Virtualienmarkt

Web 2.0: Die Frühphase der Etablierung

Von Robin Meyer-Lucht
02.04.2007. Das Web 2.0 bringt uns auch nicht in den Himmel 2.0, auch weil die Online-Aufmerksamkeitsökonomie so langsam ausgereizt ist. Die traditionellen Medien können trotz nicht aufatmen.
Als ich gestern die Telefonnummer meines Friseurs suchte, trat wieder einmal ein Stückchen vorhergesagter Internet-Zukunft in mein Leben: Google listete an erster Stelle der Suchergebnisse säuberlich die Adresse des Geschäfts auf und reichte dazu den passenden Stadtplanausschnitt. Zuvor war ich hier auf ein Sammelsurium alter Friseur-Rezensionen der Lokalpresse gestoßen. Aus denen ließ sich die Nummer zwar auch trefflich herausklauben, doch nun ist Google ganz offenbar dabei, mittels geografischer Verortung seiner Datenbestände diese Informationsleistung höchstselbst zu übernehmen.Ehrlich gesagt: Dies war auch schon eines der beeindruckendsten Ergebnisse in Sachen Internet der letzten Wochen. Nunja, dass Google jetzt auch Anzeigen im Video-Format vertreibt, ist ebenfalls beeindruckend. Und was sich in der Welt der Video-Portale tut: auch. Dennoch gewöhne ich mir langsam an, die 2.0-Geschäftigkeit und 2.0-Virulenz als sorgsam inszenierte Hektik zu verstehen, die viele ihrer Versprechen doch nicht gar so schnell einzulösen vermag. Mit Wonne nehme ich war, dass sich der Hype so langsam erschöpft, weil Wachstumsgrenzen sichtbar werden und die Erfahrung wächst, dass viele der neuen Anwendungen im Vergleich zum Vorhandenen doch nicht gar so interessant sind. Die 2.0-Techniken werden langsam eingerahmt von Nutzungserfahrung und neuen kulturellen Routinen. Die 2.0-Beschwingtheit erreicht die Phase ihrer differenzierten Betrachtung, was ihr die Aufgeregtheit nimmt.

Als im letzten Herbst die Wandel-Euphorie übersprudelte, schien manchmal das Gedankenexperiment angeraten, sich das ganze 2.0-Internet in der Phase seiner Etablierung und Stagnation vorzustellen. Also in jener Phase, in der sich Ebay oder Bahnfahren gerade befinden. Beides war bekanntlich auch einmal unendlich aufregend. Und ist es jetzt nicht mehr. Das 2.0-Internet erreicht so langsam, so erscheint es mir in diesen sonnigen Frühlingstagen, die Frühphase einer solchen Etablierung. Die Normalität von morgen zeichnet sich langsam ab. Es bilden sich Erfahrungsketten, an die man Trendlinien anlegen kann.

Beim Thema Weblogs, dem Lieblingsthema der 2.0-Rezeption hierzulande, lässt sich der Perspektivenwechsel gut nachverfolgen. Sie haben den Status eines sphärenhaften Versprechens auf eine bessere Online-Öffentlichkeit hinter sich gelassen und sind in der mitunter unwirtlichen Realität der Online-Aufmerksamkeitsökonomie angekommen. Man trifft jetzt häufiger Menschen, die bei Weblogs nicht mehr in Möglichkeitsrhetorik verfallen, sondern auch über die Schattenseiten sprechen: Von Enttäuschung über den weiter eher verhaltenen Zuspruch für dieses Format hierzulande ist die Rede, von ausgebrannten Bloggern und der Sorge um Überfragmentierung. Betrachtet man häufiger die Abrufzahlen bei Blogscout.de verfestigt sich der Eindruck, dass die Zahl und die Leserschaft der in Deutschland publizistisch ambitionierten und hier verzeichneten Blogs doch eher überschaubar ist.

Vor einem Jahr waren ähnliche Zahlen vielleicht auch schon verfügbar. Wahrgenommen hat sie damals niemand, weil es nicht zum damaligen Stand des Diskurses passte, der ohne Fundierung vom überschießenden Morgen fabulierte. Im Internet kollabieren die Sphären der Massen-, Fach-, Nischenmedien und interpersonellen Kommunikation in einem Medium. Da kann man kurzfristig schon mal die Koordinaten verlieren.

Dass die Bäume nicht so recht in den Himmel 2.0 wachsen wollen, dämmert so langsam auch der Journalismus-Industrie. Aus den Vereinigen Staaten kommt die Kunde von einer "neuen Ära der schrumpfenden Ambitionen" des professionellen Journalismus. In der hochrangigen Studie "State of the Newsmedia" stehen allen Ernstes die verstörenden Worte: "Journalismus wird ein kleinerer Teil des Informationsalltags der Menschen." Mit anderen Worten: Die Nutzer setzen das Internet zunehmend auch dafür sein, Journalismus auszuweichen. Sie informieren sich online effektiver, selektiver, aber eben auch: kürzer. Sie nutzen die neue Breite des Internets, um Inhalte zu goutieren, die nichts mit professionellem Journalismus zu tun haben.

Auch Anzeigenkunden seien, so die Studie, auf journalistische Vehikel nicht mehr so sehr angewiesen wie früher, erst recht nicht im Internet. Während die Nutzung klassischer Nachrichtenmedien in den USA rückläufig ist, stagniert die Nutzung von Online-Nahrichten allenfalls. Befreit von allen analogen Fesseln, wendet sich das Publikum nun teilweise vom Journalismus ab. Rückblickend erweist sich Journalismus auch als Medieninhalt, der genutzt wurde, weil gerade nichts Passenderes angeboten wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die jüngsten Relaunches von Welt.de, Sueddeutsche.de oder Focus.de umso ambitionierter. Allerdings bieten die runderneuerten Sites wenig, was die hierzulande noch nicht eingestandene Aufmerksamkeitskrise des Journalismus überzeugend überwinden könnte. Man wird das Gefühl nicht los, vor allem mehr vom Gleichen geboten zu bekommen. Typisch dafür erscheint, dass jetzt auch Welt.de langweilige Kurznachrichtenschauen produziert - als ob es die nicht schon an genügend Stellen im Netz gäbe. Eine Suche nach dem überzeugenden Unterschied ist da eher schon bei Sueddeutsche.de zu erkennen, wenn sie ihre Kommentatoren vor der Kamera befragt.

So recht mag mich die neue Betriebsamkeit der Nachrichtensites aber nicht in ihren Bann zu ziehen. Den meisten Nutzern geht das offenbar ähnlich, denn ein deutlich gesteigerter Nutzerzuspruch ist seit den Relaunches noch nicht zu erkennen. Das Problem bleibt: Man informiert sich auf diesen Seiten eher kurz und selektiv. Um die Nutzung nach oben zu treiben, werden möglichst viele Inhalte produziert und auf der Einstiegsseite präsentiert. Ein forciertes Aktualitätsverständnis wird zum allübergreifenden Ordnungsprinzip. Um den ruhelosen Leser zu halten, wird die Reizumschlagsgeschwindigkeit gesteigert. Am Ende steht ein Produkt, das möglicherweise weder Produzenten noch Leser wirklich überzeugt.

Dass die Nutzung von journalistischen Online-Formaten, wie die USA zeigen, so langsam an Grenzen stoßen, zeigt neben der Stärke der klassischen Medien auch erhebliche Beharrungs- und Selbststeuerungstendenzen auf Seiten der Nutzer. Sie verfügen über ein beachtliches Zielsystem aus Wünschen, Normen und kognitiven Begrenzungen, das ihnen die Navigation durchs Netz erleichtert. Die digitale Technik schafft strukturell einen gigantischen Möglichkeitsüberschuss, aber der Nutzer fühlt sich im digitalen Teich dennoch recht wohl und befindet sich zumeist auf einem freudigen informationellen Ego-Shooter. Der Nutzer stellt die Endlichkeit seiner Informationswelt einfach selbst her. Dafür schafft er sich Institutionen, Routinen, Mediennutzungskulturen.

Dieser Mechanismus stellt zunehmend die entscheidende Grenze für die Ausbreitung neuer digitaler Medientechniken dar - und rückt daher ins Zentrum der Beachtung. Der Baseler Philosoph Byung-Chul Han (Bücher) und der ZDF-Intendant Markus Schächter benutzten kürzlich dafür beachtlicherweise den gleichen, zunächst etwas strukturkonservativ klingenden Terminus: "anthropologische Konstanten". Die 2.0-Betriebsamkeit findet nach dieser Denkart ihre Grenzen dann auch in diesen anthropologischen Konstanten. Der Mensch mit seinen - wie auch immer herausgebildeten - Wunsch- und Kognitionsstrukturen bildet die Grenze neuer Digitalformate. Diese Konstruktion mag ein wenig romantisch entrückt wirken. Als Denkmodell hilft sie aber, nicht alles für möglich zu halten, weniger infrage zu stellen und sich dabei ein wenig menschelnd zu fühlen.