Lothar Müller

Freuds Dinge

Der Diwan, die Apollokerzen & die Seele im technischen Zeitalter
Cover: Freuds Dinge
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019
ISBN 9783847704102
Gebunden, 420 Seiten, 42,00 EUR

Klappentext

Vom Unterbewusstsein an die Oberfläche der Dingwelt: Der Vater der Psychoanalyse und seine Traumdeutung im Spiegel ihrer Gegenstände Wer sich in die Fallgeschichten Sigmund Freuds vertieft, der versteht: Das nebenher Gesagte, das belanglose Detail ist das Entscheidende. Da taucht zum Beispiel die "Apollokerze" auf, das Erfolgsprodukt der Wiener "Apollogesellschaft", die in dem im Jahr 1839 bankrottgegangenen Etablissement "Apollosäle" ihren Firmensitz hatte: industriell gefertigte Stearin-Kerzen, die reißenden Absatz fanden, weil ihr Docht nicht nachgeschnitten werden musste. Die Lexika belegen es: Diese Apollokerzen wurden zum Synonym für Stearin-Kerzen. Und: Sie bevölkern das Unbewusste unbescholtener Fräuleins, kommen auf Freuds Couch zur Sprache.
Die Psychoanalyse ist eine archäologische Unternehmung, sie gräbt im Unbewussten, im Verborgenen nach Scherben und Fragmenten. Aber sie gräbt nicht Rom aus, sondern die Gegenwart. Die Apollokerzen gingen aus der Einwanderung der antiken Götter und Heroen in den bürgerlichen Alltag hervor. Kein Telegrafenamt ohne Atlas mit der Weltkugel, keine Glühbirnen ohne Lichtgötter, kein Transportunternehmen ohne Merkur, kein Kaminsims ohne Venus von Medici. Die frühe Psychoanalyse folgt dem Gesetz, nach dem die Kerzenfabrikanten, die Vergnügungsbranche oder die Industrie ihre Waren benennen. Und wie die Apollokerzen in der Dingwelt kursierte der "Ödipuskomplex" bald in der Alltagssprache.
Das Unbewusste von Freuds Patienten war bevölkert mit den Requisiten des bürgerlichen Alltags und Interieurs. In ihren Träumen und Fehlhandlungen regiert die "Tücke des Objekts", die damals sprichwörtlich wurde. So sind Freuds Schriften nicht nur eine Aufdeckung des Verdrängten oder Verdichteten, der Lektüre im Unbewussten, sondern zugleich ein Kompendium der Dingwelt des 19. Jahrhunderts, vom Regenschirm bis zu den Schreibgeräten. Das Unheimliche und das Harmlose begegnen sich an dieser Schnittstelle. Lothar Müller blättert das Kompendium auf: von A bis Z.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.05.2019

Rezensentin Marlen Hobrack lernt bei Lothar Müller die doppelte Bedeutung von Freuds Dingen kennen. Wie Zigarre, Couch und Lustpumpe einerseits symbolisch in Freuds Fallgeschichten und Schriften, andererseits als konkrete Alltagsdinge wirkten, vermag der Literaturwissenschaftler Müller der Rezensentin auseinanderzusetzen. Dass diese Dinge eine "Allgemeingeschichte" einer Epoche erzählen, kann Müller dem Leser laut Hobrack gut vermitteln.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 30.03.2019

Eckart Goebel zeigt sich berückt von Lothar Müllers Analyse von Freuds Alltagsobjekten. Die Symbolik der Dinge durchdringt Müller mit seinem reich illustrierten Buch und gibt ihnen ihr dinghaftes Eigenrecht zurück, erklärt Goebel das Vorgehen des Autors. Die Sorgfalt bei der Rekonstruktion herkunftsgeschichtlicher Details, die laut Goebel immer auch psychoanalytische Propädeutik leistet, etwa des Telefons, der Bücher und Schriften in Freuds Wartezimmer oder des Diwans, scheint dem Rezensenten bemerkenswert. Was Goebel beim Lesen einleuchtet: Die Geschichtlichkeit der Dinge, des Unbewussten und aller Theorie. Angeregt fühlt er sich ferner zum Nachdenken über die "psychische Valenz" uns aktuell umgebender Dinge und Systeme und also über die Seele heute.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2019

Wissenschaftshistoriker Michael Hagner lobt dieses Buch des SZ-Literaturkritikers Lothar Müller in den höchsten Tönen: Gelehrt, "elegant", assoziations- und beobachtungsreich führe Müller in Freuds Lebenswelt ein und klopft dabei dessen Besitz von wertvollen Antiken, technischen Apparaturen und "billigen Nippes" auf Obsessionen und Pathologien, kurz: die Psychoanalyse, ab, so der Kritiker. Verbindungen zwischen "bürgerlichem und seelischem Interieur" kann ihm der Autor deutlich vor Augen führen, vor allem mit Blick auf die Antikensammlung, die Freud, ganz Kind seiner Zeit, weniger als Symbol klassischer Bildung denn als Alltagsgegenstände wertschätzte, informiert Hagner. Wie präzise Müller auch Freuds Schriften auf die beschriebenen Dinge hin analysiert, hat den Rezensenten tief beeindruckt.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 08.03.2019

Dies ist ein Buch voller Anregungen über das Denken der Psychoanalyse und überhaupt über das Theoretisieren und über Analogiebildungen, die sich natürlich immer auf die konkrete Umgebung von Autoren beziehen, schreibt Rezensent Matthias Greffrath. Es sind einerseits damals allerneuste technische Geräte wie das Telefon, die in Freuds Beschreibungen der Seelenmechanik eingehen, aber andererseits auch Bildungsgut wie etwa Freuds Sammlung antiker Statuetten, die auf seine klassische Bildung hinweisen: Auch dies ist bekanntlich - man denke nur an den Ödipus-Komplex - für die Psychoanalyse entscheidend. Und das antike Bildungsgut half überdies Freuds "Drekkologie" (so eine Briefstelle bei Freud selbst) gelehrsam zu tunen. Greffrath ist von diesem instruktiven und schön gestalteten Buch sehr angetan.