Vom Nachttisch geräumt

Massenmord im Data Design

Von Arno Widmann
16.07.2019. Ein Buch, das man immer wieder hervorziehen und konsultieren kann: "Den Zweiten Weltkrieg verstehen" in Infografiken.
"Den Zweiten Weltkrieg verstehen" heißt das Buch. "Weltkrieg" ist im Titel rot hervorgehoben. Dabei spielt die Welt eher eine Nebenrolle in dem Band. Asien hat hier auf wenigen Seiten einen Auftritt. So nimmt der Krieg im Pazifik gerade mal vier Seiten ein. Etwas, das zu unserem Bild vom Zweiten Weltkrieg gehört wie wenig sonst, wird auf acht Seiten der 187 abgehandelt: Konzentrationslager und Judenvernichtung. Wie will man so den 2. Weltkrieg verstehen? Die Gewichtung ist problematisch. Aber natürlich stellt sich die Aufgabe für eine Darstellung der Jahre 1939 bis 1945 in Infografiken deutlich anders als für ein herkömmliches Geschichtsbuch. Eine Infografik ist angewiesen auf das Zahlenmaterial. Auf seine Menge und auf seine Validität. Man kann mit diesen 187 Seiten mit ihren wahrscheinlich mehr als 1000 Aufstellungen und Tabellen Monate verbringen.

Das Buch beginnt mit einer Doppelseite "Die Niederlage der Demokratie in Europa". Auf ihr sind ein kurzer Text, eine Karte und acht Tabellen. 1920 waren 71 Prozent der Regierungen Europas durch freie Wahlen in ihre Ämter gekommen. 1938 waren es nur noch 38 Prozent. In einem Drittel der Länder Europas lebten 1936 mehr als 48 Prozent von der Landwirtschaft und über ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung waren Analphabeten. Starke faschistische Parteien gab es Mitte der dreißiger Jahre in 21 europäischen Ländern, starke kommunistische nur in fünf. So wenig Wert die Kommunisten auch auf Demokratie legen mochten, die Hauptgefahr für diese kam ganz deutlich von rechts.

Zahlen zur Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg


Ein paar Zahlen zur Vernichtung Polens durch die vereinten Anstrengungen des nationalsozialistischen Deutschland und der UdSSR: 1 500 000 deutsche Soldaten marschieren, unterstützt von 50 000 Slowaken, mit 3600 Panzern in Polen ein. Die Sowjetunion ist mit 466 000 Mann und 1000 Panzern dabei. Bei der Gelegenheit sehen die deutschen Truppen, in welch miserablem Zustand die sowjetischen Streitkräfte sich befinden. Die Deutschen bringen 50 000 Polen um und deportieren 400 000 Männer und Frauen. Die sowjetischen Streitkräfte ermorden 25 000 und deportieren 1 250 000 Polen und Polinnen. Nicht mitgezählt sind hier die 50 000 polnischen Juden, die vor dem Juni 1941 an Hunger und Krankheiten in den Ghettos starben.

Es gibt auch eine Doppelseite, die zeigt, wer alles während des Krieges mit dem Deutschen Reich kollaborierte. Die kollaborierenden Staaten entsandten wohl bis zu drei Millionen Mann zur Unterstützung der Nazi-Armee. Ganz am Ende des Buches, die wirtschaftliche Bilanz des Krieges ist bereits gezogen und auch der Neustart nach dem Krieg wurde bereits thematisiert, kommt, als gehöre es nicht zum Krieg dazu, eine Doppelseite über das Manhattan-Projekt und die Abwürfe der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Im Text dazu heißt es: "Die Bilanz der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 reicht je nach Quelle von 100 000 bis zu 250 000 Todesopfern. Damit bleiben sie, rein nach der Opferzahl, wenn auch nicht ihrem Wesen nach, im Rahmen der schlimmsten konventionellen Bombenangriffe (Hamburg 1943: 60 000 Tote, Dresden 1945: 40 000 Tote, Tokio 1945: 100 000 Tote). Es ist durchaus möglich, dass angesichts der strategischen Bombardierung Japans ihr Einfluss auf die Entscheidung, den Kampf aufzugeben, geringer ist, als man glauben würde. Dennoch leitet der Schrecken der 'Bomben' von 1945 eine neues strategisches Zeitalter des Terrors ein."

Niemand wird dieses Buch lesen. Aber man wird es - vor allem in diesem Jahr - immer wieder hervorziehen und konsultieren. Zum Beispiel die Seiten 160-161: 5 720 000 Juden wurden ermordet. Davon allein schon 3,3 Millionen Polen. Das waren etwa 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Polens. Die meisten wurden in Gaskammern und in Vergasungs-LKWs umgebracht.

Natürlich sind alle diese Zahlen zu hinterfragen. Die Bedingungen, unter denen sie erhoben oder geschätzt wurden, sind die des Krieges. Wer weiß schon, ob die UdSSR wirklich 30 Millionen Menschen Kriegsverlust hatte und China halb so viel und das Deutsche Reich (mit Österreich) 8,6 Millionen? Die Autoren gehen davon aus, dass die Verluste bei etwa 3,5 Prozent der Weltbevölkerung von 1940 lagen.

Nicolas Guillerat ist der Grafiker, der all diese Daten visualisiert hat. Er hat ein einzigartiges Buch geschaffen.

Jean Lopez, Nicolas Aubin, Vincent Bernard, Nicolas Guillerat: Den Zweiten Weltkrieg verstehen, 1939-1945 in Infografiken, dtv, 188 Seiten, 30 Euro.