Tagtigall

Nur die Zutaten Trauer und Wut

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
11.03.2020. Die Republik Südafrika hat viele Sprachen. Junge Dichter.innen ergreifen das Wort: Koleka Putuma mit "Kollektive Amnesie" oder Busisiwe Malangu mit ihrem Band "Surviving loss", der noch auf eine Übersetzung ins Deutsche wartet.
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Als Nelson Mandela 1994 nach dem Ende des Apartheid-Regimes das erste Parlament eröffnete, las er das Gedicht "The Child" der (weißen) Lyrikerin Ingrid Jonker, die fast 30 Jahre zuvor verstorben war.  Abgefasst hatte Jonker die Zeilen 1960, nach dem Massaker von Sharpeville, bei dem die Staatsgewalt Proteste der schwarzen und coloured Einwohner gegen die Passgesetze massiv niedergeschlagen hatte. Unter den Opfern war auch ein Junge gewesen: "Dieses Kind ist nicht tot", so las man im Gedicht; in unserer kollektiven Erinnerung lebt es fort. Es wird die Herzen des gesamten Kontinents erobern -  "ganz ohne Pass". 

Nach 1960 versuchte man, das Ereignis totzuschweigen. Mandelas Erinnerung sollte eine neue Zeit einzuläuten. Heute, 25 Jahre später, herrscht ein anderes Schweigen und Wegsehen in der Gesellschaft, andere Gewaltverhältnisse versetzen die jungen Dichter.innen in Rage. 

"Ich will nicht sterben - weder mit erhobenen Händen noch mit breiten Beinen", ruft die Spoken-word-Dichterin Koleka Putuma in Kapstadt von der Bühne herab. Putuma ist eine "born free", also eine, die in Post-Apartheids-Zeiten heranwuchs. Ihr Vater ist Pastor in den Townships von Port Elizabeth. Als 2017 ihr Debütband "Collective Amnesia" erschien, war sie 23 Jahre alt und bereits eine kleine Berühmtheit im Land, zuallererst wegen ihrer Wut gegen die Versöhnungspolitik von Mandela und ANC: noch immer haben die Weißen das Land, klagt sie; noch immer sind die schwarzen Unterdrückten nicht zu ihrem Recht gekommen. Und die Kirche (ihr Vater) ist homophob. Die gewalttätige Xenophobie im heutigen Südafrika fehlt als Thema ebenso wie die Wirtschaftskorruption. Schließlich haben die Nichtweißen heute das Sagen, doch Armut und Kriminalität sind nicht vergangen. Neben Wut prägt eine starke Sehnsucht Putumas Rhythmen - die Sehnsucht nach Freiheit, Aufbruch und: nach körperlicher Unversehrtheit. Mit den Mitteln oraler und musikalischer Traditionen hat sie einer ganzen Generation eine Stimme gegeben. "Warum will deine Revolution immer in meiner Unterhose herumstöbern?"

Der Band "Kollektive Amnesie" wendet sich gegen das fortgesetzte Schweigen, den fortdauernden Rassismus und die unablässige Gewalt im Lande. Nora Bossong hat ihn deshalb in diesem Jahr in die Lyrikempfehlungen aufgenommen: "Putuma dichtet Zeilen zwischen queerer Lust und Levitikus 20:13, zwischen kolonialer Vergangenheit und einer Gegenwart, aus der Sauerstoffmasken fallen", lobt sie. Putumas brennendstes Thema ist die Gewalt gegen Frauen* (im Original: "womxn"), und die Unterdrückung queerer Liebe. Der erste Mann, so erklärt Putuma, dem sie sich habe verehrend unterwerfen müssen, sei ein Weißer gewesen - nämlich Jesus! Und etwas später heißt es: bei jedem Weihnachtsessen habe der Täter die Augen des Onkels gehabt, doch alle Welt habe geschwiegen: "Es ist leichter, ein Kind für eine 'Lüge' zur Rechenschaft zu ziehen als den Onkel für die Wahrheit", konstatiert sie bitter.

Zu den beeindruckendsten Texten gehört das Langgedicht "Wasser" - für das sie 2016 mit dem PEN South Africa Student Writing Prize ausgezeichnet wurde. Es handelt nicht von der Plage der Wasserunterbrechungen in den Townships, sondern prägt Bilder der Gewalt für jenen Ozean, der für die weißen Einwohner des Landes für Vergnügen und Freizeit steht: Für Schwimmen, Sonnenbaden, Windsurfen.  Putumas "wir" ist anders:

Yet every time our skin goes under,
it's as if the reeds remember that they were once chains.
And the water, restless, wishes it could spew all of the slaves and ships onto the shore,
whole as they had boarded, sailed and sunk. (1)

Das Salz des Meeres, es ist aus den Tränen ihrer Vorfahren gemacht. Doch die Weißen, "Sie machen sich lustig über uns, / weil wir uns nicht in etwas hineinwerfen können, das mitwirkte am Versuch uns auszulöschen."


Putuma liefert ein starkes Plädoyer für die Entkolonisierung der Körper und der Köpfe, ein Plädoyer dafür, alle überlieferten Gewissheiten radikal zu "verlernen", wie sie das nennt. Woher wisst ihr  eigentlich, dass die Apostel nicht queer waren und der Heilige Geist nicht transgender? - ruft sie bei Auftritten in den Saal und erobert im Sturm die Herzen der Besucher.

Wir haben nie eingewilligt.
Trotzdem bittet man uns mit unseren Unterdrückern zu speisen
und ihnen die Vergebung aufzutischen.
Was aber,
wenn ich nur die Zutaten Trauer und Wut habe?

Eine (die so aussieht wie ich) ist heute gestorben.
Eine (die so aussieht wie ich) wurde heute ermordet.
 
Lass dies das Thema zu Tisch sein
Und wir alle können anschließend dieses bittere Mahl mit Amnesie fortspülen.

Ja, nur wenn die Tabus (Beschwiegenheiten) auf den Tisch kommen, besteht die Hoffnung, dass die Taten ihre Wirkmacht über uns verlieren. Dann vielleicht kann Amnesie beginnen, die Erinnerung verloren gehen. Eine postkoloniale Anklage. Doch wie verlernt man den Postkolonialismus?

So wuchtig, drängend, wütend oder anklagend Putumas Zeilen im Original auch sind, die Übersetzung Campbells findet nicht immer zu Sound und Rhythmus. Fehler kommen hinzu, die leider im Lektorat nicht gesehen wurden. In dem englischen Zitat oben etwa assoziiert Putuma das Schilfgras mit Sklavenketten, doch im Deutschen steht an dieser Stelle, dass das Gras "einst in Ketten lag".

Raubüberfälle und Vergewaltigungen sind im heutigen Südafrika bedrängender Alltag. Einige Frauen versuchen, die Townships zu verlassen und ihre Töchter zu Hause zu unterrichten - alles, um diesen zu ersparen, was ihnen widerfuhr. Doch sie wissen: das ist keine Lösung. 

Heute bin ich ein Opfer
Morgen eine Überlebende
An manchen Tagen bin ich beides
Davon wird das Verbrechen nicht ungeschehen.

schreibt eine andere der Dichterinnen, Busisiwe Malangu in ihrem Gedichtband "Surviving loss" (dt. etwa: Den Verlust überleben), in dem sie das "Haus des Schweigens" betritt. Allerdings ist ihre Stimme leise. Die Gewalt ist ins Innere der Sprache verlegt. Man würde sich wünschen, dass auch ihr Werk ins Deutsche übersetzt würde.

Putuma kommt vom Theater und vom Rap und "Kollektive Amnesie" hat die große Kraft des gesprochenen Wortes. Derzeit ist sie viel gefeiert. Ob sie in Zukunft die drängenden Themen der Armut und der Xenophobie im Lande ansprechen wird?

Kürzlich sprach die Dichterin Maria Stepanova davon, dass jedes Gedicht ein "shelter" sei, Schutzraum und Zufluchtsort zugleich. Das ist der Trost der Form. In ihr können drängende Themen zur Sprache kommen, die in der Gesellschaft (noch) keinen Raum haben. Stolz treten die Jungen auch in Südafrika auf den Plan: schwarz und queer, mit Tanz und Gesang.

***

Zum Weiterlesen:

Koleka Putuma, "Kollektive Amnesie", aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Paul-Henri Campbell, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020, 200 Seiten, 22 Euro

Busisiwe Mahlangu, Surviving Loss, Tshwane (ehemals Pretoria), impepho press, 2018, Südafrika

Soeben ist bei Oxford University Press ein Sammelband südafrikanischer Dichtung erschienen: Stitching a Whirlwind, An Anthology of Southern African Poems and Translations. Hier sind 42 "Klassiker" aus den Sprachen Sesotho, isiXhosa, isiZulu, Setswana, Sepedi versammelt, die erstmals ins Englische übersetzt wurden. Gedichte über Mythen und Riten finden sich neben Zeitzeugnissen, darunter zwei Gedichte über das "Sinken der Mendi" - ein weitgehend vergessenes tragisches Ereignis aus dem England des Ersten Weltkriegs.

(1) dt: Doch jedes Mal, wenn unsere Haut eintaucht, erinnern sich die Schilfgräser, dass sie einst Ketten waren. Und wie gerne würde das Wasser, das rastlose, all die Sklaven und Schiffe wieder so am Ufer ausspeien, wie sie einst aufbrachen, lossegelten und gesunken waren.