Virtualienmarkt

Das 2.0 Gefühl

Dezentrale Medien und immer mächtigere Plattformen. Von Robin Meyer-Lucht
21.12.2006. Die Internet-Medien werden immer mächtiger - nicht die klassischen Medienhäuser, sondern Plattformen wie Google und Youtube. Auffindbarkeit wird zur Leitwährung, aufwändige Inhalte dagegen zur aussterbenden Art.
Am 20. Oktober 2004 erschien an dieser Stelle der Text "Das Ende der Zwischenzeit", der in Sachen Internet-Medienindustrie zu dem aus heutiger Sicht mehr als erstaunlichen Schluss gelangte: "Alles wird auf Jahre wohl mehr oder weniger so bleiben, wie es jetzt schon ist." Angesicht damals stagnierender Online-Werbung und verhaltener Nutzungszuwächse prognostizierte der Text geringes Entwicklungspotenzial. Der Internet-Medienindustrie gehe die Zukunftsfantasie aus. Auf dem Online-Journalismus lege sich langsam "Staub" ab.

Unter den Virtualienmarkt-Texten, von denen viele rückblickend beachtlich richtig lagen, lag dieser wohl am allerfalschesten. Er sagt nichts darüber aus, was nach Oktober 2004 mit dem das Internet geschah. Er sagt dafür aber einiges darüber aus, wie sich das Internet vor zwei Jahren eben auch anfühlen konnte: wie das für seine Inhaltsqualität und ökonomischen Aussichten geschmähte kleinste Massenmedium.

2006 hat sich bekanntlich wieder ein ganz anderes Internet-Gefühl eingestellt: das 2.0-Gefühl. Das Internet wurde vom belächelten Schrottmedium wieder zu dem Potenzialmedium schlechthin rehabilitiert. Die Deutsche Bank proklamierte im September den "größten Umbruch der Medienwirtschaft seit Gutenberg" (pdf). Bei langjährigen Beobachtern kann Derartiges nur zu einem Deja-vu-Erlebnis führen.

Das 2.0-Gefühl basiert im Kern auf zwei Entwicklungen: Erstens lassen die jüngsten Wachstumsraten des Internets Zweifel an einem Strukturwandel der Medienindustrie schwinden. Ausgerechnet im Oktober 2004 begannen sich die Kurven in Deutschland langsam wieder zu heben. Das Volumen der Bannerwerbung hat sich innerhalb der letzten beiden Jahre verdoppelt (mehr). Ähnliches gilt für die Nutzung führender Nachrichtensites. Klassische Medienträger hingegen verlieren zunehmend Martkanteile. Der unterschätzte Treiber dieser Entwicklung ist Breitband. Die Komplementaritätslegende, wonach das Netz vorhandene Medien nur ergänze, nicht aber substituiere, ist irgendwann 2006 gestorben.

Die zweite Komponente des 2.0-Gefühls ist die Formierung einer eigenständigen Online-Medienindustrie, die nicht mehr auf den Prinzipien der klassischen Medienindustrie basiert, sondern die markt- und medientechnischen Eigenheiten des Internets für sich zu nutzen vermag. AOL und Yahoo haben letztlich die hergebrachten Modelle der Massen-Medienindustrie nur auf das Internet übertragen. Seit 2004 aber entfaltet sich eine neue, algorithmisch dezentrale Internet-Medienindustrie. Anders als die klassische Medienindustrie basiert sie nicht auf zentraler Produktion von Inhalten, sondern auf der Beherrschung von Algorithmen und Plattformen, die dezentrale Kreativität und Produktivität bündeln.

Hauptexponent dieser neuen Online-Medienindustrie ist zweifellos Google. 2006 war auch das Jahr, in dem klar wurde, welche ökonomische Dominanz Google in Deutschland besitzt. Im Juni erteilte das Google-Management höchstselbst Nachhilfe in Sachen Umsatz von Google Deutschland. Mit wohl rund 700 Mio Euro Anzeigenumsatz in diesem Jahr gehört Google hierzulande zu den größten Werbeträgern überhaupt.

Google bietet eine Plattform, welche die vermeintlich relevantesten Inhalte mit der vermeintlich relevantesten Werbung verknüpft. Das Unternehmen kontrolliert damit den Kern des Mediengeschäfts im Internet, ohne selbst Inhalte zu produzieren. Im Internet ist dieser Ansatz derzeit denen der klassischen Medienindustrie klar überlegen: Google wächst schneller, macht mehr Gewinn und hat einen robusteren Wettbewerbsvorteil. Es ist - zumindest derzeit - im Internet lukrativer, markt- und mediengerechter, Algorithmen und Plattformen zu kontrollieren, als mühsam zentral Inhalte für ein launisches Publikum produzieren, das dann als Refinanzierung maximal ein wenig Anzeigenwerbung akzeptieren mag.

Protagonisten dieser neuen algorithmisch-dezentralen Online-Medienindustrie sind selbstredend auch MySpace, Youtube, Flickr, Digg, Xing, Weblogs Inc. - und als frühe Vertreterin auch Ebay. Diese Unternehmen haben auf Basis spezifischer Vorteile des Netzes für sich einen Weg gefunden, schon oder schon bald ein renditeträchtiges Mediengeschäft im Internet zu betreiben. Sie setzen dabei nicht auf "basisdemokratische" Produktion, weil sie glühende Anhänger der Brecht'schen Radiotheorie wären. Es ist schlicht profitabler, das Internet nicht nur als Distributions-, sondern auch als Kommunikationsapparat zu verwenden. Es gehört zur Wachstumsstrategie der neuen Online-Medienindustrie, Teile der vorhandenen interpersonellen Kommunikation zu absorbieren und neue Nischenkommunikation zu schaffen, statt die Modi der klassischen Massenmedien online zu imitieren. Diese Dezentralisierung ist vor allem geld- und wenig normengetrieben. Die Beteiligten versteht sich jedoch bestens darauf, es genau anders herum zu inszenieren.

Das 2.0-Gefühl basiert auf dem höchstwahrscheinlich zutreffenden Eindruck, dass das Internet im Medienkanon eine zunehmend zentrale Rolle einnimmt und sich dort eine zunehmend eigenständige, algorithmisch-dezentrale Online-Medienindustrie formiert. Das Resultat ist der in Europa zweite, in Amerika dritte Frühling des Internets. Die Wachstumsgrenzen scheinen wieder hinter dem Horizont zu liegen - zumindest deutlich jenseits des Jahres 2010. Plötzlich steht wieder alles zur Disposition. 2006 war auch das Jahr, in dem überall mit wohligem Schauer der Film "Epic 2015" geschaut wurde, der von der Totalabschaffung der klassischen Medien handelt. Letztlich braucht das Internet diese infantil übersprudelnde Euphorie. Der feste Glaube an einen neuen Innovationszyklus hilft, den beschwerlichen Weg der Formatentwicklung voranzutreiben.

Der Strukturwandel hin zu einer Online-Medienindustrie bringt zwei Probleme mit sich, die sich seit geraumer Zeit abzeichnen. Das eine ist die Macht der Plattformbetreiber, das andere ist das weiter offene Refinanzierungsproblem für aufwändigere Inhalte. Google ist als digitaler Torwächter die Supermacht es Internets. Die Suchmaschine kontrolliert damit, welche Unternehmen und welche Formate erfolgreich sind. Blogs oder Wikipedia sind Google-Phänomene, die ohne die Unterstützung der Suchmaschine niemals so groß geworden wären. Google kann mit kleinsten Anpassungen des eigenen Relevanzalgorithmus Existenzen begründen und zerstören. Auf entsprechende Beschwerde-Mails antworte das Unternehmen für gewöhnlich nicht. Aussicht auf Besserung besteht derweil so schnell nicht: Das Suchmaschinengeschäft tendiert fast automatisch zum Quasi-Monopol, solange es nicht mehrere nahezu gleichwertige Anbieter oder erfolgreiche Nischenanbieter gibt. Die entscheidende Frage wird lauten: Welche Mittel sind legitim, wenn Google versucht, seine Dominanz auf andere Märkte auszuweiten.

Zum anderen spitzt sich mit Ausbreitung der neuen Online-Medienindustrie das Refinanzierungsproblem für Qualitätsinhalte weiter zu. Die neue Online-Medienindustrie verströmt bislang den Duft einer McDonaldisierung der Inhalte. So wie Burger in gezuckerte Brötchen verpackt und auf maximalen Speichelfluss bei minimalen Produktionskosten hin optimiert sind, so sind die Inhaltswaren der neuen Online-Medienindustrie häufig vor allem auf Google-Auffindbarkeit und maximale Seitenabrufzahlen bei minimalen Produktionskosten hin optimiert. Zwar sind die Mechanismen beeindruckend, mit deren Hilfe aus der Inhaltswüste die Perlen herausgesucht werden. Für viele aufwändigere Qualitätsinhalte aber, die mehr Aufwand pro Abruf erfordern, bleibt das Internet weiterhin ein sehr schwieriges Terrain.

Robin Meyer-Lucht