Tagtigall

Dagmara Kraus

Die Lyrikkolumne.
17.08.2019. Das googlitchige lórschapelekin: Deutsche Klassiker des Nuttekaktersm
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... mîn tiutsch ist etswâ doch sô krump ...

Wolfram von Eschenbach

I. Der, die, das googlitch

Kürzlich gab ich das bei Alois Haas entdeckte (1) Kompositum "bickelwort", das als Wortneuschöpfung Gottfrieds von Straßburg und hapax legomenon seines Werkes ein "fremdes" oder "zusammengewürfeltes" Wort meint, bei Google ein. Prompt erschien ein genuines Bickel- und Würfelwort in seltsamer Zusammenstellung auf meinem Bildschirm, vergleichbar denjenigen, die Gottfried selbst in den Versen des anscheinend allzu unverständlichen Parzival-Dichters Wolfram von Eschenbach als solche moniert. Die Seite sprang mich mit einer Groteske an:



"Nuttekaktersm" ist ein automatischer Textscanlesefehler, der sich als OCR- Erkennungsproblem im Laufe der Konversion eines analogen Textes in ein Digitalisat einstellte. Willkürlich generiertes Quasi-Synonym für "Mittelalter", dessen roboterbedingte Überschreibung er darstellt, fliegt das Wort bereits seit 2012 als krumpes Perioden-Palimpsest im Netz herum. Aus einem rechnerisch unnachvollziehbaren Störmoment entstanden, ist "Nuttekaktersm" zugleich eine Art halb-surreales "Google-glitch", ein übersehenes, seitenweise kolportiertes Übersetzungsartefakt der Retrodigitalisierung.

Per Kontamination könnte man einfach "googlitch" dazu sagen. Das Adjektiv dazu lautete wohl "googlitchy" und das den Screenshot eines solchen bezeichnende Substantiv - man ahnt es bereits: zu bilden wie "Selfie" - "googlitchie". Möge es nach Léon Bollacks Vorbild (2) für das (oder "den", ich bin mir unsicher) googlitch und seine Flexionshypostasen festgelegt sein, konzernlogogemäß regengebogen zu werden, wo geschrieben. Ausgesprochen wie das Suffix "[-age]"/"[-uage]" in "language", könnte die Googlitch bzw. googlitch [ˈgu:gl̩ ɪt̬ ʃ], artikelfrei neutral und genderkorrekt, auch eine global verbabelte Weltsprache sein als Fewspeak für Freaks und Titel eines Lexikons, das sich mit diesem Eintrag und den verstreuten Definitionen des potentiellen Neologismus beginnen ließe. Googlitching juckt in den Fingern.

Der erwürfelten "Narrenrede" Gottfrieds steht das googlitch "Nuttekaktersm" jedenfalls in nichts nach. Arp- und artverwandt mit "Flarf", eignete es sich vortrefflich als Baustein einer googlitch-Poesie - Parapoesie aus digitalen Fehlern. In seiner arbiträren Obszönität verweist "Nutterkaktersm" nämlich nicht nur auf eine digitaltranslatorisch pervertierte Sprache, wie sie durch automatische Sprachumrechnungsvorgänge und den ringsum grassierenden Buchbillgnachdruck in Non-EU-Staaten in die Welt kommt. "Nuttekaktersm" klingt mit seinem hier abgerochenen - Quatsch: abgebrochen-angerochenen Ismus fast wie eine Bewegungs- oder Gattungsbezeichnung, wie ein Name für nicht weniger denn ein ganzes postlyrisches Zeitalter dichterischer Textbehandlung "ohne eigene Zutat" - hinsichtlich ihres Hauptprotagonisten Zufall seit Mallarmé oder Dada ein Traum in Sachen poetischer Wortfindung.

II. "UNGEFREUT VERROCKEN"

Digitale Poesie ist Nuttekaktersm, wo sie sich die Fehler nicht selbst programmiert, aber auf unfreiwillig entstandene zurückgreift. Echtes, gelungenes "Nuttekaktersm" muss dabei so selten sein wie ein gutes Gelegenheitsgedicht. Anstatt wänloses Mahnmal für die OCR- Bucheinlesepraktikanten zu sein, denke ich mir "Nuttekaktersm" als ready-gemachte, transtiutsche List, trotz ausgesprochener Hässlichkeit mit randomisierten Bickel-Federn ein abseitig wucherndes Blatt vom lórschapelekin zu ergattern, wo unverhofft Poesie aus googlitchies erwächst, also bickeligen, pickeligen bunten Früchtchen, die meinem Poesie-Verständnis nach als Bildpoesien fungieren könnten, herstellbar nicht durch Collage, sondern, weitaus müheloser, als Bildschirmfotos mit Titelzuschreibung.

"UNGEFREUT VERROCKEN" wäre ein solches googlitchie-Beispiel. Es kommentiert "ditz gereite [...] mit grôzer wîsheite" polyglott, um mit einer "verschamt[en]" Verbeugung vor Chlebnikow auf "scharlachen [...] erlachen" zu enden:



III. Neu-Indogermanisch

Irgendwo in Indien, wo alle sechs Doppelbände der Deutschen Classiker des Nuttekaktersm verlegt und aufwendig hergestellt werden, glaubt man an "Nuttekaktersm". Man glaubt an "Nuttekaktersm" als Deutsch. Und man glaubt an die Bedeutung eines historischen Buches, das so, doch niemand weiß dort davon, gar nicht existiert. Das explizite Bekenntnis zu diesem Buchfake als Buch klingt recht unpathetisch, aber behauptet entschieden: "We believe this work is culturally important". Ironisch wird dem Käufer versichert: "We appreciate your understanding of the imperfections".



Seit Februar 2012 wird offiziell mit den Postpfeifferschen Nuttekakclassikern als kulturell wertvollen Werken gehandelt. Sie werden ins deutschsprachige Ausland exportiert und vielleicht sogar auch vor Ort in Asien gelesen, vorausgesetzt, jemand zahlt die von Amazon India für die jeweils zwei zu einem einzigen zusammengeschlossenen Bände veranschlagten 1619 bis 2599 Rupien und lässt sie mit der unschleifbaren Keltenburg auf dem Buchumschlag für umgerechnet knappe 20-30 Euro, 17-20% Reduktion eingerechnet, nachdrucken. Die da "Nuttekaktersm" schreiben, wissen natürlich nicht, was sie da schreiben, geschweige denn, was sie bewerben. Denn sie wissen nicht, was sie lesen, wenn auf dem nachzudruckenden Cover steht: Deutsche Classiker des Nuttekaktersm. Hierzulande streut der Titel zweifellos sogleich falsche Assoziationen; dort liest sich "Nuttekaktersm" nicht anders als die Worte "Classiker" oder "Deutsche". Erstaunlich, dass die Franzosen es nicht besser wussten als die Inder. Ein Gleiches lässt sich von den Schweden sagen:



Ja selbst die Deutschen wissen es nicht besser. Dabei sollten diejenigen, die es auf "bücher.de" verkaufen, doch etwas mehr davon verstehen. Schnell wird deutlich, dass das für schlappe 41,99 Euro im Internetportal verscherbelte Werk und sein Inhalt aus Indien importiert wurden. Für mich klingt das ganz nach einem Märchen: Es war einmal urdeutsches Tiutsch. Über sieben Jahrhunderte zog es durch die Welt, bis es endlich durch Indiens Englisch kam, das seine Schionatulander und Sigune zwar um ein Googlitch reicher machte, aber zugleich alle ganz krump aussehen ließ. [...] Und so lebte es in der Indogerma- Nische noch lange vor sich hin:



Lediglich Google berichtigt - oo!, aber sieht mit seiner rotgelben Brille nuttekaktersmblind nur das C, weshalb es mir trotz Erststellenfundes die "klassiker" suggeriert:



Aber wen interessierte schon ein unwesentlicher Titelfehler! Was zählt, ist doch die Ausführung der Bindung, dass das Buch perfekt genäht wird, schließlich soll ein Classiker länger leben:



Länger lebe Tristan als Deutscher Classiker des Nuttekaktersm! Auch Titurel, jetzt Deutscher Classiker des Nuttekaktersm, lebe länger, Parzival ebenso. Hartmann von der Aue hat - für diejenigen, die es nicht glauben werden - tatsächlich auch einen Deutschen Classiker des Nuttekaktersm verfasst und ist, wie seine Dichterkollegen, aus der Reihe der Nuttekaktersmänner nicht wegzudenken. Deutsche Classiker des Nuttekaktersm ist ein Deutscher Classiker des Nuttekaktersm und der erste Googlitch-Classiker:



IV. Was geistert...

Globalisierung, lost in translation, und ihre Geister. Denn genau genommen ist "Nuttekaktersm" ein ghost in translation, ein Buchgeist, der im hiesigen Fall schon seit 1867 sein Unwesen treibt, aber erst neuerdings die Bibliotheken zu verlassen haben scheint, um lieber durch das Internet zu spuken. Dieser harmlose Wiedergänger steigt arg lädiert in das Gespensterleinen - ein Hahasver des Buchdrucks, Geist des guten Futenbergs. Zum Glück kommt Franz Pfeiffers Geist noch nicht klopfen, aber er drehte sich gewiss gern im Grabe, wo er auf den Buchcovern unterhalb von Burg oder Uhr geschrieben liegt (3), um. Denn: Ceci n'est pas un Pfeiffer



Reprint on demand entspricht wohl einer prekären, potentiell pausenlosen Geburt von Nachbüchern aus dem Geist jener Geister, der ein Fehlerteufel ist und der von der Schulter herabflüstert: "Der Inhalt dieses Buches wurde nicht verändert." Und: "You can be sure of the book title":



Pfeiffer pfeift. Aber: Habent sua fata libelli, kommt mir da in den Sinn. Manche habent eben suum Vater Diabelli, wieder andere Väterchen Diabolus, den Lügner. Asche aufs Haupt, aber wessen? Hat der Roboter, der die Gleichung Mittelalter=Nuttekaktersm einführte, überhaupt eines? Cherchez la femme, und ihr findet sie nicht, erst recht keinen Buhmann. Denn wo ist das Googlitch- Gesicht des Übeltäters, der für den Diebstahl bei Pfeiffer und für jenen unhübschen Schnitzer verantwortlich ist? • • , ı... Er ist zweierlei: 0 und 1. Also Asche auf die Nullen, Asche auf die Einsen, wo während des Schubs Pfeifferschen Füße-Libers fehlgenulleinst wurde. Der Räuber hat sich davongemacht. Aber hathi trust dem dieb, muttu aufschreiben als APA oder MLA:



Was mal so hängen bleibt. In einem Blicken zum Beispiel. Im Netz. Die recht uncarrollsche Weltgrinsekatze WorldCat kennt den Windhund "Nuttekaktersm" und hängt sich hier in sein stumpfes Gaffen:



Schionatulander wird Nuttekaktersm nicht einfangen und zurückbringen. Denn jetzt, da ich dies schreibe, hat ein google-Mitarbeiter irgendwo in der klitzekleinen Welt den Hänger vielleicht schon ausfindig gemacht und bereits getilgt. Sigune hat aber ein Talmisteinchen in der Hand behalten, als ihr die glitchglitschige Leine durch die Hände glitt.

Dagmara Kraus

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(1) Alois M. Haas, Mystische Denkbilder, Freiburg i. br., Johannes Verlag Einsiedeln, 2014, S. 636.

(2) Léon Bollack wünschte sich für seine Plansprache langue bleue oder bolak, dass man alle in ihr verfassten Texte blau schreibe. Vgl. u.a.

(3)