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Was für ne Welt

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
13.05.2022. Vom 2. bis 7. Mai gab es in Köln das 7. Dichtertreffen der Poetica, kuratiert von Uljana Wolf. Marie Luise Knott berichtet, was geschieht, wenn Dichterinnen mit Dichtern ins Sprechen und Singen, Murmeln und Tanzen geraten - über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Lauter starke Stimmen waren versammelt, darunter eine Löwengewinnerin und eine Nobelpreisträgerin. Was alle eint ist der Blick auf die Menschen, die nie im Rampenlicht stehen.
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Uljana Wolf. Foto: Poetica


"Es ist unendlich schade, wie vieles ins Nichts gesagt, geflüstert, geschrieen wird. Nur einen kurzen Augenblick lang existiert. Im Menschen und im menschlichen Leben gibt es vieles, worüber die Kunst nicht nur noch nicht gesprochen hat, sondern wovon sie auch nichts ahnt", so die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf der diesjährigen 7. Ausgabe der Poetica in Köln. Mehrfach hatte das Dichtertreffen pandemiebedingt verschoben werden müssen, bevor es nun Anfang Mai, von der Dichterin Uljana Wolf kuratiert, unter dem Titel "Sounding Archives. Poesie zwischen Experiment und Dokument" stattfand. Kann man dem "Ungeahnten" etwas näher kommen? Sich etwas vom Klang der Freiheit zurückerobern?

Das Konzept der Poetica, das sich Günter Blamberger 2015 als Direktor des internationalen Morphomata-Kollegs gemeinsam mit der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung ausdachte, ist ein verheißungsvolles Konstrukt. Jahr für Jahr kuratiert eine Dichterin oder ein Dichter unter einer besonderen Fragestellung ein 1-wöchiges Zusammentreffen von zehn Poeten aus aller Welt. Sie tauschen sich aus und treten öffentlich auf. Und das gleich mehrfach. Und in wechselnden Konstellationen. Ein Treffen von Trobairitzen und Troubadouren, die an wechselnden Orten gastierten, darunter im Neubau des 2009 eingestürzten Kölner Stadtarchivs. Doch anders als bei den fahrenden Sängerinnen des Mittelalters war in Köln von Liebe weniger die Rede. Dank der immerwährenden Neugier, dem beherzten Temperament und der poetischen Intensität gelang es der Autorin und diesjährigen Kuratorin, Uljana Wolf, dass die von ihr geladenen Dichter, Musiker, Performance- und Klangkünstler den Anwesenden immer neue Aspekte ihrer Kunst entfalteten. Ein großes Panorama dichterischer Aufbrüche in unserer Zeit.

Auch wenn vom derzeitigen Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine auf den Podien explizit nur manchmal die Rede war, brachten die "opaken klingenden Archive" (Wolf) der Dichtung Gewalterfahrungen und Traumata in Bewegung. So manches erinnerte an Dantes "Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,/ Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze". Am Ende der Woche zitierte die belarusische Dichterin Valzhyna Mort die Frage einer Bäuerin aus einem Interview von Swetlana Alexijewitsch: Ob wir uns bei all dem, was Menschen einander antun, eigentlich bewusst sind, was wir den Landschaften und den Bäumen antäten, die all dies mitansehen müssten?. Und was erst den Tieren: "How could they do it in front of a horse?" zitierte Mort aus dem Gedächtnis.

Vielleicht reißt ihr Euch mal zusammen?
Strengt euch ein bisschen an,
Sagt die Dichtung von unter der Erde, den Schilfhalm im Mund."
Maria Stepanova, Der Körper kehrt wieder

Die russische Dichterin Maria Stepanova zieht in ihrem Werk gegen die Traumata der Geschichte viele Register aus der oralen Tradition der russischen Lyrik, in der Hoffnung, dass der Schilfhalm im Mund der Dichtung sich in eine Pan-Flöte verwandeln kann.

Der Titel "Sounding archives" bedeutet beides: klingendes Archiv und Klangarchiv. Und er ist, wie sich im Laufe der Woche herausstellte, auf subversive Weise hoch aktuell. Die von der Kuratorin Uljana Wolf ausgewählten Poeten graben - in Archiven, in Foto-Sammlungen, in der Erde, in Flüssen und in ausgetrockneten Flussbetten. Und sie graben, wenn man so will, in den "Archiven" oraler Traditionen. "Sie reden mit Stimmen, sie bringen zu Gehör, was zwischen Aktendeckeln, Erdschichten oder an den schartigen Worträndern früherer Generationen lagert." Einige Bilder geisterten durch die ganze Woche, allen voran Flüsse, Münder, Knochen und Gräber. Und immer wieder die Stille.

Besonders war diese Poetica vielleicht vor allem, weil sie kein Thema befragte, sondern vom Material her dachte." Archive sind Zeitkapseln, die sich öffnen, wenn sie mit der aufbrechenden Kraft poetischer Mittel in Berührung kommen. "Poetry can extend the document", so das Motto der gesamten Woche. Denn einerseits entreißen die versammelten Dichterinnen und Dichter die in Archiven verschlossenen und abgelegten, oft überschwiegenen Erfahrungen dem Vergessen und Verschwinden; sie bringen Fundstücke aus Archiven mit den Mitteln der Dichtung im Heute zum Klingen. Andererseits reaktivieren sie (und das wird in der hiesigen Auffassung von Dichtung immer noch zumeist übersehen) das "Repertoire", also die oral tradierten Möglichkeiten performativer, verkörperter Darbietung. Dabei erweisen sich Klang, Lied, Tanz, und Ritual als innere Wissensspeicher, die das Wort überraschen können. Die "dekolonisierende" Kraft immaterieller Archive.

Poetica 7. Von links nach rechts: Don Mee Choi, Ain Bailey, Carlos Soto-Román, Fiston Mwanza Mujila, Yan Jun, Mihret Kebede, Maria Stepanova, Uljana Wolf, Anja Utler. Foto: Marie Luise Knott


Die Werke einiger der Geladenen, darunter des Chilenen Carlos Soto-Román, der Belarussin Swetlana Alexijewitsch und der koreanisch-amerikanischen Dichterin Don Mee Choi, nehmen ihren Ausgang von externen Wissensspeichern. Für Uljana Wolf selbst war es ein Fundstück auf Ellis Island, das sie erstmals darauf brachte, ein Dokument poetisch zu erweitern. Eine Erfahrung, die ihr letztlich den Anstoß zur Poetica gab. Ihr Berührungspunkt, ihr "Punktum", um mit Roland Barthes zu sprechen, war ein medizinischer Erfassungsbogen im Museum von Ellis Island, demzufolge alle Einwanderer noch vor der endgültigen Einreise einem nicht einmal eine Minute dauernden Gesundheitscheck unterzogen und im Zweifelsfall nach einem alphabetisch festgelegten Krankheitskatalog kategorisiert wurden. Ein mit Kreide auf dem Mantelrücken aufgemalter Buchstabe, etwa F (Face), H (Heart) oder L (Lameness) entschied über ihr weiteres Schicksal: Durften sie hinein oder mussten sie zurück? Auf das X mit Kreis (Definite Signs of Mental Disease) dichtete Uljana Wolf im lautpoetischen Übersprung:

bei uns als mantelkrankheit bekannt. krägen, die sich
wie von selbst aufstellen, im nacken, über starrem hals,
angst. "all idiots, insane persons, paupers." wir ließen
die grillen, die tassen, den schrank, in herzogsreut und
bischofsreut, und was uns jetzt dafür blüht, eine rech-
nung aufs revers, bezeugt diesen verlust. entgeistert
stehen wir: in der kreide (...).

Der chilenische Autor Carlos Soto-Román ruft in seiner Dichtung das Trauma von Militärputsch und Kriegsrecht in Chile ins kollektive Gedächtnis zurück. Unter dem an den 11. September 1973 erinnernden Titel 11 kollagiert er Zitate aus verschiedenen Reden und Zeugnissen -  aus der letzten Rede Salvador Allendes, aus Reden General Pinochets, aus Berichten von Gefolterten, und Regierungs-Verlautbarungen: "Die Öffentlichkeit wird darüber informiert, dass heute, am __.__.____ um __:-- Uhr gemäß den im Rahmen des Kriegszustands gefällten Beschlüssen der Militärgerichte, die folgenden Personen hingerichtet werden."

Eine Kollage, bei der sich Dokumentarisches mit den Mitteln des Klangs erweitert. Hier ein Auftritt seiner Band zum Gedenktag des Putsches am 11. September 2019:



Die belarusische Schriftstellerin russischer Sprache, Swetlana Alexijewitsch, begann zur Zeit der sowjetischen Perestroika Gespräche zum Ausgangspunkt ihres Schreibens zu machen. Sie führte Interviews - mit Soldatinnen, mit Veteranen des Afghanistan-Kriegs, mit Menschen aus Tschernobyl. Eigentlich wollte sie endlich ein Buch mit Gesprächen über die Liebe schreiben, doch die Zeiten, sie lassen nicht ab - und so sammelt sie derzeit Stimmen über die gescheiterte Revolution in Belarus. "Trauer hat hundert Gesichter", zitiert sie Shakespeare, und tatsächlich ist kein Schmerz ihr fremd. Alexijewitsch geht es nicht um Fakten der Zeitgeschichte, sondern um Fragmente einer Menschheitsgeschichte. Was fühlen, sehen, riechen, spüren wir? Erfahrung mischt sich mit Erfindung - immer auf der Suche nach der unbeantwortbaren Frage: Wie viel Mensch steckt eigentlich im Menschen? oder: Was macht das Menschliche im Menschen aus?

Don Mee Choi. Foto: Poetica


Auch bei Don Mee Choi (homepage) mischt sich Gefundenes mit Erfundenem. In ihrem Waisen-Zyklus erinnert sie an ein "antikommunistisches" Massaker der südkoreanischen Armee von 1951, zur Zeit des Korea-Krieges. Acht Kinder überlebten damals, und Don Mee Choi hat deren unbekanntes Erleben in Erzählungen übersetzt, um die Geschichte dieser Gewalttat dem Verschwinden zu entreißen.

Ich musste zum Toilettenhäuschen, während die Ansprache schallte, aber meine Mama sagte, ich solle bleiben. Sie grub mir eine kleine Grube, und hieß mich hineinlegen. Dann - bumm! wurde ich ohnmächtig. Als ich die Augen öffnete, war es dunkel im Loch. Ich berührte armlose, beinlose, kopflose Körper, ich suchte Mama. Mein Kopf drehte sich unaufhörlich. Ich sah, wie Mama ganz in weiß von unserem Haus fortging. Ich folgte ihr. Und der große Wagen folgte mir. Ich überquerte sogar die Milchstraße. Doch dort sah ich einen Geist, und so drehte ich um und lief zurück. Meine Schwester war schon zu Hause. Ich weinte jeden Tag. Ich konnte nicht zur Schule gehn. Ich konnte nicht essen. Ich lebte ein ganzes Jahr von Sesambrei.

Wenn Don Mee Choi mit offenem Haar und in einem weißen Papierkleid auf der Bühne steht, dann vielleicht auch, um dem Schicksal der Waisenkinder die Papierpuppen ihrer Kindheit beizugeben.

Neben der Dichterin Anja Utler, waren als Klangpoeten der kongolesische Autor Fiston Mwanza Mujila, die chilenische Künstlerin und Poetin Cecilia Vicuña, die äthiopische Dichterin Mihret Kebede und die Klangforscherin Ain Bailey aus Großbritannien geladen. Mit ihrem "Repertoire" erweitern sie die Sprache der Dichtung. Anja Utler berichtet davon, wie sich im postnazistischen Deutschland ein Schweigen in den Küchen breitmachte. Die Sprache hatte sich von der Wirklichkeit entfernt. Utler ist überzeugt, dass "anders" gesprochen werden muss, und das nicht nur semantisch: "Man muss die Strukturen der Sprache gefährden können dürfen", benannte sie einen Grundzug ihrer Lyrik. Quellenkunde, wenn man so will. So heißt es in dem Band "mündeln, entzüngeln":

- entgegen: entrinnen -
verspüre nur: taumle, ja, murmle - ein murmelnder
bachlauf, so heißt es - nicht kennen, ja
vielmehr: entgegen zu stürzen sich schließlich
zu: rinnen zu rieseln beginnen ergießen sich
sperrende kiefer bis: tief in die niederung
- talsohle, heißt es - wie: eingeschleust sein
aus dem: speichel- ins bachbett - ent-
lastungsgerinne - entsickert, gemündet in
schlingende flutende; fransen mäandernde
adern sich aus - richtung: talsperre - jochbein, ja
gurgeln und stockt stottert fängt: sich an reusen aus
hornblatt, gezähnt, flutet im: gerodeten mund

Dichtung als "entlastungsgerinne" für Erinnerungen?

Der Gedichtzyklus "Solitude" des heute in Österreich lebenden Autors Fiston Mwanza Mujila ist von hoher rhetorischer Kraft und kreist um die fehlende Großfamilie, die Geschichte Kongos und um die Toten des Kongoflusses ("Es ist nicht Blut, vielmehr der Kongofluss, der in meinen Venen braust"). Er schreibt auf Französisch, der Sprache der einstigen Kolonisatoren. Es verstört, wie er seine Gedichte im Vortrag verlacht, um sie, wie er sagt, aus dem Käfig der Kolonialsprache zu befreien. "Ich habe eine ganze Bibliothek von Lachern", erzählt er. Ein abgründiges Repertoire. Denn wo im Weinen, in der Schwermut des Pathos, die Muskulatur erschlafft, wird sie im Lachen in Spannung versetzt. Lachen unterbricht das lähmende Entsetzen. Es widersetzt sich. Schafft andere Wirklichkeiten. Schließlich sprechen Sprechende nicht einfach "eine" Sprache, sondern verfügen über eine Vielfalt unterschiedlicher sprachlicher und physischer Mittel und Gesten.

In welchem Ausmaß Mund und Mündlichkeit die Sprache aufzuladen vermag, ja zu einer "Gentlification" (Stepanova) der Welt beitragen kann, zeigten auf der Poetica die Improvisationen der in New York lebenden Chilenin Cecilia Vicuña, die soeben auf der Biennale 2022 mit dem Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde und in ihren Arbeiten neben feministischen, und ökologischen noch ganz andere Wirklichkeiten ertönen lässt. Hier eine Improvisation u.a. auf das Wort Fluss während der Poetica.


Video copyright Maria Stepanova

Die Kunst der äthiopischen Dichterin Mihret Kebede handelt vom Fehlen und vom Verfehlen der Worte. Sie lebt, schreibt und forscht derzeit in Österreich. Im Mittelpunkt steht dabei die Stille. Auf der Bühne in Köln stand sie minutenlang schweigend da, während aus dem Off (ihres Handys) eine Kaskade aus Beschimpfungen auf die äthiopische Diktatur erklang. Auch das gehört zum "Sounding Archive"; auch das Untersagte muss schließlcih zu seinem Wort kommen.

This poem calls to all citizens, female and male, she or he.
This poem is itself a city, a tale, which pleads for words,

In einer Diktatur, in der jedes Reden vom Tatsächlichen nicht nur einen selbst, sondern auch viele andere in Gefahr bringen kann, werden Gedichte zu Sprachereignissen aller, die nach Worten flehen. Nach wahren Worten. Kebedes Dichtung sucht das "Gold" des Gemeinten hinter dem "Wachs" des allgemeinen Scheinsprechens. Hierfür durchsetzt sie ihre Sprache mit klandestinen Bedeutungen - Kassibern aus Wortspielen und Metaphern.

Hier ein Auftritt im Jazz Club von Addis Abeba:



Was für eine Welt. Die britische Klangforscherin Ain Bailey hat Aufnahmegespräche aus einem Irrenhaus danach durchforstet, wie die Kranken dort beschrieben werden und aus den Akten "schwarzer" Patienten die Adjektive zur Soundcollage "Furtive Furtive Suspicious" versammelt. Lauernd, lauernd, verdächtig, traurig, elend, niedergeschlagen, ruhelos, erschrocken, lauernd, agitiert. In den Lücken zwischen den Worten zeigt sich die Abwesenheit schwarzen Lebens in den weißen Herrschaftsstrukturen.

Mit ihrer Erfindung einer neuen Gattung, der Klangautobiografie ("Wie klingt dein Leben"), durchbricht sie die (westliche?) Fixierung auf die Schrift als Medium des Selbstverständnisses und der Selbstverständigung. Für einen Workshop befragte sie die Künstler der Poetica nach Klängen, die sie geprägt hatten. Zu hören waren ein Schlaflied, ein knarrender Reißverschluss, sich nähernde Frauenschritte, Polit-Songs, lärmende Spatzen und fallende Kastanien.

Die meisten der Doku-Poeten, die sich auf der Poetica versammelten, haben das lyrisches Ich längst verlassen und sich so vom ursprünglichen Gattungsverständnis der Dichtung entfernt. Die russische Dichterin Maria Stepanova gab einem ihrer Gedichtzyklen den Titel "Spolia". Dieser dem Lateinischen entlehnte Begriff bezeichnet in der Architektur die Wiederverwendung von Bauteilen älterer Kulturen. Und tatsächlich arbeitet Stepanova hier mit Fragmenten, die aus alten Zeiten überlebt haben und zu neuen poetischen Zwecken in neue Kontexte hineingewoben werden.

geh hinaus von mir ich bin ein sündiger mensch
sagt das adlerweibchen dem gegenwind
geh hinaus von mir ich bin kein standhafter mensch
sagt den händen der rote lehm
geh hinaus von mir ich bin kein mensch
Ich bin einfach ein aufnahmegerät
trrrrrrr tschirrr tschiwirr
birr birr birr biiirrr

Das Aufnahmegerät, ein zentrales Medium auch in Alexijewitschs Arbeit, taucht auch bei dem chinesischen Dichter, Musiker und Performance-Künstler Yan Jun wieder auf, der sich vielleicht am weitesten vom Ich der Dichtung entfernt. Er sieht sich als "field recorder" und erzählt, wie er vor Jahren, vielleicht in Anlehnung an John Cage in seinen "Living Room Tours" die Menschen in ihren Wohnungen aufsuchte und mit dort Vorgefundenem Konzerte gab, mit Vasen, Löffeln und Stühlen. Zwar titelt er seine Gedichte oft mit präzisen Daten, doch die Texte selbst kollagieren Nebensächlichkeiten. In jüngerer Zeit hat er seinem schreibenden Ich neue Autoren-Namen und -Identitäten erfunden, mit denen er - auf der verzweifelten Suche nach Pluralität? - Gespräche führt. In Köln begleitete den Vortrag seiner Gedichte der Sound einer hektisch klickenden Kamera sowie ein alter buddhistischer Kehlgesang.

Auch wenn die Hoffnung sich angesichts der Weltlage nirgends so recht einstellen wollte, waren die Vorträge der Dichter, die ja zumeist Dichterinnnen waren, von großer Zärtlichkeit. Ein Beispiel: Valzhyna Morts Depesche "Für Antigone". Hier ein Auszug und eine Aufnahme vom letzten Abend:



Antigone,
mit Blick auf die Toten ist alles klar.
Doch was uns Lebende betrifft,
Nimm mich zur Schwester.
Auch ich ehre das Bestattungswesen,
Das feierliche Waschen und Weinen,
den Ritus von Sarg, Bahre und Amt.
Als Grundbesitzerin
drehe ich Runden
zu unseren kostbaren Gütern
den Gräbern.
(...)
Erst beklagen wir deinen Bruder,
dann zeige ich dir
ganze Wälder unbegrabener Körper.
Wir räumen auf, wie nur zwei Schwestern
aufräumen können daheim:
Kampf den Knochen, die liegen, wie Krimskrams herum.
Kampf der Asche am Kniekorpelgrund.
(... )
Nimm mich zur Schwester, Antigone,
in diesem verdächtigen Land.
Mein Gesicht ist ein prächtiger Spaten.

Uljana Wolf bot in der diesjährigen Poetica ein kraftvolles Panorama dessen, was Poesie heute sein und werden kann. Ihr Ritt durch die Welten unserer Göttlichen Komödie war ganz von dieser Welt. Und sie hatte im Poetica-Team und in den Schauspielern großartige Mitwirkung, zum Beispiel von Philipp Plessmann, der am letzten Abend auch Regie führte. Nicht von ungefähr endete das Treffen mit einer "Fürrede": mit Joey Ramones entschnulzt-trotzigen Version von "What a wonderful world this could be".

*****

ZUM EINLESEN UND EINSCHAUEN:

Der Reader zur Poetica 7.2: Sounding Archives, Poesie zwischen Experiment und Dokument, herausgegeben von Günter Blamberger, Michaela Predeick und Uljana Wolf, konkursbuch Verlag, 2022.

Hier auch ein Link zum Poetica-Team und zum Programm. Auf Instagramm und Facebook kann man bereits Fotos der Poetica sehen. In absehbarer Zeit werden auch Aufnahmen vom Eröffnungs- und Abschlussabend auf der Heimatseite der Poetica zu finden sein.


ZUM WEITERLESEN:

- Swetlana Alexijewitsch, Zinkjungen, aus dem Russischen von Ganna Maria Baumgart, Hanser Verlag, München 2009. Außerdem erschien von ihr u.a. Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft , Der Krieg hat kein weibliches Gesicht sowie: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Suhrkamp 2015.
- Don Me Choi, DMZ Colony, Wave Books, Seattle 2020. Die Übersetzung von Uljana Wolf erscheint im Herbst bei Spector Books, Leipzig. Ein Auszug findet sich bereits in die horen, Band 285, furchtlos schreiben. Das Politische der Literatur 2, Göttingen 2021.
- Valzhyna Mort, Musik für die Toten und Auferstandenen, aus dem Weißrussischen und Englischen von Katharina Narbutovic und Uljana Wolf, Suhrkamp, Berlin 2021.
- Mihret Kebede, Sagen über die Stille in: Poetry Jazz: Wax & Gold, König Books, London 2019.
- Carlos Soto-Roman, 11, aus dem chilenischen Spanisch von Timo Berger, hochroth Verlag, Berlin 2022.
- Maria Stepanova, Der Körper kehrt wieder, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020.
- Yan Jun, internationaler tag der reparatur, aus dem Chinesischen von Lea Schneider, hochroth Verlag, Berlin, 2022
- Anja Utler, mündeln - entzüngeln, Edition Korrespondenzen, Wien, 2020.
- Cecilia Vicuña, New and selected poems, Kelsey Street press, Berkeley 2018.
Hier noch eine Improvisation aus ihren Gedichten auf das Wasser.
- Uljana Wolf, falsche Freunde, kookbooks, Berlin 2009.
- Uljana Wolf, Etymologischer Gossip. Essays und Reden, kookbooks, Berlin 2020