sénégalais' nicht jedermanns Sache."

Außerdem: In der NZZ hält Rodrigo Constantino, Präsident des Instituto Liberal in Rio de Janeiro, es für gut möglich, dass der konservative Kandidat Jair Bolsonaro die kommenden Wahlen in Brasilien gewinnen wird. Die Linke und große Teile der Medien versuchten den Mann zwar zu dämonisieren, aber mehr als "virtue signalling" komme dabei nicht heraus.
Archiv: Politik

Ideen

Was unterscheidet einen echten Menschen von einem künstlichen? Bernard-Henri Levy sucht in der NZZ Rat bei den Philosophen. Mensch zu sein, schließt er, ist vor allem ein Abenteuer. Es "bedeutet, dass man gegen alle Arten des gesellschaftlichen Drucks in sich einen Ort der Intimität und Heimlichkeit bewahrt, zu dem das große Ganze keinen Zutritt hat. Es heißt, diesen Bereich, in dem uns die drei transzendenten Mächte - Gott, Natur, Gesellschaft - nichts anhaben können, nicht nur zu schaffen, sondern ihn zu sichern, zu verteidigen und, wenn möglich, auszudehnen. Die Kraft dazu mag uns nicht von vornherein gegeben sein. Wir sind nicht als Menschen geboren; wir werden es. Menschlichkeit ist keine Seinsform; sie ist ein Schicksal. Sie ist auch kein stabiler, ein für alle Mal erlangter Zustand, sondern ein Prozess."
Archiv: Ideen

Geschichte

Immer wenn die Bundesrepublik symbolisch bedeutsam werden will, delegiert sie die Organisation der Zeremonie an die Kirchen, so auch jetzt eine Rückgabe von Gebeinen der im Kolonialismus ermordeten Herero und Nama. Der  Herero-Aktivist Israel Kaunatjike begrüßt im Interview mit Elisabeth Kimmerle von der taz die Rückgabe - aber nicht die Zeremonie: "Ich verstehe nicht, warum die Zeremonie in der Kirche stattfindet. Die Menschen, deren Gebeine hierher gebracht wurden, waren keine Christen. Sie sind ermordet worden, und die Kirche war involviert. Ich persönlich bin dafür, dass die Restitution im Bundestag stattfindet und sich die Bundesrepublik sofort entschuldigt. Wir NGOs bleiben draußen vor der Kirche, weil wir finden, dass es nicht respektvoll ist, diese Zeremonie in der Kirche stattfinden zu lassen." Kimmerle berichtet in einem zweiten Artikel von der Rückgabe.

Der Historiker Jost Dülffer hat lange über die deutschen Geheimdienste geforscht und in diesem Jahr ein Buch über die "Organisation Gehlen" veröffentlicht, wie der BND in den sechziger Jahren nach seinem Leiter Reinhard Gehlen, der schon für die Nazis spioniert hatte, genannt wurde. Im Interview mit der FR spricht er über die Rolle des Geheimdienstes in den 60er Jahren unter Adenauer, Nazis beim BND und die Rolle der Medien: "Gehlen hatte eine Reihe von 'Spezis', Journalisten seines Vertrauens, denen er von Zeit zu Zeit vermeintliche Sensationsgeschichten zur Veröffentlichung lieferte. Im Gegenzug standen dann Elogen über den BND und seinen Chef in den Blättern." Zu diesen Spezis gehörte die Springer Presse, Marion Gräfin Dönhoff von der Zeit und: "Bei meinen Recherchen bin ich auch auf ein Detail gestoßen, das Sie bei der FR besonders interessieren dürfte: Der schon erwähnte BND-Oberst Adolf Wicht pflegte eigene Kontakte zum FR-Gründungsherausgeber Karl Gerold, der bei vielen im Ruch eines Kommunistenfreunds stand. Wicht zeigte ihm allerhand Material, das Gerold interessant fand. Und auch wenn er - wie er Wicht bedeutete - nicht direkt mit dem BND zu tun haben wollte, wurde Gerold so doch zu einer Art Sympathisant, der sich gern auch mal nach Pullach in die BND-Zentrale einladen ließ. Sie sehen daran, wie die Gehlensche Landschaftspflege funktionierte."
Archiv: Geschichte