Efeu - Die Kulturrundschau

Ein gewisser Way of Life

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2024. Die FAZ begegnet in einer Ausstellung in Stuttgart typischen Vertretern der Weimarer Republik und fühlt die Zerrissenheit der modernen Frau. Außerdem blickt sie skeptisch auf die französischen Solidaritätsbekundungen für Gérard Depardieu. Andreas Spechtl will mit dem neuen Album seiner Band "Ja, Panik" die Klassenfrage zurück in den Pop tragen, erzählt er der FR. Und die Popkritiker trauern um Torsun Burkhardt, der mit seiner Band Egotronic der antideutschen Linken das Feiern beigebracht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2024 finden Sie hier

Kunst

Rudolf Schlichter: Hausvogteiplatz, um 1926. Sammlung Christina und Volker Huber, Offenbach am Main. © Viola Roehr von Alvensleben, München. 

"Ästhetisch ein Genuss", lautet die Meinung von FAZ-Kritikerin Katinka Fischer über die Ausstellung "Sieh Dir die Menschen an", die gerade im Kunstmuseum Stuttgart stattfindet. Inhaltlich sind die neusachlichen Typenporträts aus der Weimarer Zeit aber eine durchaus ambivalente Angelegenheit, meint Fischer. So wird unter anderem der Zwiespalt deutlich, in dem sich die Frauen der Zeit befanden: "Zwar durften die Frauen der Weimarer Republik nun öffentlich trinken, rauchen, Hosen tragen und ihre Bubiköpfe auf bis eine dahin den Männern vorbehaltene Haarlänge bringen. Sogar wählen ließ man sie. Trotzdem waren sie zerrissen zwischen gelebter Moderne und überwunden geglaubten Geschlechterrollen. Dass jedenfalls Hanna Nagel diese leidvolle Erfahrung machen musste, dokumentiert ein Selbstbildnis von 1929. Es zeigt die Künstlerin als bekümmert dreinblickende junge Mutter mit zweckmäßiger Kleidung und ebensolcher Frisur. Ihre molligen Arme legt sie schützend um ein Embryo, das sich rätselhafterweise außerhalb ihres Körpers in einem transparenten Zylinder befindet. Ihre Geschlechtsgenossinnen, die sich zahlreich hinter ihr aufgereiht haben und alle die stilbildende Unabhängigkeit und Extravaganz der sogenannten Neuen Frau verkörpern, geben ein ganz anderes Bild ab."

In der Welt ist Alan Posener genervt davon, wie die Kuratoren der Ausstellung "Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit" in der Hamburger Kunsthalle den Besuchern ihre Interpretation der Werke aufdrängen wollen: "Friedrichs Gemälde 'Das Eismeer' etwa zeigt riesige Eisschollen, die ein Schiff zerquetscht haben. Das Bild ist Symbol für den Winter der Restauration, in der die Hoffnungen der Revolution zerdrückt wurden. In einem anderen Bild Friedrichs mit dem gleichen Thema trägt das Schiff sogar den Namen 'Hoffnung'. In Hamburg aber wird das Werk 'angesichts der Klimakrise', wie Kunsthallendirektor Alexander Klar schreibt, zum Sinnbild der 'Zerbrechlichkeit und der Gewalt der Natur' verfälscht."

Besprochen werden die Ausstellung "African Studies" mit Werken des Fotografen Edward Burtynsky in der Galerie Springer in Berlin (taz) und im Vergleich die Ausstellung "Herlinde Koelbl: Metamorphosen" im Grassi-Museum für Angewandte Kunst und die Ausstellung "Evelyn Richter: Ein Fotografinnenleben" im Museum der bildenden Künste, beide in Leipzig (tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Wie kann es mit dem klassischen Ballett weitergehen, fragt Wiebke Hüster in der FAZ: "Das Problem, eine auf den Schönheiten antiker Statuen beruhende Bewegungskunst als eine gegenwärtige zu manifestieren, ist ungelöst. Die Frage nach dem Selbstverständnis des Balletts und seiner Bedeutung für das Publikum stellt sich drängender denn je. Ist der klassische Tanz an sein Ende gekommen? Sind in dieser Sprache keine Stoffe verhandelbar, die später als im neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurden?" Inspiration für Modernisierung findet Hüster bei den Choreografen Alexei Ratmansky, George Balanchine und John Cranko.

Weiteres: Alexander Menden porträtiert in der SZ die Intendantin des Theaters Oberhausen Kathrin Mädler.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung der Strauß-Oper "Die Fledermaus" an der Staatsoper München (Welt) und die szenische Lesung "All the Sex I've ever had" im Zürcher Theater Neumarkt, inszeniert von der kanadischen Theatergruppe "Mammalian Diving Reflex" in dramatischer Bearbeitung von Tine Milz und Eneas Nikolai Prawdzic (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Die NZZ bringt die letzte Lieferung von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Alexander Kluy empfiehlt im Standard zehn Bücher, mit denen man sich für 2024 wappnen kann - hier versuchen wir bei Eichendorff21 Ähnliches. Amira Ben Saoud hat für den Standard aufgeschrieben, welche Bücher österreichische Autorinnen und Autoren 2023 am liebsten gelesen haben. Matthias Heine rät in der Welt dazu, Klopstock zu lesen, der vor 300 Jahren geboren wurde. Lars von Törne resümiert das Comicjahr 2023 anhand der meistgelesenen Tagesspiegel-Artikel. Außerdem bringt die Welt die besten Sachbücher des Monats - auf der Nummer 1: "Verabredungen mit Dichtern" von Michael Krüger.

Besprochen werden unter anderem neue Lyrik von Jan Wagner und Franz Josef Czernin (Standard), Klaus Siblewskis Biografie über den Schriftsteller Peter Härtling (FR), Adalbert Stifters "Briefe bis 1848" (online nachgereicht von der FAZ), Romane von Andrea Giovene (SZ) und neue Krimis, darunter Joe Wilkins' "Der Stein fällt, wenn ich sterbe" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Kerstin Beckers "Erwacht":

"tanzen gezackte heiße
gleißend weiße Kreise
unter unseren Lidern ..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Gerasimow, Sergei

Film

Niklas Bender zeichnet in der FAZ die Debatte um Gérard Depardieu nach, dem #MeToo-Vorwürfe gemacht werden. Prominente hatten einen Aufruf pro Depardieu unterschreiben, der auf der Unschuldsvermutung beharrt. Nun stellt sich heraus, dass der Verfasser des Aufrufs, der bislang wenig bekannte Schauspieler Yannis Ezziadi, offenbar dem Rechtsextremismus nahe steht: "Ezziadi vertritt eine bestimmte Idee abendländischer Männlichkeit. Nicht allen Unterzeichnern war das klar - Attal und Bouquet haben sich rasch distanziert. Freitag erschien auf Mediapart eine Gegentribüne, die in zwei Tagen 8.000 Unterschriften erhielt; sie will das Schweigen gegenüber Gewalttätern beenden."

Außerdem: In der taz spricht die Filmhistorikerin Erika Wottrich über die Filme von Peter Weir, die das Hamburger Metropoliskino derzeit zeigt. Jörg Taszman resümiert im Filmdienst das Kinojahr 2023. Bert Rebhandl schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schauspieler Tom Wilkinson.

Besprochen werden Josef Schnelles Buch "Der unsichtbare Dritte. Hitchcock und der deutsche Film" (FD, auf Grundlage derselben Gespräche hat der Autor auch diese "Lange Nacht" für Dlf Kultur produziert), Emmanuel Marres und Julie Lecoustres auf Mubi gezeigte Kapitalismuskritik "Zero Fucks Given" (Tsp), Niklas Maaks und Leanne Shaptons Buch "Eine Frau und ein Mann" über Strecken, die Filmpaare gemeinsam gefahren sind (Tsp), das neue, auf Netflix gezeigte Comedy-Special von Ricky Gervais (Standard), die Serie "The Winter King" über die Artus-Sage (FAZ) und die von der ARD online gestellte Serie "Powerplay - Smart Girls Go For President" (taz).
Archiv: Film

Musik

Für die FR spricht Max Dax mit Andreas Spechtl, dessen Jahr in Buenos Aires - inklusive ausgedehnter Autofahrten ins Landesinnere Argentiniens - das neue Album "Don't Play with the Rich Kids" seiner Band Ja Panik stark geprägt hat: Mit dem Albumtitel will er "die Klassenfrage in die Popmusik und in die Kunst generell zurückzubringen. Schließlich lautet die Frage auch: Wer kann eigentlich heutzutage noch Kunst machen? Wer kann es sich heute noch leisten, Punkrocker zu sein? Mir ist in Argentinien aufgegangen, in was für einer Gesellschaft der Absicherungen ich groß geworden bin und wie sehr ich mir die Attitüde des allgemeinen Dagegen-Seins wohl auch habe leisten können, wenn man sich die Lebensrealität anderswo anschaut. In Argentinien kam mir die Idee, dieses Erbe einmal anders anders zu begreifen, 'Ja, Panik' als proletarische Band zu positionieren. Darum geht es in dem Song 'Mama Made This Boy'. Es geht um einen gewissen Way of Life und eine gewisse Fuck-you-Haltung und darum, wie ich mit einem tief in mir verwurzelten Bewusstsein umgehe." Ein Video aus dem neuen Album:



Torsun Burkhardt, Sänger der Band Egotronic und Mitbegründer der Initiative "Artists against Antisemitism", ist seinem Krebsleiden erlegen. Mit seinem hedonistischen, aus dem Geist des HardcorePunk gehobenen Ravepunk erschloss er in den Nullerjahren der antideutschen Linken eine neue Ausdrucks- und Partyform, schreibt Ulrich Gutmair in der taz: "Diese Energie war vorher nicht dagewesen." Burkhardts "Texte handelten von ihm selber, seinen Beziehungen zur Welt, radikal ehrlich und verletzlich. Sie formulierten eine Kritik an der deutschen Mehrheitsgesellschaft, also der sogenannten Mitte, und an der Linken. ... Erfolgreich wurden Egotronic aber, weil sie nicht nur gewitzt Kritik übten, sondern das Leben feierten. Die Revolution war fürs Erste nicht zu erwarten, aber man konnte gemeinsam tanzen, singen, sich verausgaben, durchdrehen, psychedelische Pilze schlucken und sich beim Arzt einen gelben Schein holen, um sich der Lohnarbeit zu entziehen." Linus Volkmann erinnert sich im Kaput Mag an viele gemeinsame Stunden auf Lesereisen und an einen begeisterten wie begeisternden Kämpfer für das Gute und Schöne. "Mir gefällt die Vorstellung, dass sich in dieser Musik auch ganz viel von Torsuns Wesen, von seinen Ideen und Visionen verpackt findet. Zusammen mit der Erinnerung an diesen liebenswerten Typen ist das doch schon mal eine ganze Menge. Vorrat für schlechte Zeiten. Mensch, ich liebe Dich, Torsun." Die Podcasts Und dann kam Punk und Reflektor (zweigeteilt, hier und dort) haben im letzten Jahr große Gespräche mit Burkhardt geführt.



Im SZ-Gespräch spricht sich der Pianist Evgeny Kissin trotz seiner glühenden Unterstützung für die Ukraine gegen einen generellen Boykott russischer Musik aus: Dies sei "grundsätzlich falsch. ... Es ist ein Unterschied, ob ein Musiker keine russischen Werke spielen will oder ob man einen generellen Boykott ausruft. Das würde zudem nur Putin in die Hände spielen. ... Selbst Stalin hat Beethoven und die deutsche Musik nicht verboten, als Hitler die Sowjetunion angriff. Aber ich verstehe die Menschen, die derzeit keine russische Musik spielen wollen."

Außerdem: Jens Uthoff streift für die taz durch die Musikszene in Vilnius und stößt dabei auf "eine Stadt des Ausprobierens und Austüftelns", die sich aus der Ferne auch via Radio Vilnius entdecken lässt. Peter Richter ist auf der Medienseite der SZ hin und weg vom Programm des (gottlob via Livestream auch in Deutschland hörbaren) US-Radiosenders WMFU, der sein Publikum immer wieder mit Experimenten und Waghalsigem überrascht. Riccardo Muti wird das nächste Wiener Neujahrskonzert dirigieren, meldet der Standard. Die Agenturen melden, dass der Jazzmusiker Les Mccann gestorben ist - erst vor kurzem hatte ihn Andrian Kreye in der SZ gewürdigt (unser Resümee). In der FAZ gratuliert Max Nyffeler dem Komponisten Péter Eötvös zum 80. Geburtstag. Besprochen wird das von Christian Thielemann dirigierte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker (Standard, SZ, hier in der ZDF Mediathek).
Archiv: Musik