Efeu - Die Kulturrundschau

Dezenter fast als befürchtet

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17.06.2014. Die Komische Oper Berlin hat Bernd Alois Zimmrmanns "Soldaten" gestemmt. Die Kritik ist beeindruckt, streitet sich aber über das Ausmaß der Gewalt  in der Regie Calixto Bieitos. In der taz verabschiedet der kubanische Autor Leonardo Padura Che Guevaras "neuen Menschen". Die New Republic präsentiert Porträts prorussischer Separatisten, die der Fotograf Max Avdeev im Donezk-Gebiet aufgenommen hat. Und die Welt staunt über Lana del Reys funky Schlagzeuger aus München.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.06.2014 finden Sie hier

Bühne


(Foto: Monika Rittershaus, Website der Komischen Oper)

Die Komische Oper Berlin zeigt Calixto Bieitos Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns hinsichtlich Bühne und Musik legendär anspruchsvolle "Soldaten" - und die anwesende Kritik staunt darüber, mit welcher Verausgabung insbesondere seitens der in Uniform aufspielenden 120 Musiker das Stück auf die Bühne gebracht wurde. Nur die Leistung des Regisseurs findet nicht ganz so viel Gnade: "Warum nur verfolgt man dieses Elend, ohne emotional durchgeschüttelt zu werden? Liegt es an Calixto Bieitos routinierter Regie?", fragt sich etwa Frederik Hanssen im Tagesspiegel und schreibt weiter: "Seine Soldaten verhalten sich so viehisch, wie es zu erwarten war, wer nicht im kollektiven Stumpfsinn aufgeht, darum kämpft, Individuum bleiben zu können, krümmt sich früher oder später am Boden. Sehr parabelhaft wirkt das, ausgestellt, vorgeführt wie im Epischen Erziehungstheater."

Niklaus Hablützel schreibt in der taz vor allem an den Anfordernissen und Anstrengungen dieses Abends entlang und freut sich über jede gemeisterte Herausforderung. Nur Bieitos berüchtigte Lust an Blut und Gräuel war ihm am Ende selbst zu anstrengend: Die Aufführung "verdient jeden Applaus der Welt, wenn da nur nicht Calixto Bieito wäre, der "Meister der Gewalt". Zimmermann verdiente einen Meister des Zuhörens." Peter Uehling von der Berliner Zeitung ist eher Härteres gewohnt. Er schreibt: "Bieito reagiert auf das Ausmaß der Gewalt in diesem Stück dezenter fast als befürchtet. Dass jemand zum Vergnügen ausgepeitscht oder eine Frau bis auf die Wäsche ausgezogen und mit Blut übergossen wird, geschieht in seinen Arbeiten auch bei geringerem Anlass. ... Bieito arrangiert auf der kahlen Vorderbühne ein übersichtliches und schlüssiges Spiel." Und er schließt mit wärmster Empfehlung: "Pflichttermin!"

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel befürwortet Patrick Wildermann das neue Konzept der Langen Nacht der Berliner Autoren, die in diesem Jahr keine Premieren, sondern ein von Till Briegleb kuratiertes Programm aus Stücken früherer Jahrgänge präsentiert: Die meisten Stücke - insbesondere Rolf Kemnitzers "Die Herzschrittmacherin" - sind eine Wiederaufführung wert. Für die Nachtkritik führt Eva Biringer durch das Programm. Für die taz war Alexander Kohlmann beim Theaterforum Braunschweig. MS Schrittmacher würdigt die Tänzerin Anita Berber in den kommenden Tagen mit einer Hommage im Kunstquartier Bethanien, berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel.

Besprochen werden die von Samuel Finzi und Wolfram Koch trotz des Todes ihres eigentlich vorgesehenen Regisseurs Dimiter Gottscheff in Recklinghausen aufgeführte Inszenierung von Becketts "Warten auf Godot" (SZ, nachtkritik.de) und Lily Sykes im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst aufgeführte Bühnenadaption von Julian Barnes" Roman "Vom Ende einer Geschichte" (FAZ). Stefan Musil schaut zurück auf die Wiener Festwochen, die bei ihm im Wesentlichen wenig aufregende Erinnerungen an Fabrizios Cassols Oper "Coup Fatal" und seine zu E-Gitarren- Sounds von Händel und Gluck tanzenden "modeaffinen Dandys" hinterlassen. (Welt)
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Film

Lars Weisbrod berichtet in der Zeit von seinem Treffen in Paris mit Nic Pizzolatto, dem Showrunner der neuen HBO-Kultserie "True Detective". Dass sich der Autor mit der zynisch-pessimistischen Figur Cohle "selbst ein Denkmal gesetzt hat", lässt Weisbrod dabei sanft frösteln: "Einmal unterbricht Pizzolatto sich selbst und ermahnt sich: Er sei gerade ausschweifend gewesen, er müsse sich jetzt konzentrieren, vor dem Morgengrauen sei er nicht ins Bett gekommen. Das Animalische aus seinen Figuren, das habe er auch. Und was ihn dazu treibe, Kunst zu machen, das könne sich auch in Selbstzerstörung äußern."

Besprochen wird Steven Knights einzig in einem Auto spielender "No Turning Back" (von einem "Glücksfall fürs Kino" schwärmt Maurice Lahde von critic.de, "brillant geschrieben und inszeniert", konstatiert Tobias Kniebe in der SZ).
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Literatur

Für die taz hat sich Knut Henkel mit dem kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura unter anderem über die Rolle des Kriminalromans in Kuba und die allgemeine soziale Situation vor Ort unterhalten. Che Guevaras "neuem Menschen" sagt er leise Adieu: "Die kubanische Realität hat den Traum vom "neuen Menschen" niedergewalzt. Ein beachtlicher Teil der kubanischen Jugend träumt davon zu emigrieren, um so die eigenen Probleme zu lösen. Sie glauben nicht an kollektive Lösungen, und aus dieser Perspektive hat es wenig Sinn, über den "neuen Menschen" zu sprechen."

Weitere Artikel: In Weimar hat sich eine Tagung mit Arno Schmidts Versuchen, die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts mittels amüsanter Radioessays umzuschreiben, befasst, berichtet Jan Wiele in der FAZ. Im Tagesspiegel gratuliert Gerrit Bartels Joachim Lottmann dazu, mit seinem Roman "Endlich Kokain" endlich in den Rang eines Erfolgsschriftstellers aufgestiegen zu sein.
Roman Bucheli reist in der NZZ mit Urs Mannharts Roman "Bergsteigen im Flachland" durch menschliche Abgründe und erlebt wahre Höhenflüge. Heinz Schlaffer freut sich diebisch über die unter dem Titel "Heine und die Folgen" erschienenen boshaften Verrisse von Karl Kraus.

Besprochen werden Peter Sloterdijks "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" (Tagesspiegel), Christian Niemeyers Studie über Verflechtungen zwischen Wandervögeln und Hitlerjugend (taz), Ernst Jüngers "Atlantische Fahrt" (Zeit), Alexander Schimmelbuschs "Die Murau Identität" (FAZ), Amos Kolleks Autobiografie (Tagesspiegel), Colum McCanns "Transatlantik" (SZ), David Albaharis "Kontrollpunkt" (Tagesspiegel) und Yves Bonnefoys "Die lange Ankerkette" (NZZ).
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Musik

Doris Akrap stellt in der taz die Musik des Soulpunk- und Gospelrock-Pioniers Ian Svenonius und seiner aktuellen Band Chain & The Gang vor: "Seit 25 Jahren haucht und schreit [er sich] die Zumutungen der kapitalistischen Welt aus dem Leib. Es sind aber weniger Klageschreie als Laute des Begehrens und Verzehrens, der unstillbaren Sehnsucht nach anderen, nach unerreichbaren Zuständen, politischen wie seelischen. Ostentative Theatralik gepaart mit todernst gemeinter Mission: Man muss diesen exzentrischen Dandy live gesehen haben, um zu wissen, wie das aussieht." Das aktuelle Video ist hübsch trashig geraten:



Im Tagesspiegel berichten Sybill Mahlke und Carsten Niemann vom Auftakt der beiden Klassikfestivals "Infektion" in Berlin und der Musikfestspiele in Potsdam.

Für die Welt besucht Jonathan Fischer die Brüder Max und Jan Weissenfeldt - Schlagzeuger bei Lana del Rey und Arrangeur von Ebo Tylor - und staunt nicht schlecht, dass das weltweite Funk-Revival in München begonnen hat:"Ausgerechnet aus München! Diesem Sonnenbrillen-und-Bionade-Dorf! Die Weissenfeldt-Brüder aber wissen seit Langem: dass der Funk nicht nur eine Hölle von einem Rhythmus ist, sondern auch eine Insel der Verschrobenen und Außenseiter, ein Zufluchtsort der Mutanten und Quergänger des Pop - und deshalb unabhängig von Hautfarbe und Sozialisation an den unwahrscheinlichsten Orten gedeiht."

Besprochen werden eine Box mit Aufnahmen von Christoph Willibald Gluck (Tagesspiegel), das neue Album "Deep Fantasy" von White Lung (Tagesspiegel) und das neue Album von Nightmares on Wax (FR).
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Kunst

Die New Republic bringt eine faszinierende Fotostrecke des russischen Fotografen Max Avdeev, der prorussische Separatisten im Donezk-Gebiet porträtiert hat. "Die Einheimischen weigerten sich meist, ohne Masken fotografiert zu werden. "Wir müssen hier leben", sagten sie Avdeev, "wir haben alle Verwandte hier." Viele der Männer, die sich ohne Masken fotografieren ließen, waren Osseten. "Sie seien im April mit einer humanitären Aktion gekommen, und die Einheimischen hätten sie gebeten zu bleiben und zu kämpfen.""

Weitere Artikel: Anna Pataczek besucht für den Tagesspiegel den Künstler Tomás Saraceno in seinem Atelier, wo dieser zahlreiche Spinnen komplexe Kuppelkonstruktionen, "die sich Architekten in ihrer geschwungenen Kühnheit kaum zu erdenken wagen, freischwebende Statiken, die mit so wenigen Seidenfäden gesponnen wurden wie möglich," weben lässt. Jordan Mejias (FAZ) fühlt sich schon in den ersten, prall gefüllten Räumen der großen New Yorker Sigmar-Polke-Schau im MoMA gründlich überfordert. Dankwart Guratzsch hat sich für die Welt in die Schlange vor einem ehemaligen DDR-Kaufhaus gestellt um die dortige Neueröffnung des Staalichen Museums für Archäologie in Chemnitz mitzuerleben. Sein Fazit: Architektonisch und kuratorisch gleichermaßen vielversprechend.

Besprochen werden die Ausstellung "Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft" in Doberlug-Kirchhain (SZ) und die Ausstellung "Comics Unmasked - Art and Anarchy in the UK" in der British Library (FAZ).
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