Tagtigall

die Zeit heilt alle wunder

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
12.12.2022. Ruth Wolf-Rehfeldt, eine Schreibmaschinen-Künstlerin aus der DDR, wurde in diesem Jahr mit dem Hannah-Höch-Preis ausgezeichnet, Sirka Elspaß, eine junge Dichterin, war für den Österreichischen Debutpreis nominiert und Esther Kinsky erhielt den Heinrich von Kleist-Preis 2022. Empfehlungen für unterm Weihnachtsbaum.
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I. Fremdsprechen

Ich habe außer meiner Sprache keine Mittel
meine Sprache zu verlassen.

schrieb der DDR-Dichter Sasha Anderson Anfang der 1980er Jahre. Und wenngleich er ein Spitzel war und als solcher ein bodenloser Zeitzeuge ist und sein damaliger Verrat noch immer zum Himmel schreit, findet sich auch in seiner Dichtung die Revolte gegen die manipulative Gewalt der Sprache, mit der sich damals in der DDR so viele Wortkünstler herumschlugen. Sie alle wollten raus aus dem Diktat der Parolen und aus dem ganzen vorgegebenen Gebrauch der Wörter, der sich ihnen als "Kitt" über den mörderischen Abgründen der Geschichte und der Gegenwart erwiesen hatte.

unsere gebrochene nation. die sprache ist der kitt, die sprache zieht die grenze. wir balancieren drauf,
unter uns
der abgrund das schweigen.
die fremde sprache.

schrieb die damals in Leipzig lebende Dichterin Barbara Köhler 1986. Der aus Halle stammende Olaf Nicolai, der über die Wiener Gruppe promovierte, entwickelte sich eine eigene "Sprache" jenseits aller Konventionen: eine Sprache aus Zeichenelementen wie "Kopf", "Säule" und "Schwert". Zum Entziffern oder zur Nachahmung lieferte er einen "Elemente-Bogen" mit.

Zwanzig Jahre zuvor bereits hatte die Schrift-Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt (geb. 1932) mit ganz anderen Sprachbefragungen begonnen. Um das Vorgefundene zu dekonstruieren entwarf sie auf ihrer Erika-Reiseschreibmaschine Sprach-Bilder. Eine Revolte auch dagegen, dass noch der kleinste Finger sich dem Diktat zu beugen bereit war.

Ruth Wolf-Rehfeldt (* 1932), To / From, 1974, Privatsammlung, Berlin © Courtesy of The Artist and ChertLüdde, Berlin


In den 1960er Jahren, zur gleichen Zeit als in Frankfurt der junge Peter Roehr sein "LOS RESI! RASE HARRI!" zu Papier brachte, setzte auch Ruth Wolf-Rehfeldt die 87 Tasten ihrer Schreibmaschine in Bewegung. Wie konnte man den Ingredienzen der Wörter, den einzelnen Buchstaben, Neues entlocken? Zeichen für Zeichen entstanden Wörter, Muster und Ordnungssysteme, die eine eigene Welt mit je verschiedenen Eigengesetzen zu schaffen suchten. Kurz vor dem 11. Plenum 1965 hatte sie ihre erste Ausstellung in einer Lyrikgalerie. 1972 dann in Wroclaw. Damals entstand u.a. "NEVER STOP SEARCHING INTO THE UNEXPLORED ORIGIN OF HUMAN NATURE". In ihrem unermüdlichen Forschungsdrang danach, was die Zeichen konnten, wenn man sie aus den abgegriffenen Verwendungen befreite, schuf Wolf-Rehfeldt 1974 das Werk "TO/FROM", zwei Blätter, die aussehen wie die beiden Seiten eines Briefumschlags. Die Rückseite, wo traditionell der Absender steht, ist bedeckt mit FROMFROMFROM. Die Vorderseite ist überdeckt mit dem Wort TO. Während es hinten keinen Platz für einen wirklichen Absender gibt, finden sich auf der TO-Seite zahlreiche Leerflächen: für Briefmarken, Adresse und Länderbezeichnung. Wer waren die Adressaten für ihre Kunst?

Ruth Wolf-Rehfeldt (* 1932), To / From, 1974, Privatsammlung, Berlin © Courtesy of The Artist and ChertLüdde, Berlin

Durch das Werk geistert das Wort TOT. Und vielleicht auch Jandls Gedicht "Schtzngrmm" mit dem Maschinengewehr "t-t-t-t  t-t-t-t-t".

Wolf-Rehfeldts Schriftversuche wurden zunehmend grafisch. Kreise, Konen, Quadrate, Wellen, ja auch Insekten entstanden aus nichts als Maschinenzeichen komponiert. Unermüdlich variierte die Künstlerin ihre Formen auf dem DIN-A4-Blatt. Doch die Arbeit am Wachstum neuer Strukturen war "mühsam", wie sie in einem Gedicht schreibt:

Mühsam
   wachsen
      werdende Strukturen
Doch in eingefahrne Spuren
Gleiten mühelos wir zurück

Mit ihren Konzepten und Variationen trieb sie der Idee der Kommunikation zunehmend den Sinn aus. Ihre Hilfsmittel: Bleistift, Lineal, Tasten, Tabulatoren, Wagenrücklauf. Neue Zeichen eroberten den Blattraum - manche sahen aus wie abstrahierte Strichmännchen, andere wie Hieroglyphen. Sie rüttelte an den Grenzen; die Möglichkeitsräume der Schreibmaschine weiteten sich. "cagy beings" lautet der Titel einer Serie von Collagen, die Anfang der 1980er Jahre entstanden. Ein Titel der uns heute vom Klang her sowohl an John Cage als auch an den KGB denken läßt. Die Frage, ob es sich bei ihren papiernen Wesen um visuelle Poesie oder Konzeptkunst handelt, ist nicht zu entscheiden und dürfte für ihr Schaffen selbst keine Rolle gespielt haben.

Irgendwann schloß sich Wolf-Rehfeldt mit ihren "Typewritings" der Mail Art-Kunst an, in der sich Künstler weltweit miteinander vernetzt hatten. Der Werkbegriff löste sich auf und das Mauerspringen begann: "I would like you to interfere", schrieb sie nach Kanada oder Schweden, oder: "Arbeite doch bitte in eine der beiliegenden Arbeiten hinein". Kurz nach der Wende beendete Wolf-Rehfeldt 1990 ihre Kunst. Mit der Befreiung aus dem Diktat des Eisernen Vorhangs verschwand offensichtlich auch ihr innerer Aufruf zur Kunst.


II. Von Wunden und Wundern

"es gibt blumen die kommen einfach so / zwischen den steinen hervor", liest man halbfett gedruckt in einem Gedicht der jungen, in Österreich lebenden Sirka Elspaß. Andere gefettete Zeilen in anderen Gedichten lauten "und alle möchten vor allem Trost" oder "gedankengänge machen die tollsten moves". Folgt man dem Titel des Bandes: ich föhne mir meine wimpern, meint man plötzlich, die halbfetten Zeilen seien vielleicht Wimpern, und die Gedichte als Ganzes seien Augen, durch welche das lyrische Ich die Welt aufnimmt und gleichzeitig gegen die Welt, so wie sie ist, revoltiert. Ob bei dem Satz "ich föhne mir meine Wimpern" auch André Hellers "Der Atem Gottes trocknet Dir den Nagellack" im Spiel war, bleibt unbekannt.

Die Augenblicke in den Gedichten sind kurz und kraftvoll; sie zeugen vom Stachel der Jugend, die es sich in den Kopf gesetzt hat, das Leben gewiss nicht in irgendwelchen Kontinuitäten von Erwartetem und Erwartbarem ablaufen zu lassen. Die direkten Ansprachen - mal ein du, mal ein Sie - sorgen hier und da für die Dringlichkeit: "Würdest du zu meiner Beerdigung kommen, wenn ich jetzt eine hätte?"

Viele Gedichte drehen sich um den Körper: den einsamen, misshandelten, menstruierenden, und natürlich auch den weinenden Körper, der sich nach Geborgenheit sehnt. Andere Gedichte kreisen um das Vergehen der Zeit, so etwa diese Passage:

die Zeit heilt alle wunder höre ich ein kind
auf der straße sagen und wenn wunder wehtun
ist jetzt der punkt an dem ich auf die zeit
zähle sie vielleicht sogar
ein bisschen anschubse.

Ein Versprecher, ein Fremdsprecher also, ein falsch hinzugefügtes R, bringt den Text zum Oszillieren. Am Ende dann ein Kurzschluss: wer kennt ihn nicht, den schönen wie tödlichen Wunsch, die Zeit anzuschubsen, damit, oh Wunder, alle Wunden schneller heilen.
 
Hier und da kippen einzelne Bilder, etwa, wenn die Hände der Großmutter mit Dürers betenden Händen assoziiert werden. Aber das mindert nicht ihre Kunst - Verse voller Traurigkeit, die immer das lachende Ufer im Blick haben.

heute habe ich mich den ganzen tag lang
nicht bewegt aus angst etwas umzustoßen
zum beispiel uns obwohl
wir keine blumenvasen sind
ich versuche standzuhalten ein abstand
eher eine abwesenheit zu sein als ein
menschliches wesen mit bedürfnissen
ein warmer mensch der auskühlen kann
Sie sollen davon nichts wissen
einerseits ist es das unehrlichste was ich tun kann
andererseits weiss ich nicht ob es eine zeit gab
in der festhalten en vogue war

Das wiederholt durchklingende A - Tag, Angst, Vasen, Abstand, Abwesenheit, andererseits, halten - sorgt hier für Rhythmus, der das redende Ich über die Angst des Fallens und des Auskühlens hinwegträgt. Das Ende dieser Passage ("ob es eine Zeit gab") macht spürbar, dass Begegnungen immer auch von den Konventionen ihrer Zeit geprägt sind. Schwache Satzteile wie "zum beispiel uns" leuchten schalkhaft hervor.


III. Steine

In einem Brief, datiert auf den 5.10.1803, schreibt Heinrich von Kleist an seine Halbschwester Ulrike, wie sehr er sich wünsche, einmal den Satz "mein Gedicht ist fertig" schreiben zu können.

Wann eigentlich ist ein Gedicht fertig? Und woher überhaupt nährt sich die Hoffnung, dass das, was man heute schreibt, morgen noch von Bedeutung ist? Auch das fragt sich Kleist in dem genannten Brief. Die Hölle habe ihm seine halben Talente gegeben, artikuliert er den quälenden Selbstzweifel. Dennoch schließt er den Absatz:

Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon für den, der sie einst ausspricht.

Ein schwacher Trost: So unfertig, ja fehlbar, ein Gedicht sein mag, ist es doch fraglos, also "unfehlbar" etwas Gemachtes, etwas, das in die Welt gekommen ist. Denn auch jedes Scheitern basiert auf einem Tun, und es ist der Nachwelt aufgegeben, welche Schätze, welche Ablagerungen dereinst daraus erwachsen werden. Die Passage vom wachsenden Stein ("und es wächst irgendwo ein Stein") verweist darauf, wie weit in die Zukunft hinein Dichtung nachhallen kann. Aber: können Steine wachsen?

Den Brief hörte man kürzlich bei der Verleihung des Kleist-Preises an die Dichterin und Übersetzerin Esther Kinsky. Er bezeugt ganz nebenbei auch Kleists Ineinsdenken von Mensch, Ding und Natur, das Esther Kinskys Dichtung naheliegt. In der Laudatio zitierte Paul Ingendaay eine Passage aus dem Band "FlussLand Tagliamento".

Graue, braune rötliche Kiesel.... fingerkuppengroß, handtellerbreit mit Zeichen in weißen bläulichen Linien. Schraffuren, Rillen, mit winzigen glitzernden Kristallen als Betonungen und Satzzeichen. Man will nicht aufhören, sie zu sammeln, auf dem Tisch auszulegen, um Regeln zu verstehen, eine Sprache der Dinge zu lernen, so viel älter als ihre Namen.

Wie kaum eine läßt Kinsky sich vom Nahestehenden ergreifen. Und so werden auch die Steine gelesen. Gibt es eine Sprache der Dinge? Einzelne Zeilen aus ihrem Band "Schiefern" lesen sich wie ein Widerhall auf Kleists briefliche Idee vom Glied:

schrifttierchen erobern die meere
ungerufen besiedeln den ozean
in freischwimmenden kolonien
frei genug namenlos einzugehen
in den metamorphit.

Wenn man die kleinen Dinge als die Großen ansieht, finden auch die Namenlosen einen Ort und geraten die Steine ins Werden.

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WEITERLESEN, WEITERSEHEN

1. Zu Ruth Wolf-Rehfeldt
- Bei Spector Books ist 2021 der Katalog "For Ruth, the Sky" in Los Angeles erschienen.
- Die Ausstellung der Hannah Höch-Preisträgerin "Ruth Wolf-Rehfeldt. Wie eine Spinne im Netz" ist noch bis zum 5.02.2023 im Berliner Kupferstichkabinett zu sehen.
- Der Katalog Ruth Wolf-Rehfeldt, "Signs Fiction", eine Kooperation von ChertGalerie und Motto Berlin, ist zur Zeit leider vergriffen

2. Zu Sirka Elspaß
Sirka Elspaß, "ich föhne mir meine wimpern", Suhrkamp 76 Seiten 22 Euro? '

3. Zu Kleist und Kinsky
- Esther Kinsky, "Schiefern", Suhrkamp Verlag, 2020.
- Esther Kinsky, "FlussLand Tagliamento", mit Birnbaumdrucken von Christian Thanhäuser, ist leider vergriffen. Der Band erschien 2020 in der Edition Thanhäuser.
- Zur Entscheidung der Kleist-Gesellschaft, den Kleist-Preis 2022 an Esther Kinsky zu verleihen
- Die Briefe Heinrich von Kleists an seine Halbschwester Ulrike gibt es in verschiedenen Ausgaben, auch im Netz.