Virtualienmarkt

China liest viel

Von Rüdiger Wischenbart
29.11.2007. Bei den Sachbuchautoren führt Konfuzius, in der Belletristik Dan Brown. Ein Blick auf den explodierenden Buchmarkt in China, den größten der Welt.
"Können die jungen Schriftsteller auch die Tiefe der Seele ausloten?", fragen sich die Literaturkritiker in China mit einiger Sorge. Aus deutscher Perspektive möchte man da einwerfen: Solche Sorgen möchte man doch gerne haben!

Einiges spricht dafür, dass Schreiben wie Lesen, Literatur wie Bücher ganz allgemein in China eine 'junge' Angelegenheit sind - und das steht im Gegensatz zur hier üblichen Wehklage über den Niedergang der Kritikerzunft, und gegen den Befund wonach die Jungen, abgesehen von "Harry Potter" und Cornelia Funke, angeblich keine Bücher mehr anrühren mögen. Es widerspricht aber auch dem gängigen Klischee, wonach in China aktuelle Kultur, wenn überhaupt, höchstens als Popkultur in Erscheinung tritt.

Tatsache ist vielmehr, dass eine Reihe von Autoren um die 20 - durchaus im Gepräge von Popliteraten, aber mit essentiellen Themen - die Hitlisten der Büchertische gestürmt haben und zumeist gleich in Serienromanen die neuen Lebenswelten ihrer etwa gleichaltrigen Leser ergründen, und da geht einiges drunter und drüber. Das ist freilich kein Wunder angesichts der Wucht und Geschwindigkeit, mit der die chinesische Gesellschaft insgesamt umbricht, und diese Dynamik wird gerade von der rapide anwachsenden Gruppe junger, gut ausgebildeter Menschen unter 30 getragen. (Mehr hier)

Doch damit Autoren wie Han Han, Anni Baobei, oder Guo Jingming - der es, ganz Pop, auch gleich zu Plagiatsvorwürfen und in Web-Foren zu Spitzenplätzen als meist gehasste Celebrity brachte - ihr Millionenpublikum finden können, braucht es ein hoch professionelles Verlagswesen. Doch auch hier geht nichts ohne Paradoxien ab. Es gibt in der ganzen Volksrepublik China nur 577 - allesamt staatseigene - Verlage, und der Buchmarkt ist gemessen am Umsatz gerade halb so groß wie der deutsche. Doch kosten Bücher im Schnitt gerade mal einen Euro (und teure Titel 1,50 oder 2 Euro), und alle statistischen Eckdaten, die durchaus auf recht soliden Grundlagen errechnet werden, deuten auf Expansion - was in Summe gut erahnen lässt, was eine bildungshungrige und zunehmend auch unterhaltungsfrohe Gesellschaft von Chinas Größe an Schubkraft aufbaut.

Dies ein wenig im Detail auszuloten war in der Vorwoche möglich, als mit Ou Hong vom Fachmagazin China Publishing Today und Huang Jiwei vom Kinder- und Jugendbuchverlag Jie Li zwei Fachleute in Veranstaltungen in Wien und Berlin gewissermaßen als Reiseführer durch chinesische Buch-Universen fungierten, mit Unterstützung durch das erst vor einem Jahr an der Universität Wien gegründete Konfuzius Institut, das Branchenmagazin Buchreport sowie Virtualienmarkt-Kollege Robin Meyer-Lucht mit seinem Berlin Institute.

Was mich dabei am meisten faszinierte waren zwei aufs erste völlig unvereinbare, gleichwohl machtvolle Trends: Auf der einen Seite eine schiere Explosion an Aufbruch in eine publizistische Vielfalt, der offenbar die staatliche Führung wenig anhaben kann und will. Und auf der andren Seite so genannte "Netzwerkeffekte", die bewirken, dass an der Spitze der Erfolgslisten ganz, ganz wenige Autoren, Bücher und Themen - übrigens sowohl internationale wie auch chinesische - alles andere hinter sich lassen.

Aber der Reihe nach. Betrachtet man etwa die Verlagslandschaft insgesamt, fallen Verlagshäuser aus den Provinzen ins Auge, die sich in der chinesischen Binnenkonkurrenz starke Positionen erkämpft haben: Für eine aufstrebende Provinz scheint es wichtig zu sein, neben allen anderen Industrien auch ein starkes Buch-Verlagshaus hervorzubringen. Und diese Verlage experimentieren - vom internen Management, wenn für jedes Buchprojekt hausinterne Teams in einen Ideenwettstreit um die optimale Umsetzung gegeneinander antreten, bis zur respektlosen Neudefinition, was ein eingekaufter internationaler Bestsellertitel wohl in China zu leisten vermag: Da wird ein Buch wie der anspruchsvolle Wissenschaftsknüller "A Short History of Nearly Everything" des Amerikaners Bill Bryson zum Jugendbuch - weil der 544 Seiten Schmöker alles Wissen von der Erd- bis zur frühen Menschheitsgeschichte enthalte, über das junge Leute Bescheid wissen sollten! Wer von Marketingpraktiken auch nur einen Hauch versteht, weiß, wie selten es riskiert wird, ein einmal erfolgreiches Zielgruppenmodell ("Bryson ist für schlaue Erwachsene") auf den Kopf zu stellen ("Das könnte speziell junge Leser interessieren").

Doch solch seltsame Stories scheint es in China zuhauf zu geben.

Da wird ein Teenie-Popstar als Promoter für ein Jugendbuch engagiert. Es gibt neuerdings Kurzerzählungen speziell fürs Handy, oftmals finanziert vom Handy-Provider - doch nicht nur mit Schweinkram, sondern mit hochpolitischen Kürzestsatiren, und China-Kenner versichern, dass es da ziemlich zur Sache geht, ausgenommen bleiben nur Partei und Staatsführung, und sonst fast nichts.

Selbst der Kommerz ist interessant. Yang Hongying ist die zurzeit wohl erfolgreichste Kinderbuchautorin, die eine Kinderfigur erfand, deren Vater Spielzeugerzeuger und deren Mutter eine Art Supernanny sein muss. Alle sind immer super gut drauf. Die Autorin hat unterdessen 90 Städte auf ihren Lesetourneen besucht und in 4 Jahren 12 Millionen Bücher verkauft. Frau Yang ist vom Fach, sie war zuerst Grundschullehrerin und hatte schon erfolgreich Märchen geschrieben. Im Marketing suchte sie nicht nur unermüdlich den Kontakt zu den jungen Lesern, sondern gründete auch eine eigene Charity für kranke Kinder. Mittlerweile wurden die Rechte auch nach Frankreich und in die USA verkauft.

Star Nummer 2 bei Kindern und Jugendlichen ist noch immer nicht Harry Potter, sondern ein Österreicher, Thomas Brezina, dessen "Super Tiger Team" auf der aktuellen Bestsellerliste für Kinder- und Jugendbuch sechs von den Top 10 Titeln okkupiert und fast im Alleingang Österreich unter den übersetzten Büchern einen Marktanteil noch vor Deutschland beschert.

Was uns zu den bemerkenswerten Ballungen im Spitzensegment bringt: vier der Top 10 übersetzten Romane 2006 stammen von Dan Brown, vier weitere von dem Koreaner Gui Yeo-Ni. Zwei bis drei der aktuellen chinesischen Top-Romane sind stets vom bereits erwähnten Jungliteraten Guo Jingming. Aber die zehn größten Verlagshäuser haben gemeinsam mit 25 Prozent Marktanteil nur eine ähnlich bescheidene Marktmacht wie die zehn Größten in Deutschland.

China liest viel, und China experimentiert auf allen verfügbaren Kanälen. Bei den größten Web 2.0 Community Seiten im Internet, ob auf Sina oder dem auch bei uns gängige MSN, gehören "channels" mit Büchern zum Kernbereich - oft mit ganzen Büchern, selbst mit solchen, die auf Papier noch gar nicht veröffentlicht sind, sondern über den Test in der Web Community erst den Erfolg suchen. Im Sina Buchclub fand etwa ein Autor namens "Zhi Feng 1133" bis zur Vorwoche weit über eine Million Leser.

In den Sachbuch-Charts liegen seit Monaten Notizen zu den Gesprächen des vor 2500 Jahren lehrenden philosophischen Klassikers Konfuzius an der Spitze. Frau Yu Dan, die Autorin, gehört zu den wenigen, die in Zeiten der kulturzerstörenden Kulturrevolution der Mao-Jahre noch klassische Bildung genoss. Danach wurde sie Medienberaterin, unter anderem für Rupert Murdoch, und ihre auf die heutige Orientierungs- und Wertesuche abgestimmte Konfuziuslektüre hat sie erst einmal als TV Runde erprobt.

Der erste neue Weltbestseller, der aus diesem Umfeld erwuchs, scheint übrigens ebenfalls festzustehen und kommt 2008 ins Schaufenster eines Buchhändlers Ihrer Wahl: "Wolf Totem" von Jiang Rong. Jiang verbrachte zur Umerziehung während der Kulturrevolution elf Jahre in den mongolischen Steppen, wo er Wölfe beobachtete, ihr Sozialverhalten und ihre Jagdstrategien. Daraus leitete er, als Leitfaden für die - offenbar nicht nur chinesische - Gegenwart seine "Wolfsstrategien" ab.

China ist uns näher, als wir oft wahrnehmen wollen.

Rüdiger Wischenbart