Virtualienmarkt

Smart mobs in Deutschland irgendwo?

Von Rüdiger Wischenbart
03.06.2004. Wie sehr das Internet und andere digitale Techniken die Welt verändern, wird hierzulande kaum wahrgenommen - auch die Buchverlage schlafen.
Vor gut zwei Jahren, also am Höhepunkt des Katzenjammers um die Internet-Economy, verblüffte Herr Takeshi Natsuno vom japanischen Telefonkonzern Docomo sein erlesenes europäisches Fachpublikum mit sprühendem Optimismus. Er wedelte fröhlich mit einem kleinen Mobiltelefon und erläuterte voll Enthusiasmus, dass bereits 30 Millionen Japaner mit den bunten Dingern einander kleine Bildchen zuschickten oder sich die aktuellsten Staumeldungen aufs Display funken lassen. Herrn Natsunos Bosse machten zu diesem Zeitpunkt bereits ein Fünftel ihrer Einnahmen mit derlei buntem Kram.

Bereits vor vier Jahren, im Frühjahr 2000, war Howard Rheingold, der aufmerksame Entdecker virtueller Kulturen und Gemeinschaften, in Tokio unterwegs und staunte schon damals nicht schlecht über die zahllosen jungen Leute, die auf ihren Wegen durchs Metropolengewusel ständig auf den kleinen Bildschirm ihres Mobiltelefons starrten. Rheingold war einem ebenso neuen wie spannenden Phänomen auf der Spur: Die neuen digitalen Kommunikationsmedien - und im speziellen Fall insbesondere die kürzelhaften Texte, die man am Handy austauschen konnte - hatten das Zeug, mächtige soziale Organisationswerkzeuge für eine junge, technikerprobte Generation zu werden.

Wenig später erlebten die Philippinen den Sturz eines Präsidenten über Massendemonstrationen, bei deren effektiver Organisation - so will es wohl nicht nur die Legende - SMS ein wichtige Rolle gespielt haben.

Heute sind SMS einerseits zum längst selbstverständlichen Medium der Alltagskommunikation gereift. Andererseits aber wissen wir auch, dass längst nicht jede Informationstechnologie oder Kommunikationsmode das Zeug zur grenz- und kulturüberschreitenden Expansion besitzt. Solche Überschreitungen sind schwer kalkulierbar.

Das japanische "i-mode"-Fieber etwa ließ sich nicht auf Europa übertragen. Ob nun das Verschicken von Fotos oder gar die Bild- und Video-Telefonie ein breites Publikum findet, muss sich noch zeigen. Gleichzeitig aber ist i-mode ein gutes Beispiel dafür, wie das (technologisch) Neue kulturell unterschiedlich interpretiert und angewandt werden kann.

Howard Rheingold nannte die hochmobilen neuen Horden "Smart Mobs", was durchaus beabsichtigt mit der ambivalenten Bedeutung des Wortes "Mob" in Verbindung mit "smart" spielte.

Im Herbst 2002 erschien die gesammelte Analyse über die "Smart Mobs" in den USA als Buch. Mittlerweile gibt es unter anderem eine slowenische und zwei (!) chinesische Ausgaben des Titels. Der Begriff ist dabei, zur stehenden Wendung zu werden - so wie dies Howard Rheingold bereits mit seinem ersten Buch "Virtual Community" (1993) gelungen war.

Bloß, eine deutsche Ausgabe der "Smart Mobs" gibt es bis heute nicht. Deutsche Verlage, erinnert sich eine Übersetzerin, die es vergeblich angeboten hat, lehnten das Buch ab mit Hinweisen wie "zu unwissenschaftlich, zu journalistisch, zu speziell, nicht für ein allgemeines Publikum geeignet".

Wer was - etwa rund ums Internet oder um die digitale Kommunikation - erfindet, oder neue Nutzungsweisen erprobt, oder anderswo erfolgreiche Nutzungen ablehnt, und warum dies geschieht und jenes nicht, das ist das vielleicht spannendste Terrain am Neuen insgesamt. Und es ist ein Terrain, durch das keinerlei gesicherte Pfade führen, denn was heute als ein gut begehbarer Weg erscheint, kann morgen schon unpassierbar sein.

Thierry Chervel hat auf diesen Seiten hier unlängst in seinem Perlentaucher Essay die "Angst vorm Netz" vermessen und nachgezeichnet, wie deutschsprachige Zeitungen sich zunehmend abschotten gegenüber dem Internet - und damit von vielen jener jungen Leserinnen und Leser, die ihnen ohnedies zunehmend abhanden kommen. In den USA - oder auch in Indien -, also auf Märkten mit erheblicher wirtschaftlicher wie medialer Konkurrenz ist das ganz anders. (Möglicherweise ist es im übrigen gerade die auf den englischsprachigen Informationsmärkten viel höhere Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Publikums, die zum offeneren Umgang mit den Inhalten anregt.)

Der Blick allein auf die Antagonisten Europa und die USA - beziehungsweise auf die englische Sprache als Lingua franca - ist allerdings vermutlich ein zu enges Hemd, um zu erahnen, aus wie vielen Richtungen an der Nutzung des Internet und seiner abgeleiteten Medien im Augenblick experimentiert wird. Das lässt sich, zumindest als Einladung zum neugierigen Weitersurfen, hier beispielhaft in zwei knappen Schlaglichtern andeuten:

Der wichtigste zusätzliche Parameter sind die sozialen Komponenten, das Umfeld aus Beziehungen und Hierarchien, in dem Kommunikationstechniken heute die Lebensverhältnisse prägen.

In Indien hat bei den jüngsten Wahlen die Partei des bisherigen Premierministers Vajpayee, die immerhin für den Aufbruch von "Shining India" stand, gerade auch in jenen Regionen stark verloren, die im abgelaufenen Jahrzehnt zum Inbegriff von Indiens digitaler Revolution geworden waren. Das Outsourcing von einschlägigen Services und damit von Arbeitsplätzen in Richtung Indien war so heftig geworden, dass es heute als Wahlkampfthema in den USA (und Angstszenario in Deutschland) taugt. Trotzdem ging "Cyberrabat" - als Verballhornung von "Haiderabat" - an die Congress Partei. "The great unwashed have spoken -- not on their cell phones but with their votes? lautet die einprägsame Formel, auf die Outlook India den Umbruch gebracht hat.

Und bereits einige Wochen bevor das indische Wahlergebnis vorlag, hatte die New York Times nachgerechnet, wie wenige Jobs die Computerindustrie bereitstellt im Vergleich zu den gewaltigen Dimensionen des gesamten indischen Arbeitsmarktes. Zugleich aber ist das Gefüge dieses Arbeitsmarktes durch Umschichtungen und technologisch angetriebene Rationalisierungen für viele kleine Lohnempfänger mehr und mehr zur unberechenbaren Achterbahn geraten: "The streets of Hyderabad have never been cleaner, the city's budget never leaner, and for workers, the insecurity and indigence never greater.?

Doch andererseits konnten sich auch hierzulande Besucher auf der letzten Documenta in Kassel hineinziehen lassen in Dokumentarfilme von Künstlern aus Neu Dehli, die, was die Produktionskosten, die Klarheit der Bilder, aber vor allem auch was die zugrundeliegende Kommunikationserfordernisse anlangt, erst möglich geworden sind durch die jüngsten digitalen Innovationen.

Gewiss ist die Zeitspanne der Erfahrung viel zu kurz um auch nur zu erahnen, welche sozialen Bewegungen durch digitale Vernetzungen und durch neu sich bildende Gemeinschaften von Nutzern weit draußen in Gang kommen, jenseits der paar Länder und Nischen, deren Geschehen die "alten Medien" Zeitung und TV für gewöhnlich beleuchten.

Um den Rest der Welt zur erkunden, ist die Liste der Preisträger der Kategorie "Digital Communities" des Prix Ars Electronica - und dort insbesondere die lange Liste der "Anerkennungen" ein empfehlenswertes Portal. Die Neugierde des geduldigen Surfers wird mit Überraschungen reich belohnt.
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