Tagtigall

Ukrainische Klopfzeichen

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
06.03.2022. Wie man mit dem Krieg lebt - davon erzählen die Kriegs-Tagebücher von Yevgenia Belorusets und die Gedichte aus einer früheren Kriegszeit in der Ukraine von Serhij Zhadan. Das Foto von Yevgenia Belorusets zeigt eine ältere Frau, die "ich heute zufällig auf meiner Kamera entdeckt habe, es bedeutet mir viel. Die alten Menschen in Kiew sind so offen, stark und fürsorgend".
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"Was brauchen wir schon außer guter Kunde" - hieß es in einem Song des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan von Weihnachten 2014. Die gute Kunde, der Friede, blieb aus, so ersehnt sie gewesen war. "... und der Tod harrt draußen, er hat keine Eile", hieß es in demselben Lied weiter. Man sieht, wir müssen die gute Kunde besingen, um den Tod zu beschwören.

Sechs Jahre später war die Kunde vom Frieden in weitere Ferne gerückt. Am 24. April 2021 schrieb die Kiewer Schriftstellerin Yevgenia Belorusets:

"Mir kommt die Ukraine vor, als würde sie in einem Keller sitzen und abwarten, ob ein 'echter' Krieg kommt. Russische Medien, die die Ukraine erreichten, vermittelten den Eindruck, als stünde eine Militärinvasion unmittelbar bevor. Dann ruft Biden Putin an - und plötzlich ist in den Medien von Entspannung die Rede. (…) Die Kriegspropaganda (...) wurde sofort heruntergefahren. Und es entstand der Eindruck, dass ein Anruf Hunderte, vielleicht Tausende von Leben retten kann. Verstehen Sie, was ich meine? So etwas Banales wie ein Telefonat zwischen A und B kann verhindern, dass Menschen sterben. Hätte man 2014 vielleicht auch irgendwo anrufen müssen und all das, was geschehen ist, wäre uns erspart geblieben?"

Das war vor weniger als einem Jahr. In ihrer Telefon-Phantasie beschwört sie die Macht der Worte und die Kraft des Gesprächs. Außerdem erzählt diese Passage in aller Kürze davon, was es heißt, seit 2014 mit dem Krieg als einer Realität zu leben. Wie gerne klammern wir uns an die Idee irgendwelcher "Telefonate" (vulgo: Lösungsmöglichkeiten), um uns die Ängste vom eigenen Leibe zu halten. Belorusets "Hätte" ist in diesem Sinne also keine Frage nach irgendeinem "Hättehätte", sondern die verzweifelte Frage nach der Existenz von Strohhalmen. Wir wissen selbst, wie liebend gerne wir uns auch dann an die mögliche Existenz von Strohhalme klammern, wenn wir wissen, dass es sie nicht gibt, weil: vielleicht schwimmt ja gerade morgen nicht nur einer, sondern der richtige vorbei.

Es war René Char, der französische Dichter, der 1943/44 im südfranzösischen Widerstand Aphorismen und Prosagedichte gegen die eigene Verzweiflung verfasste: über die Schrecken des Terrors und das Glück des gemeinsamen Kampfes gegen die Besatzer. Im "Allerengsten der Nacht", wie er die Nazi-Okkupation nannte, entwarf er damals das Konzept eines "Gegenterrors", um, wie er schrieb, den letzten Rest Freiheit vor dem Sterben zu bewahren. Und "Gegenterror", das hieß bei ihm: ein konsequent brüderliches (und schwesterliches) Miteinander aller Geschöpfe, mit denen wir die Erde teilen, mit Menschen, Tieren und Pflanzen. "Zwischen zwei Schüssen, die sein Schicksal besiegelten, fand er Zeit, eine Fliege mit 'Madame' anzureden", lautet einer seiner poetischen Texte.

Der ukrainische Dichter und begnadete Musiker Serhij Zhadan hat in seinem Buch "Warum ich nicht im Netz bin" bereits 2015 in Liedern, Gedichten und einem Tagebuch die Gewalt der Kriegssprache und Kriegsbilder reflektiert; die Sprache des Krieges sei kalt und sein Vokabular ströme in die Gespräche, wie Passagiere in die morgendlichen "Terminals". Zu viele Wörter hätten im Krieg einen metallischen Nachgeschmack, und die Kriegssprache sei der Versuch, alle Beziehungen umzuprägen.

Yevgenia Belorusets: "Ein Freund von mir, der Künstler Nikita Kadan (rechts), hat in einer Keller-Galerie eine Ausstellung eröffnet. Hier unterhält er sich mit meinen Eltern über die Unübersetzbarkeit des Ausstellungstitels 'Tryvoha', was gleichzeitig 'Angst' und 'Alarm' bedeutet." Foto: Yevgenia Belorusets 


Das Kriegs-Tagebuch, das Yevgenia Belorusets mit ihrem fotografischen Blick derzeit im Spiegel schreibt, verweigert sich ebenfalls solcher Kriegssprache. Sie setzt stattdessen auf enorme Menschenfreundlichkeit. Ihre dem Schweigen abgerungenen Zeilen lesen sich, als habe sie von René Chars "Madame Mouche" gehört. Mitten im Krieg, während Bomben in ihre Straße fallen, beginnt sie einen Eintrag mit: "Es war ein Frühlingstag, die Sonnenflecken spielten auf den Wänden der Häuser und auf den weißen Mauern der Sophienkathedrale." Und wenige Tage später: "Die Stadt versinkt im Frühlingsnebel, aber es ist noch kalt." Während ich das lese, kommt gerade die Nachricht, dass das AKW von Saporischschja brennt. Yevgenia Berorusets aber beschreibt, wie sie mit ihren alten Eltern einen kleinen Ausflug in eine private Galerie unternimmt. Die seelische Anstrengung, die jede Minute dieses Gangs gewesen sein muss, kennen wir nicht.

Belorusets schreibt auf Russisch, Zhadan auf Ukrainisch. Stimmen wie die ihren sind Klopfzeichen des Widerstands. Ihre Sprache weigert sich, wie Inger Christensen es einmal beschrieb, das Menschsein aufzugeben. Kann man die Gewalt wegsprechen, statt ihr zu entsprechen?

Auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, hatten die Ukrainer ihr Recht auf eine eigene Stimme im Gang der Welt eingefordert. Right or wrong. Schon damals schrieb und sang Zhadan:

Weil wir über die Städte reden,
die uns das Stimmrecht gegeben haben,
...
reden wir darüber ....
dass wir alles aussprechen müssen,
woran wir uns erinnern.

und weiter:

was können sie uns anhaben solange wir einander hören
wie können sie unser Schweigen erzwingen
wenn wir das nicht wollen?
(...)
wie wollen sie uns zersetzen, wenn wir aufbrechen
um unsere Straßenköter zu beschützen!

Anders als bei Belorusets gibt es bei ihm ein "wir" - und ein "sie". Wahrscheinlich sind beide immer im Wandel. Ich kann kein Russisch und kein Ukrainisch. Wer die Straßenköter sind, ahne ich nur. Aber eins weiß ich: mit den Straßenkötern beschützen wir alle, die keine Heimat, kein Dach über dem Kopf haben, die sich nicht einordnen lassen, die sich nicht geordnet benehmen, die bei niemandem auf dem Schoß leben .... "Die Zukunft gehört den Straßenkötern", hatte Zhadan einmal gesungen. Denen, die keine Angst haben, die sich nicht uniformieren lassen. "Der Teufel versucht, sie hinter Gitter zu bringen, / Der Teufel hat für sie nur den bleifarbenen Himmel." Jeder ahnte, schon damals, wer "der Teufel" ist. Und jetzt erkennen auch wir, welchen bleifarbenen Himmel er damals besang.

Rede, rede, Hauptsache es redet jemand
es ist wichtig, dass unser beider Stimmen
immer zu hören sind.
Alles beginnt erst.
Und wenn du von den Konzerten und Versammlungen heimgehst,
spürst du, wie stark die unterirdischen Steine deiner Stadt die Wärme speichern.

Wir wissen nicht, wer da redet. Wir wissen nicht, wer hört, und wir wissen nicht, ob es überhaupt je ein Telefonat geben wird, das diese Bezeichnung verdient. Aber wir wissen, wenn wir diese Zeilen lesen, dass die gemeinsamen Erinnerungen, Zhadans "unterirdischen Steine", nicht verschwinden werden.

Dort, wo auf einer eigenen Sprache und einer eigenen Weltsicht beharrt wird, die wir mit anderen teilen können, kann der Straßenköter das Wort ergreifen. Schließlich sind auch Einpersonenminderheiten Minderheiten, die sich vermehren können. Wie hieß es bei Char: "Bei jedem gemeinsamen Mahl bitten wir die Freiheit an unseren Tisch. Der Platz bleibt leer, aber das Gedeck liegt bereit." Auch wenn an Chars "Tisch" die Freiheit noch fehlt, artikuliert das Gedeck die Sehnsucht nach ihr. Außerdem besagt es, dass das Bereitstellen einer Form - das Gedeck, das Tagebuch, das Gedicht - der Freiheit zur Erscheinung verhelfen kann.

Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Krieg gegen die Erinnerung, spürbar in der Bombardierung jenes Ortes, wo einst das Massaker von Babyn Yar stattfand. Doch wie überwindet man Zerstörung?

"Ich habe mich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, wie das Gehorchen funktioniert", schreibt Belorusets am 3. März in ihrem Kriegs-Tagebuch. Sie hatte ein Video mit einem russischen Soldaten gesehen, der nach einem Kampfeinsatz weinend seine Tochter um Verzeihung bat, weil vielleicht bei seinem Einsatz auch Kinder gestorben waren. Belorusets kommentiert: "Der Soldat im Video weinte erst, nachdem er seine Befehle befolgt hatte. Das war zu spät. Dieser Krieg lässt sich beenden, wenn die Befehle, Wohnhäuser zu beschießen, ignoriert werden, von Soldaten, auch von Generälen. Ich weiß, das klingt naiv. Aber an so einem Tag ist Naivität der beste Schutzbunker. Die Wände sind zwar nicht so dick, aber er ist tief genug gelegen." Gut, dass sie weiß, dass solche Naivität ein Schutzbunker ist, den man wieder verlassen wird.

Von René Char wissen wir, dass seine Widerstands-Poesie, die er auf einzelne Zettel schrieb, in Mauerritzen versteckt überlebte und von Albert Camus 1947 veröffentlicht wurde, von jenem Albert Camus, der einmal gesagt hat: "die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist". Wir werden ihr zuhören.

***

Zum Weiterlesen:

Das Kriegstagebuch von Yevgenia Belorusets, das laufend fortgesetzt wird, findet sich hier. Auf Deutsch erschien von ihr bislang "Glückliche Fälle", aus dem Russischen von Claudia Dathe, Matthes und Seitz, Berlin 2019. Hier ein Link zu einer Sendung (2019) über sie: Kleine Alltagswelten inmitten des Krieges.

Von Serhij Zhadan gibt es zahlreiche Gedichtbände. 2018 erschien der grandiose Roman "Internat", aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr, Suhrkamp Verlag . Die Zitate hier stammen aus "Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg", übersetzt von Claudia Dathe und Esther Kinsky, Suhrkamp, Berlin 2015.

René Char, Hypnos, Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943-1944), aus dem Französischen von Paul Celan, Fischer 1996, nur noch antiquarisch zu finden. "Hypnos", der Zustand zwischen Leben und Tod, ist René Char Leitmetapher seiner Untergrundexistenz.

Albert Camus, Kleine Prosa, aus dem Französischen von Guido G. Meister, Rowohlt Verlag 1995.

Besonders empfohlen zum Weiterlesen sei der Sammelband "Gefährdete Nachbarschaften - Ukraine, Russland, Europäische Union", herausgegeben von Katharina Raabe, erschienen in der Reihe Valerio der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Wallstein Verlag, Göttingen 2015.