Virtualienmarkt

Die Musikindustrie braucht einen Ernst Rowohlt

Von Robin Meyer-Lucht
14.08.2003. Heute beginnt die Popkomm, und keiner hat Mitleid mit der Musikindustrie. Dabei könnte das Internet ein interessanter Vertriebsweg sein.
Der Plattenindustrie geht es so schlecht, dass inzwischen schon darüber gesungen wird: "In der Stadt war die übelste Straßenschlacht, weil die Musikindustrie grad massenhaft entlassen hat. Tausende Produktmanager und Vertriebsleiter randalierten und feierten ihre letzte Betriebsfeier", singen die "Beginner" auf ihrem neuen Album "Blast Action Heros". Es erscheint Anfang September bei Universal Music - der weltgrößten Plattenfirma, die derzeit keinen Käufer findet, weil unklar ist, wie es weitergeht mit dem Musikgeschäft.

Der Tonträgermarkt schmilzt dahin. Betrug der Umsatz 2000 noch knapp 2,5 Milliarden Dollar, waren es letztes Jahr schon weniger als 2 Milliarden. Das erste Halbjahr 2003 brachte einen weiteren Rückgang um 17 Prozent.

Schuld ist nicht nur die künstlerische Erschöpfung dieser Branche, deren maue Umsatzbringer immer häufiger profilschwache Castingshow-Vortänzer sind. Neben vielen anderen Gründen liegt es auch daran, dass immer mehr Kunden lieber kopieren als zu kaufen. Rund 22 Millionen Bundesbürger sollen sich im letzten Jahr Musik auf CDs gebrannt haben. Aber auch das Internet dient zunehmend der Musikvermehrung. Rund vier Millionen Nutzer hat die populäre Tauschbörse KaZaA inzwischen in Deutschland. Diese Werte hat die GfK für den Phonoverband ermittelt. Unrealistisch erscheinen sie nicht (Die gesamte Studie hier als pdf). Kostenpflichtige Downloads spielen dagegen in Deutschland kaum eine Rolle.

In dieser Woche trifft sich die Musikindustrie auf der Popkomm in Köln, um sich kollektiv Mut zuzureden. Die gemeinsame Plattform Phonoline soll das Geschäft mit den kommerziellen Downloads endlich ankurbeln. Wahrscheinlich wird sich das Modell weitgehend an Universal Musics Popfile.de orientieren: Songs werden rund einen Euro kosten, sich auch auf CDs kopieren lassen, dürfen aber nicht weitergeben werden. Die Süddeutsche Zeitung hat am Montag schon mal vorab über das "deftige Entgelt" gemurrt und es als wenig durchsetzungsfähig abgetan.

Tatsächlich wird Phonoline wohl nur ein weiterer Trippelschritt der Plattenindustrie sein, nicht der entschlossene Sprung ins Internet. Seit Jahren scheut sie sich vor dem Online-Vertrieb und hat dabei zahlreiche Anbieter, inklusive Napster, ausgebremst. Sie hat viel zu verlieren und entsprechend groß sind die Ängste, sich auf das neue Medium einzulassen. Unflexible macht sie zudem ihre internationale Verflechtung, bei der die Majors die Preissysteme vorgeben. Diese denken gar nicht daran, sich notfalls selbst zu kannibalisieren. Ein kommerzielles Angebot, das gegenüber dem CD-Kauf auf der einen Seite und Tauschbörsen auf der anderen attraktiv für die Nutzer wäre, gibt es daher bislang in Deutschland nicht.

Auf Mitgefühl trifft die Musikindustrie in ihrer Krise nicht. Sie gilt als verschwenderischer Apparat, der Musik zu horrenden Preisen verkauft und dabei noch nicht einmal anständig Geld verdient. Auch die Süddeutsche verhöhnt genussvoll das "Geschäftsgebaren" der Plattenbosse und warnt schon mal vorab, das Vorgehen gegen Musikkopierer sei "ein Kampf gegen Windmühlen".

Die Plattenindustrie hat es so schwer, weil sie als erste Industrie durchsetzen muss, dass nicht alles im Internet allen zur Verfügung steht. Es geht um einen Pilotabschluss, der die Strukturen des Internets ein Stück zu Ungunsten der Nutzer ändern würde. Gelingt ihr dies nicht, bleibt Musik online ein "öffentliches Gut", das man nicht verkaufen kann. Der Informations-Linken ist das im Zweifel egal. Die Plattenindustrie hat ein echtes "Verpackungsproblem". Der Schall dringt im Datennetzen ungehindert um den Globus. Sie aber braucht ein Gefäß, in das sich Musik abfüllen und einschließen lässt.

Um zukünftig kopiersichere Tonbehälter online und auf CD herstellen zu können, hat die Plattenindustrie mit Hilfe der CDU durchgesetzt, dass es in Deutschland bald kein Recht auf eine Privatkopie mehr geben wird. Diese Maßnahmen treffen nun vor allem den legalen Nutzer. Jede Nutzungseinschränkung ist eine verkappte Preiserhöhung. Hier sollte die Musikindustrie mit mehr Sensibilität vorgehen.

Die Zugangsschwellen zu Tauschbörsen muss die Industrie allerdings in der Tat erhöhen. Bleibt der unautorisierte Download so leicht wie bisher, ist ein massenhaft erfolgreiches kommerzielles Angebot schwer vorstellbar. Mit Klageandrohungen ist es in den USA immerhin gelungen, die Nutzung von Tauschbörsen im Juni im 15 Prozent zu senken. Doch die Plattenindustrie muss realistisch sein: Ihre technisch aufgerüsteten Kunden haben erheblich an Verhandlungsmacht gewonnen. Tauschbörsen wird es - wie Spam - wohl immer geben.

Damit sich der Online-Vertrieb als zweite Säule im Musikvertrieb etablieren kann, muss die Musikindustrie ihn auch in seinem eigenen Recht entwickeln. Der Online-Vertrieb muss offensiv als neues Geschäftsfeld mit seinen spezifischen Stärken und Nutzungskontexten entwickelt werden. Als Hinweis mag gelten, wie das Internet schon heute genutzt wird: Nämlich als günstiger Zugriff auf Musik, die man sich sonst nicht auf CD gekauft hätte. Der Online-Vertrieb könnte mit seinen überlegenen Kosten ganz neue Muster des Musikerwerbs hervorbringen - dass man nämlich sehr viel mehr Musik erwirbt als im Schnitt sechs CDs pro Jahr.

In die Metapher des Buchhandels übersetzt: Der Online-Musikvertrieb könnte das Taschenbuch werden, während die CD das Hardcover wird. Was die Plattenindustrie nun braucht ist ein Ernst Rowohlt. Der Verleger, zunächst Gegner einer Preissenkung, nutzte nach dem Krieg das aus dem Zeitungsdruck bekannte Rotationsverfahren, um hohe Buchauflagen zu erschwinglichen Preisen auf den Markt zu bringen. Die neue Medientechnik schuf einen neuen Markt, erschloss neue Nutzungen.

In Deutschland gibt es seit einigen Wochen weitgehend unbemerkt ein Angebot der britischen Firma OD2, die unter anderem mit Karstadt.de kooperiert. Dort kann man sich aktuelle Alben für rund 1 Euro 50 komplett herunterladen - nur auf die eigene Festplatte, aber immerhin. Das könnte ein Anfang sein.