Virtualienmarkt

Internet Kills the TV Hit

oder warum das World Wide Web auch das Fernsehen fressen wird. Von Robin Meyer-Lucht
18.01.2006. Jeden Tag fallen einem weniger Gründe ein, warum das Netz das Leitmedium Fernsehen nicht ebenso stark verändern könnte wie die Musikindustrie. Diesmal könnte es wirklich klappen. Auch wenn Google Video noch erschreckend beta ist.
Manchmal erinnert man sich an Jahrestage etwas zu spät. Zum Beispiel an diesen: Im Herbst 1995, somit vor gut zehn Jahren, war auf dem Cover des Sterns erstmals eine CD befestigt, die dem Privatnutzer einen einfachen Zugang zum World Wide Web versprach. Der Datenträger stammte von der damals jungen Bertelsmann-Tochter AOL. Er kann in einer noch zu schreibenden Online-Geschichtsschreibung als ein möglicher Startpunkt für die massenhafte Vermarktung des Internets in Deutschland angesehen werden - des Internets, wie wir es heute kennen.

In diesen Tagen scheint man sich wieder etwas häufiger versonnen daran zu erinnern, wie das damals war: 14,4 Kilobit pro Sekunde; ein Siebzigstel dessen, was DSL-Anschlüsse derzeit hierzulande im Schnitt bieten. Weniger als fünf Prozent der Deutschen waren damals online.

Vor dem Hintergrund dieser kurzen Zeitspanne erscheint der bisherige Siegeszug des IP-Protokolls umso atemberaubender - trotz allem berechtigen Unmut über zerronnene Existenzen und Geschäftsgrundlagen.

Die grösste Transformationserfahrung mit dem Netz hat bislang zweifelsfrei die Musikindustrie gemacht. Jeden Tag, den man länger im Internet herumsurft, fallen einem weniger Gründe ein, Musik auf CD oder überhaupt zu kaufen. Verlagerung ins Netz allerorten: Online-Werbung wuchs im vergangenen Jahr in Deutschland um deutlich mehr als 30 Prozent. Zehn Prozent der Bundesbürger telefonieren laut Stern bereits über das Internet. Allein im letzten Jahr hat sich der Datenverkehr im Netz hierzulande mehr als verdoppelt.

Damit nicht genug. Es herrscht anschwellende Netzbegeisterung. Vom "zweiten Frühling" des Netzes ist die Rede. Warum?

Eine der Antworten darauf gab kürzlich ein nicht unsympathisch nuschelnder Multimilliardär auf der californischen CES-Konferenz. Anfang Januar stellte Google-Mitgründer Larry Page die Expansionsstrategie Google Video vor (Video-Ausschnitt der Präsentation hier). Der Dienst ist eine Suchmaschine für TV- und Video-Inhalte, der praktischerweise auch gleich Vermarktung, Abrechnung und Rechtemanagement mit übernimmt. Mit anderen Worten: Google Video soll sich zu einer voll integrierten Vermarktungs-Plattform auswachsen. Der Dienst soll genau die Position besetzen, die iTunes schon für Musik einnimmt. Damit ist Google Video zugleich auch: Ein on-demand TV-Sender. Sagen wir gleich: Ein Fernsehverbreiter neuen Typs.

Google Video kann ein schöner Vertriebsweg für Independent-Dokumentarfilmer werden, eine ausufernde Porno-Videothek, eine Sport-Schau. Google organisiert die Kontexte und den Verkauf. Damit lässt sich in Marktführerpostion viel leichter und besser Geld verdienen als mit Content. Bislang allderdings fällt Google Video unter den nahezu ausnahmslos mit "beta" bezeichneten Google-Applikationen durch eine ganz besonders maue Betahaftigkeit auf.

Page verweist ausdrücklich darauf hin, dass jedermann Inhalte bei Google Video einstellen und zu einem frei gewählten Preis verkaufen könne. Wie schon beim AdSense-Werbeprogramm setzt Google auf möglichst breite Kundenschichten und Flexiblität. Hier könne eine ganz neue Form der Graswurzelfernvideothek mit ihren ganz eigenen Formaten entstehen.

Video ist jetzt dran, weil die Pegel der durchschnittlichen Breitbandgeschwindigkeiten sich so langsam den 10.000 bis 15.000 kbit/s annähern (Faktor 1.000 gegenüber 1995), die erforderlich sind, um sehr anständiges TV-Streaming anzubieten. Die IT-Branche setzt zum vierten oder fünften Sprung auf den ganz wichtigen Bildschirm an, mit dem das ganz große Geld verdient wird. Und diesmal stehen die Zeichen gut, dass Teile des Video-/TV-Medienkonsums in IP-Netze überwechseln. Die erforderlichen Leitungs-, Rechen- und Speicherkapazitäten stehen bereit. Intel wird die Welt schon bald mit der Chipserie "Viiv" und viel Werbegeld zu überreden versuchen, endlich auch die Bewegtbilder im Wohnzimmer steuern zu dürfen. In gewohnter Koalition mit Microsoft, klar. Und Philips, Loewe und co. sollen aus der Stube rausgeschmissen werden.

Die digitale Industrie ist ein stark zyklische Branche. Digitalisierung bedeutet schließlich, dass die analoge Realität in diskreten Zuständen verwaltet werden muss. Je nach Anwendung (Tele-Tennis, Textverarbeitung, Video-Signal) werden mit steigender Komplexität auch dramatisch steigende Rechenkapazitäten benötigt. Im Zuge ihrer kontinuierlichen Beschleunigung absorbieren die Rechner wie eine steigende Flut immer weitere Territorien der herkömmlichen Signalverarbeitung. Wenn es gerade mal nichts überschwemmen gibt, herrscht Krise. So entstehen die Zyklen.

Und nun steht das Fernsehen offenbar vor seiner IP-Überschwemmung. Das Leitmedium der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seine Programmschema basierte Organisation stehen potenziell zur Disposition. Warum sollte das Fernsehen gegen den digitalen Wandel stärker immun sein als die Musikindustrie? Die zusätzlichen Freiheitsgerade der bidirektionalen Digitalkommunikation mit offenen Standards täten der Glotze gut. Eine Befreiung der Konsumenten ist dabei jedoch nicht immer schon auch eine der politischen Subjekte.

Die andere Antwort auf die Frage, warum das Netz gerade wieder gehypt wird, ist bekanntlich die Euphorie um das Web 2.0 (mehr hier) oder auch das Read/Write-Web (mehr hier). Wie bei den Video-Inhalten auch handelt es sich dabei letztlich um ein Ergebnis der zunehmenden Verbreitung von Breitbandzugängen verknüpft mit zunehmender Nutzungskompetenz. Die günstige Allzeitverbindung erlaubt es den Nutzern, zunehmend komplexe, vernetzte Online-Dienste zu nutzen, die auf Kollaboration und sozialer Vernetzung basieren. Nicholas Carr hat ein wenig verstockt, aber dennoch richtig herausgearbeitet, dass der "Web 2.0"-Debatte eine Tendenz zum "New New Age" und zur Glorifizierung des Amateurs innewohnt. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Virtualienmarkt.

Zehn Jahre nachdem die erste CD auf dem Stern das Masseninternet in Deutschland ankündigte, lohnt es sich tatsächlich einmal, einen Schritt zurückzutreten und festzustellen: Das Absorbieren von Teilen des Fernsehens ist nur ein zusätzlicher Indikator für die weitere Durchsetzung des Internets. Das Netz wird so wieder ein Stückchen mehr erkennbar als das, was es schließlich ist: Die Mutter aller bidirektionalen Kommunikation.

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Robin Meyer-Lucht ist Berater und Medienjournalist. Er berät unter anderem den Schweizer Verlag Ringier. Er ist unter feedback(at)berlin-institute.de zu erreichen.